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# taz.de -- Die Wahrheit: „Pickel, Pickel, Pickel!“
> Das 9-Euro-Ticket lässt eigentlich längst ausgestorbene Berufe
> wiederauferstehen. Ein Fahrt im Regionalzug mit einem altehrwürdigen
> Bader.
Bild: Bei solch gepflegten Füßen haben Bader ihre Freude
Das 9-Euro-Ticket geht in den zweiten Monat, Bürger und Bahn haben sich
nach anfänglichen Verspätungs- und Verständigungsproblemen aneinander
gewöhnt, endlich ist ganz Deutschland unablässig auf Achse beziehungsweise
auf Doppeldrehgestell mit Energierückführungsbremse. Alle sind begeistert.
Womit ebenfalls niemand gerechnet hat: Dank der bezahlbaren Tickets sind
altehrwürdige Berufe, die als ausgestorben galten, faktisch über Nacht
wiederauferstanden. Erst in den antiken Zügen der Deutschen Bahn können
sich die sonst nicht mehr rentablen Gewerbe und Gewerke wieder einem
breiten Publikum als bezahlbar präsentieren.
Wie im Regionalexpress dritter Klasse zwischen Stuttgart (21) und Köthen,
in dem wir den reisenden Bader Fürchtegott Wandersattel mit seiner
rollenden Praxis begleiten. „Für 9 Euro im Monat kriegen Sie nirgendwo
bessere Geschäftsräume“, erklärt er uns. Der Zug verlässt pünktlich um 8…
Uhr die Ruinenlandschaft des Köthener Hauptbahnhofs, derweil breitet
Wandersattel seine Utensilien auf dem Tisch einer Vierersitzgruppe im
ersten Stock des Zuges aus. „Das ist besser als jede Fußgängerzone“, feixt
er, „Laufkundschaft war gestern“.
Und schon erklingt die Lautsprecherdurchsage, die den ersten Klienten des
Tages aufruft. Ein hochinteressanter Fall, wie sich schnell im ganzen
Waggon herumspricht. Es ist ein junger Mann, der vor den Bader tritt, die
Hosen herunterlässt und eine Zecke präsentiert, die sich in „Abrahams
Wurstkessel“ verbissen hat, wie Wandersattel das Skrotum des Patienten
nennt.
## Begeisterte Zuschauer
„Ich habe sie vorhin erst bemerkt, da war keine Zeit mehr, um den Arzt
aufzusuchen. Ich bin nämlich auf dem Weg zum Flughafen“, erklärt der
Nachwuchsreisende. Inzwischen haben sich die ersten Zuschauer eingefunden.
Eine Mutter ruft: „Lasst die Kinder nach vorne, sie wollen auch zusehen!“
Der Zug schlingert und hüpft über eine Reihe von Weichen, als der Bader die
Pinzette ansetzt, sodass die Zecke wie von selbst ihren Rüssel aus der Haut
zurückzieht. „So, ihr gutes Stück sieht praktisch wieder wie neu aus“,
verkündet Wundersattel.
Es knackt kurz, als der Bader mit dem Daumennagel das Spinnentier auf dem
Holzimitat des Tischs zerdrückt. Applaus brandet auf, aus den hinteren
Reihen fliegen Münzen nach vorne. Jemand reicht dem Bader ein hartgekochtes
Ei. Der bedankt sich höflich mit einer Verbeugung und fragt: „Wer ist als
Nächstes an der Reihe?“
Ein ältere Dame mit roter Bluse, weißer Hose und gelbem Sommerhut setzt
sich rasch auf den Sitz gegenüber, schlüpft aus einem Schuh und legt den
Fuß auf den Tisch. Durch das Publikum geht ein Raunen. Einige Zuschauer,
die sich für Füße weniger interessieren, kramen ihre Pausenbrote aus den
Picknickkörben, die Fußfetischisten rücken nach vorne.
Eine Diagnose ist schnell gestellt: „Eingewachsener Zehennagel … alles
klar.“ Der Bader greift zur Säge, da drängt sich eine junge Frau in
Polizeiuniform durch die Menschenmenge nach vorne. „Entschuldigung, ich
müsste leider schon an der übernächsten Station aussteigen. Wäre es okay,
wenn ich vorher?“
„Worum handelt es sich?“, ist Wandersattel sofort interessiert. „Eine
entzündete Talgdrüse hinten an der Schulter. Sie ist angeschwollen und es
sticht höllisch bei jeder Bewegung. Ich habe Angst, dass sie in einem
schlechten Moment platzt. Zum Beispiel während einer Festnahme.“
Wundersattel zögert: „Nun, ich sehe die Dringlichkeit, aber ich würde die
Entscheidung ungern treffen wollen, ohne das Publikum um seine Meinung
gefragt zu haben …“ Doch schon wird er von einem spontanen Sprechgesang
unterbrochen: „Pickel! Pickel! Pickel!“, skandieren die mittlerweile einige
Dutzend Zuschauer.
## Autoritärer Schaffner
Die ältere Dame nimmt den Fuß vom Tisch und schleicht sich geschlagen zum
defekten Verpflegungsautomaten, während die junge Frau Anstalten macht,
ihre Bluse auszuziehen – als plötzlich der Schaffner auftaucht. Er klatscht
dreimal in die Hände und ruft: „Schluss jetzt mit dem Affenzirkus! Dies ist
eine Regionalbahn und kein Irrenhaus!“
„Ooooch, schade“, erklingt es enttäuscht im Rund, die Menge zerstreut sich
rasch im Waggon, bald sind auch die letzten Plätze wieder besetzt. Der
Schaffner lässt sich seufzend dem Bader gegenüber nieder.
„Jetzt, da ich schon mal hier bin …“, beginnt er: „Ich habe mich vor se…
Wochen an einer Waschmaschine verhoben, seitdem ein Ziehen in der Leiste.“
„Na, das sehe ich mir doch gleich mal an“, lächelt Wundersattel. „Wenn S…
sich bitte untenrum frei machen würden …“
Und wir verlassen dieses gastliche kleine Etablissement, denn wir müssen in
Leipzig aus- und umsteigen in den Regionalzug nach Dresden, in dem es
wieder einen echten Bratgrill für Koteletts vom Leicoma-Schwein geben soll.
Hmmm, lecker.
6 Jul 2022
## AUTOREN
Theobald Fuchs
## TAGS
9-Euro-Ticket
Deutsche Bahn
Berufe
Schwerpunkt Klimaproteste
Waffen
Kongress
Die Wahrheit
Fahrrad
Fasten
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