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# taz.de -- Die Wahrheit: Verhinderter Retter in Ketten
> In Nürnberg soll die berühmte Burg über der Stadt mit dem Sinwellturm
> einer Autobahn weichen. Nur einer kämpft dagegen: Markus Söder.
Bild: Wird in die Luft gesprengt: Nürnberger Burg mit Sinwellturm
„Biddee aufhörn! Ihr machts ma ja mei scheene Burch gabudd!!“
Markus Söder schreit aus Leibeskräften, er rüttelt und reißt an den
eisernen Ringen, die seine Handgelenke und Fußknöchel umschließen. Seit
über zehn Tagen steht er nun schon hier angekettet am Felsen, völlig
verschmutzt und stinkend, nur noch ein paar Fetzen seiner vormals
blau-weißen Krawatte bedecken seinen Intimbereich … – doch halt: Wie hatte
es überhaupt so weit kommen können?
Zeitsprung: Knapp vier Wochen vorher war die Entscheidung gefallen, der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte den Weg buchstäblich frei
gemacht. Das Urteil lautete zugunsten eines Privatklägers, der sich in
seinen Freiheitsrechten in unerträglichem Ausmaß beschnitten gefühlt hatte.
Die Stadtverwaltung habe, so der EGMR, die Pflicht, das Recht aller Bürger,
auf dem kürzesten Weg von A nach B zu kommen, durchzusetzen. Heißt: Wenn
ein Autofahrer aus der Nürnberger Südstadt einen unzumutbaren Umweg auf dem
Altstadtring nehmen muss, um zum holländischen Wasserbetten-Shop im Norden
zu kommen, muss die Kommune handeln. Auch wenn die mittelalterliche Burg
und der Berg, auf dem sie steht, im Wege sind.
Eine Untertunnelung der gesamten Altstadt wurde kurz erwogen, dann aber aus
unbekannten Gründen nicht weiterverfolgt. Manche sagen, die Kosten seien
astronomisch, die anderen meinen, dass der Tunnel mit hoher
Wahrscheinlichkeit eine vulkanische Tätigkeit unter der Stadt zum Leben
erweckt hätte, was einen florierenden Betrieb des Christkindlesmarktes
nicht wirklich befördert hätte.
## Schwarz vor Augen
Da kam das Angebot des Investors genau zum richtigen Zeitpunkt. Die
Nürnberger Kommunalpolitik war heilfroh, das Problem los zu sein. Probleme
mochte sie nämlich gar nicht. Zudem hatte der Investor eine mindestens
dreistellige Summe in Form von Steuereinnahmen versprochen, eine derartig
große Menge Geld, dass einigen der Stadträten schwarz vor Augen wurde. Vor
allem denen von der FDP.
Außerdem kündigte man die Schaffung von bis zu – ganz bestimmt,
versprochen! – zehn Arbeitsplätzen an, da man links und rechts der neuen
Zentralautobahn auf den Trümmern des Burgfelsens ein Outlet-Center sowie
einen Fun-Park mitsamt Spielautomatenparadies, Fast-Food-Restaurant und
Fitness-Studio errichten würde.
Ein Verhandlungsführer der Investmentbank hatte den Stadtrat aber auch so
schon durch sein weltläufiges Auftreten in baffes Erstaunen versetzt. Der
smarte Manager saß, komplett mit Radsport-Ausrüstung angetan, hinter dem
Steuer seines SUVs, als er neben dem Schönen Brunnen parkte, nachdem er mit
quietschenden Reifen über das Kopfsteinpflaster der Fußgängerzone gebraust
war. Bunt bedruckter Helm, enge schwarze Hosen, ein Trikot, auf dem Werbung
für alle siebzehn Finanzprodukte des niederländischen Mutterkonzerns
gedruckt war.
