# taz.de -- Die Wahrheit: Der Fluch des Fastens | |
> Es ist völlig verhext mit dem Abnehmen: Mitten in der so negativen | |
> Abspeckzeit gewinnen wir plötzlich alle an leckerer, positiver Energie. | |
Bild: Zuckerbrausen können einen auf die schiefe Ebene bringen | |
In diesen mageren Wochen erfahren wir es alle selbst an unseren eigenen | |
irdischen Leibern: Fasten macht uns frisch und leistungsfähig. | |
Leistungsfähig natürlich in Hinsicht auf Arbeit, Sport und Spiel, | |
Produktion und Hausputz. Beim Konsumieren fallen wir jedoch während der | |
sechs Wochen vor Ostern komplett aus, die Wirtschaft fürchtet daher diese | |
Zeit des Jahres mittlerweile mehr als Kommunismus und Tierschützer | |
zusammen. | |
Nur eine Industrie hat derzeit Hochkonjunktur, die Gürtelindustrie. Alles | |
wird enger geschnallt, der Winterspeck schmilzt dahin wie ein schmutziger | |
Schneehaufen auf dem Radweg, während der Verbrauch von Leder, Schließen, | |
Schnallen und Nieten in die Höhe schießt. Schnell werden weltweit die | |
verfügbaren Löcher-Stanz-Apparate knapp. Das übliche Gezeter hebt an: Die | |
Regierung sei schuld, der Gürtelminister habe die Entwicklung verschlafen, | |
die EU sei schlecht aufgestellt und Bild fordert ein härteres Vorgehen | |
gegen Linksextremisten. | |
## Gymnastik mit Taube | |
Wir allerdings springen dieser Tage morgens unverdrossen und frisch aus dem | |
Bett, sind topfit und vertreiben uns die Zeit, bis die Sonne aufgeht, mit | |
etwas Gymnastik auf dem Balkon. Das hilft auch gut gegen die Taube, die | |
rund um die Uhr versucht, ein Nest im Blumenkasten zu errichten. Sie kommt | |
angeflattert und legt einen Zweig ab, ehe sie so tut, als erschreckte sie | |
unser Klatschen, und wieder davonfliegt. Sie vergisst den Vorfall über | |
Nacht, so dass sich das Spiel jeden Morgen wiederholt. | |
Die Taube wirkt allerdings von Tag zu Tag lustloser, erschöpfter, | |
unkonzentrierter. Erst vergisst sie den Zweig, dann das Geländer und | |
schließlich den ganzen Balkon und nistet auf der Ampel an der Ecke. Der | |
erste Windstoß wirft das Nest mitsamt dem Ei auf die Straße. Vielleicht | |
sollte die Taube besser auch fasten, dann wäre sie leistungsfähig? Und | |
durchsetzungsstark, erfolgsorientiert, bereit für eine FDP-Mitgliedschaft. | |
Wir jedenfalls fühlen uns so frisch, dass wir Bäume ausreißen könnten. Zum | |
Glück gibt es in unserer Stadt nur noch sehr wenige Bäume; da hat die | |
Stadtverwaltung ausnahmsweise mal mitgedacht – vorigen Sommer, als man alle | |
Straßenbäume vertrocknen ließ. Freie Sicht für freie Bürger, lautet die | |
Devise. Dass Bürger nicht auf Bäumen nisten, sondern in Autos, ist einer | |
bundesrepublikanischen Stadtverwaltung a priori in die DNS geschrieben. | |
Im Mittelalter gab es bekanntlich alle zehn oder zwanzig Jahre gewaltige | |
Waldsterben. Die wurden von den Baumreißer-Mönchen zelebriert, die so lange | |
gefastet hatten, dass sie nicht mehr wussten, wo sie hin sollten mit ihrer | |
Energie. Wie ein Heuschreckenschwarm zogen sie breite Schneisen der | |
Entwaldung durch Mitteldeutschland, vom unwirtlichen Hessen und Thüringen | |
aus in südlicher Richtung bis zur Donau. Dort beendeten deftige | |
Schweinebraten und bayerisches Starkbier ihren Amoklauf. Womit schon damals | |
ein wasserdichter Beweis geführt worden wäre, dass der Kapitalismus eine | |
Lösung für jedes Problem hat beziehungsweise ist. | |
## Kraft durch Düngung | |
Und wir? Was fangen wir mit der eigenen unerträglichen Frische und | |
Schaffenskraft an? Nun, als allerallererstes lassen wir uns die Haare | |
schneiden. Die abgeschnittenen Hornfasern sammeln wir sorgfältig auf und | |
vergraben sie sorgsam im Garten zur Düngung. Da wo im April die | |
Cannabis-Staude hin soll. Wahlweise kommt unsere Ex-Frisur auch in den | |
großen Topf auf dem Balkon, in dem wir bald die ersten Kartoffeln pflanzen | |
werden. Sehr zum Missfallen der Taube übrigens. Der FDP sowieso – weil kein | |
Profit für Agrarkonzerne. | |
Dass man abgeschnittene Locken nicht einfach in den Abfall werfen soll, | |
weiß ein jedes Kind. Bekommt die Haare nämlich eine Hexe | |
(wirtschaftsfreundlich) in die Finger, gewinnt sie absolute Macht über uns. | |
Mit Hilfe einer kleinen filzigen Lehmfigur steuert sie uns aus der Ferne, | |
wo immer sie auch ihr Hexenlabor eingerichtet haben mag, im Tessin, auf | |
Lanzarote oder den Färöern. | |
Dass es einen erwischt hat, merkt man besonders in der Fastenzeit: Wenn wir | |
mit der frischen Frisur vor lauter Energie kaum aus den Augen schauen | |
könnend den Supermarkt betreten. Dort kaufen wir unfassbar viele | |
Nahrungsmittel: Schokolade und Bratwürste, Kaffee und Butterschmalz, | |
Kuchenmischung und Rinderfilets, Käselaibe und Cola in der | |
100-Liter-Flasche, fünf Kästen Bier und einen Kasten Champagner. Dabei | |
wollten wir das gar nicht kaufen, es war die Hexe, die uns dazu zwang. | |
Nachdem wir willenlos alles aufgegessen und weggetrunken haben, ist es | |
vorbei mit der Frische. Jegliches ist wieder wie zuvor: träge, lauwarm, | |
grau, trübsinnig. Die Bäume atmen auf, die Taube gurrt müde, die FDP | |
dümpelt wieder um die 5 Prozent herum. Endlich Ostern. | |
12 Mar 2021 | |
## AUTOREN | |
Theobald Fuchs | |
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