# taz.de -- Die Wahrheit: Audienz beim Fahrradflüsterer | |
> Das beste aller Fortbewegungsmittel braucht eine kleine Überholung? Da | |
> hilft der Guru der Zweiradreparatur mit seiner Schamanentherapie. | |
Bild: Ein mit den Pedalen synchronisierter Biorhythmus führt auf eine höhere … | |
Rad gefahren wird von O bis W, heißt die alte Bauernregel. Von Ostern bis | |
Weihnachten. Spätestens im Juni steht der jährliche Besuch einer | |
Fahrradwerkstatt an. Nachdem der Bremszug gerissen, der Sattel zerbröselt | |
und der „Ich bremse auch für Autos“-Aufkleber abgefallen ist. Der Termin | |
steht seit Monaten fest, die Mondphase ist abgestimmt auf das Sternzeichen | |
meines Fahrrades (Fisch, Aszendent Schwalbe). | |
Mein Biorhythmus ist maximal konstruktiv synchronisiert mit den Pedalen, | |
sie und ich, wir heben und senken uns im Gleichklang wie die Flossen eines | |
Walfischs. Der auf einem Surfboard paddelt. Ich bin auf dem Weg zum | |
nächstgelegenen Fahrradladen, dem Ritzel-Schamanen. | |
„Wart ihr schon mal hier?“, fragt mich der bleiche, glatt rasierte Mensch, | |
der hinter dem Tresen steht. Ist er der Chef? Seine blassen blauen Augen | |
mit den winzigen Pupillen sagen: Ja, ich bin es. | |
„Nein, noch nicht“, lautet hingegen meine Antwort. Ich fürchte, meine | |
Stimme klingt unsicher, als hätte ich etwas zu … | |
„Ihr seid vorher bei jemand anderem gewesen?“, inquiriert der beinah | |
Durchsichtige. | |
Ich nicke etwas verschämt und frage mich zugleich, wie weit eine Sehstörung | |
mit der verantwortungsvollen Aufgabe einer Fahrradwartung kompatibel ist. | |
Denn ich bin alleine hier, und es gibt keinen Grund, mich dauernd im Plural | |
anzusprechen. | |
„Und wo, wenn ich fragen darf?“ | |
Darf er? Nein: er muss! | |
„Drüben in der Drahtesel-Straße, bei Ronnie’s Lenker-Stüb’chen.“ | |
## Eins mit dem Radgeist | |
Ein kaum wahrnehmbares Zucken läuft durch sein Gesicht. Er schließt kurz, | |
nur ganz kurz, die Augen und senkt die Brust, Luft strömt aus seinen Lungen | |
wie aus einem undichten Schlauch … Gaaanz langsam, gaaaanz langsam atmen … | |
Schließlich rückt er heraus: „Fehler. Passiert nur Anfängern. Ronnie ist | |
komplett neben der Spur. Er reduziert alles auf die vier Elemente | |
Kautschuk, Blech, Öl und heiße Luft. Totaler Humbug natürlich … | |
wahrscheinlich hast du heute sogar auf die Mondphase geachtet.“ | |
Ein linker Mundwinkel zuckt, schmerzhaftes Flattern der Augenlider, als | |
hätte sich just im Moment ein Schamhaar im Klettverschluss der | |
All-Wetter-Hose verfangen. Ich schäme mich, dafür fährt er fort: „Wir | |
machen hier ganzheitlich. Stellen Kontakt her mit der spirituellen | |
Wesenheit deines Rades. Wir erkennen die Schwachstellen, indem unser Geist | |
mit dem Fahrrad eins wird. Die Lösung tragen wir dann zurück ins | |
menschliche Energiefeld. Und wie machen wir das, was denkt ihr?“ | |
„Mit einer Fahrradkette?“, rate ich hastig und schaue mich kurz um, ob da | |
nicht inzwischen ein anderer Kunde steht, aber niemand hilft mir. Ich muss | |
da alleine durch. | |
„Nein! Mit Gefühlen! Geist und Materie werden mit Gefühlen | |
zusammengehalten!“ | |
Ich nicke ergeben, versuche meine Gefühle zu sortieren. Vielleicht ist es | |
falsch, alles zu hinterfragen. Diese Wirs, Ichs und Unsers. Zeit und Raum – | |
was bedeuten sie schon für jemanden, der eingegangen ist in einen | |