Im Aussteigen schaute der Konzernchef auf die Uhr: „Drei Stunden, acht
Minuten, nicht schlecht!“ Er spuckte lustvoll auf eine Heiligenstatue aus
der frühen Renaissance, dann wandte er sich an die versammelten Ratsherren,
die linkisch von einem Fuß auf den anderen traten. Jeder versuchte sich
hinter den anderen zu verstecken, doch am Ende gelang es einem namenlosen
Hinterbänkler, den kein Parteivertreter je zuvor bemerkt hatte, dem
Baureferenten einen Tritt zu versetzen, sodass der nach vorne stolperte und
den Investor in fließendem Holländisch begrüßte: „Hallo.“
„Ich liebe Rad zu fahren wahnsinnig“, frohlockte der Herr mit den goldenen
Bratzen. „Diese Burg ist wahnsinnig schön. Wir müssen sie leider abreißen,
damit etwas noch wahnsinnig Schöneres geboren sein kann. Das tut mir selbst
echt irrsinnig weh, aber der Chancen sind mega-geil.“
Handschlag drauf, Aushändigung goldener Schlüssel, der Baureferent ab in
den Frühruhestand – die Altstadt wechselte schneller den Besitzer als 1945
beim Einmarsch der Amerikaner.
## Verlies mit Strauß
Nur Markus Söder – er wollte die Burg, seine Burg, in deren Verliesen er
von einem blinden Reisigweiblein und dem halslosen Geist von Franz Josef
Strauß großgezogen worden war, nicht kampflos preisgeben. Und so stand er
schon zwei Wochen lang mit schmiedeeisernen Ketten an die Grundmauern des
Sinwellturmes gedübelt und war der letzte verbliebene Verteidiger der
tausend Jahre alten Burg. Die, so seine samt und sonders von ihm
abgefallenen Parteifreunde, wenn man nur ehrlich miteinander sei, eh nur
Unsummen im Unterhalt kostete und nicht einmal die Wirtschaftskraft eines
mittelschweren Porschezentrums besäße.
Am Ende öffneten sich die dichten Reihen der SEK-Beamten in voller
Kampfmontur, die ihn umzingelt hatten, und ein einzelner, mit einer roten
Arbeitshose bekleideter Beamter trat in den Kreis um Markus Söder.
Spielerisch ließ er mehrere Male den Motor des gewaltigen Trennschleifers
aufheulen, den er in Händen hielt.
„Neeeiiiin!“, schrie Söder. „Nicht die Burg! Mein Strauß, warum hast du
mich verlassen?!“
Nur wenige Minuten später dröhnten die Warnhupen über der menschenleeren
Altstadt, der Sprengmeister haute mit der Faust auf einen unscheinbaren
roten Knopf und mit einem ohrenbetäubendem Donnerschlag verwandelte sich
die Nürnberger Burg mitsamt Türmen, Kemenaten, Marstall, Tiefem Brunnen und
Burgberg in eine rötliche Sandwolke. Der direkte Weg durch die Stadt war
endlich frei.
Einziger Wermutstropfen: Die Tourismusabteilung des Kulturreferats
produzierte im Überschwang neue Flyer mit Übersichtskarten der Altstadt.
Leider erzeugte darauf eine grafisch unglückliche Anordnung des Bahnhofs
als Südpol, der Pegnitz als Ost-West-Achse, der neuen Zentralautobahn in
die Nordstadt den Eindruck, Nürnberg sei in Form eines Hakenkreuzes erbaut
worden. Das Kulturreferat erklärte, dass keiner der Mitarbeitenden diese
unglückliche Darstellung bemerkt habe, es seien schließlich nicht alle
einschlägige Experten, aber man bedauere natürlich das Missverständnis.
Allerdings sei es wirtschaftlich unverantwortlich, hunderttausend Exemplare
einzustampfen. Die neuen Pläne kämen bei vielen Touristen sehr gut an,
insbesondere Besuchern aus Sachsen. Und so waren am Ende alle glücklich.
Alle? Nein, nur fast alle. Der Markus – der hat die Sache nie verwunden.
Der streift seitdem ziellos durch die Stadt, täglich vom frühen Morgen an
sturzbetrunken, ein halbes Dutzend Plastiktüten hinter sich herschleppend,
in denen er angeblich alte Postkarten hortet, die noch die Burg vor ihrer
Zerstörung zeigen. Und die er dann des Nachts, wenn das Outlet-Center
geschlossen hat und die Putzstunde im Spielautomatenparadies anbricht, mit
seinen Tränen benetzt, irgendwo zwischen den Müllcontainern des Fun-Parks
kauernd, die Flasche Schnaps sein einziger Trost.
Ja, es heißt sogar aus informierten Kreisen, dass man in der CSU bereits
darüber nachdenke, ihm den Rücktritt vom Amt des bayerischen
Ministerpräsidenten nahezulegen …
15 Dec 2020
## AUTOREN
Theobald Fuchs
## TAGS
Nürnberg
Markus Söder
Autobahn
Fahrrad
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