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# taz.de -- Die Wahrheit: „Papa rauchte Pfeife“
> Stark rückwärtsgewandt: Der Vorsitzende der Partei „Alles Wie Früher“ …
> exklusiven Interview mit der Wahrheit über den Reiz des Präteritums.
Bild: Edwin Birkenborkner, der Chef der Alles-Wie-Früher-Partei, im Sommer 196…
Zwar hat die Bewegung der sogenannten Querdenker mittlerweile mangels
Überlebender an Schwung verloren, doch jetzt ist eine neue Gruppe ins
Visier der Sicherheitskräfte geraten: die Ultra-Retronauten (UR). Ihre
Anhänger lehnen alles ab, was eine moderne Gesellschaft auszeichnet,
einschließlich der modernen Gesellschaft selbst. Vielmehr fordern sie von
Staat und Politik die Rückkehr zu Zuständen, als „die Welt noch in Ordnung
war“. Wir greifen also zum Telefonhörer (Festnetz) und sprechen mit Edwin
Birkenborkner, einem der Köpfe der URler und Vorsitzendem der mittlerweile
gegründeten Alles-Wie-Früher-Partei (AWF). Er will, dass alles so bleibt
wie am Vorabend seiner Einschulung am 1. September 1968, und redet fast nur
im Präteritum.
taz: Herr Birkenborkner, was war so besonders am Tag vor Ihrer Einschulung?
Edwin Birkenborkner: Dieser Tag war einfach perfekt. Die Welt war noch in
Ordnung.
Erklären Sie uns das bitte etwas näher.
Ich freute mich auf die bevorstehende Einschulung, Papa rauchte Pfeife,
während er im Ohrensessel saß und den Schlesischen Boten las. Die
Mondlandung war noch Quark im Schaufenster, es gab keine Ausländer, und wir
fuhren mit dem VW-Käfer nach Italien, und ich trug den ganzen Sommer lang
kurze Lederhosen.
Dieselben, die Sie jetzt anhaben?
Exakt die. Übrigens konnten Sie sich Ihre abschätzigen Blicke sparen, Sie
sind auch dicker geworden seit der Grundschule.
Das könnte stimmen. Aber noch mal: Warum hängen Sie derart am 1. 9. 1968?
Im Jahr drauf schon gab es keinen Mann im Mond mehr und Adenauer war auch
schon lange nicht mehr Kanzler. Das Volk wurde Ende 1969 von den
Kommunisten unter Willy Brandt entmündigt, und neben mir saß schon ein
geschlagenes Annum Antje Tantenschläger in der Klasse. Grauenhafte Person!
Sie trug Hosen und redete, selbst wenn sie nicht gefragt wurde. Meine
Zweifel daran, dass Mädchen zur Schule gehen sollten, wurden absolut
bestätigt. Sie sollten besser wie Mama am Herd stehen. Meine Ex-Frau Gisela
hing auch dieser Idee der Emanzipation an. Völlig inakzeptabel, wie ich
schon damals erkannte.
Dieser Tag liegt nun mehr als fünfzig Jahre zurück. Die Welt hat sich
seitdem in fast jeder Hinsicht verändert. Wirklich nur zum Schlechten?
Betrachteten Sie zum Beispiel die sogenannte Pandemie. Damals gab es keinen
Coronavirus, nur die Hongkong-Grippe.
Andere weisen allerdings darauf hin, dass es noch Polio und Pocken gab und
Zehntausende bei Verkehrsunfällen starben, weil sie nicht angeschnallt
waren.
So war das eben, wer nicht auf sich aufpasste, musste mit den Folgen leben.
Und wer ein schlechtes Immunsystem besaß, wer die falsche Grundeinstellung
hatte, musste dafür auch die Verantwortung tragen. Das gilt auch heute
noch. Stand übrigens auch damals schon in jedem Horoskop.
Können Sie in den Fortschritten, die unsere Gesellschaft seitdem gemacht
hat, nicht auch gute Aspekte sehen?
Damals funktionierten sogar die Atomkraftwerke einwandfrei. Und die Autos
konnte man selbst reparieren, mit Mutters Nylonstrumpfhose, wenn der
Keilriemen gerissen war. Wir mussten nicht die Landschaft mit Windrädern
verspargeln, die Fußballspieler hatten deutsche Namen und wir keine
EC-Karten. Wir zahlten bar mit D-Mark oder ließen beim Wirt oder Tante Emma
anschreiben.
Sie sind führendes Mitglied der Partei AWF – Alles Wie Früher. Etwa zwei-
bis dreihundert Ihrer Anhänger versammeln sich regelmäßig und fordern, dass
die Zeit zurückgedreht wird. Problem: Jeder möchte die Zeit zu einem
anderen Tag zurückdrehen. Als würde man sich gegenseitig nicht zuhören.
Wie bitte?
Außerdem, wie es aussieht, ist die Zeitmaschine immer noch nicht erfunden.
Also ist Ihr Ansatz eher ein futuristischer. Auf gut Deutsch:
Zukunftsmusik.
Jetzt hören Sie mir aber auf.
Na gut. Wir danken Ihnen für …
Papperlapp! Niemand bedankte sich früher für ein Gespräch! Und jetzt lassen
Sie mich wirklich in Ruhe, ich muss noch ein Bündel Steinkohlebriketts für
den Küchenherd kaufen, ehe die neue Inszenierung von „Hänsel und Gretel“
auf Mittelwelle 801 Kilohertz übertragen wird …
24 Nov 2021
## AUTOREN
Theobald Fuchs
## TAGS
Die Wahrheit
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