wirbelnden Kosmos, der mit riesigen Speichen an der Felge des Universums | |
befestigt ist? | |
„Bin gleich wieder da“, sagt der Guru und verschwindet hinter einem roten | |
Vorhang. Aus dem Nebenraum tauchen zwei Strampeldiener auf, die sich in | |
rituelle Radfahrerkostüme geworfen haben. Außer knallengen | |
Synthetikhöschen und ärmellosem Trikot gehört dazu eine Schaumstoffwurst, | |
die sie sich jeweils um den Helm geknotet haben. Sie tragen die Tentakel, | |
als wären sie damit zur Welt gekommen. | |
## Vespalin mit giftgrünem Helm | |
Der Mechaniker-Häuptling kehrt zurück, rollsplitternackt, aber vom Knie bis | |
zur Brust dick mit Kettenfett eingeschmiert. In ein blaues spirituelles | |
Regencape gewandet, folgt ihm eine Vestalin, ein leuchtend giftgrüner Helm | |
lässt ihren Kopf riesengroß aussehen. Einer der Tempeldiener nimmt mein | |
Drahteselchen an die Leine und schiebt es in die Mitte der Werkstatt. Die | |
Vestalin zieht darum mit Kreide auf dem Boden ein magisches Zahnrad, alle | |
Anwesenden sammeln sich im Kreis und fassen sich bei den Händen. Irgendwo | |
bimmelt eine Fahrradklingel – es geht los! | |
Minutenlang herrscht andächtiges Schweigen. Der Guru nimmt Kontakt mit dem | |
Geist meines Rades auf. Dann endlich, als ich schon nachfragen will, ob | |
vielleicht ich es mal versuchen soll, hebt ein surrendes Geräusch an. Es | |
rattert und klackert immer lauter, die Hand des Gurus beginnt in meiner | |
Hand zu rütteln, als führen wir über Kopfsteinpflaster. Ommmm … | |
Rrrrrrrrrkrkrkrrrr … eine Unwucht in der kosmischen Harmonie? | |
Ein fester Druck mit der Hand, schlagartig verstummt das Summen, keuchend | |
entlässt die Gemeinde den angehaltenen Atem durch des Menschen | |
Gottesventil, den Mund. Der Guru kriegt die Vibrationen seines Körpers | |
wieder unter Kontrolle. Er lächelt mich an. | |
„Alles klar. Etwas ist definitiv notwendig: eine rituelle Ritzel-Reinigung. | |
Keine große Sache, mach ich dir für ’nen Zwanni.“ | |
Nun, das sieht mir unspektakulär aus. Ich nicke: „Okay.“ | |
„Ansonsten nur Bremse, Sattel, Gangschaltung, Tretlager, Licht, Lenker – | |
bis übermorgen ist alles fertig. Als Neukunde schenken wir euch die Hälfte | |
der Gebühr für die Diagnose-Sitzung. Eintausendundachthundertvierundzwanzig | |
Euro. Ohne Mehrwertsteuer.“ | |
Holla der Waldweg! Ich schlucke. Nun gilt es, Asphalt unter die Schlappen | |
zu kriegen, ehe ich bis auf den nackten Rahmen ausgeplündert werde. | |
„Wir müssen noch mal nachdenken“, sage ich zögerlich. | |
„Ihr? Bist du nicht alleine?“ | |
„Ja, freilich. Aber du sprichst doch dauernd von ‚ihr‘.“ | |
„Klar, wie sonst? Du und dein Rad, ihr seid doch zwei eigenständige Wesen | |
…“ | |
So schnell ich kann, bugsiere ich mein Fahrrad zur Tür. Hoffentlich schaffe | |
ich es noch um die nächste Ecke, ehe die Kette reißt. | |
„Hey, warte doch mal!“, ruft mir der Guru nach. Ich schaue zurück, er | |
wedelt mit einer Art Postkarte in der Luft. „Die | |
Kundenzufriedenheitsbewertung. Würde mich freuen, wenn du uns mit | |
‚Ausgezeichnet‘ beurteilst.“ Er greift hinter sich und hebt ein kleines, | |
aus roten Strohhalmen geflochtenes Fahrrad in die Höhe. „Du willst doch | |
auch nicht, dass du dieses Jahr mit einer rätselhaften Serie platter Reifen | |
zu kämpfen hast …“ | |
7 Jul 2021 | |
## AUTOREN | |
Theobald Fuchs | |
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