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# taz.de -- Ärztin über globale Impfgerechtigkeit: „Die EU bleibt die groß…
> Wie kommen ärmere Länder an ausreichend Impfstoff gegen Covid-19? Nur
> durch Aussetzung des Patentschutzes, sagt Elisabeth Massute von Ärzte
> ohne Grenzen.
Bild: Zu wenig Stoff: Mitarbeiterin eines Corona-Impfzentrums in Johannesburg a…
taz: Frau Massute, es werden inzwischen weltweit Unmengen an Impfstoff
produziert. Warum brauchen wir trotzdem eine Aussetzung des Patentschutzes?
Elisabeth Massute: Den vorhandenen Impfstoff gerecht zu verteilen, das
[1][haben wir ganz offensichtlich bisher nicht geschafft.] Die ärmeren
Länder sind massiv abhängig von den wenigen Impfstoffherstellern weltweit,
die aber zum Großteil nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Diese
Abhängigkeit können wir nur mit mehr Produktionsstandorten auch in ärmeren
Ländern verringern.
Vor mehr als einem Jahr stellten Indien und Südafrika einen entsprechenden
Eilantrag bei der Welthandelsorganisation. Wie ist es damit weitergegangen?
Im Rahmen der Verhandlungen kristallisierte sich schnell heraus, dass zwar
100 Länder aus dem Globalen Süden den Antrag unterstützen, sich aber
zunächst nahezu alle Industrienationen dagegen aussprachen. Es gab dann im
Frühjahr einen Wendepunkt, als die USA überraschend einer Patentfreigabe
für die Impfstoffe zustimmten. Daraufhin haben auch andere Länder wie
Australien und Brasilien ihre Meinung geändert. Aber vor allem die EU
bleibt die letzte große Bremserin bei dem Vorhaben.
Das Gegenargument: Die Hersteller haben Unsummen in die Entwicklung
gesteckt, das muss sich für sie auch lohnen.
Die Gesellschaft [2][hat auch Unsummen in die Entwicklung gesteckt]. Die
Entwicklung des Moderna-Impfstoffs wurde zum Beispiel fast ausschließlich
mit öffentlichen Geldern gegenfinanziert. Der Hersteller Biontech hat von
der deutschen Bundesregierung 375 Millionen Euro Fördergelder erhalten. Die
Grundlagen für die mRNA-Technologie wurden schon seit Jahrzehnten vor allem
im Universitätsbetrieb erforscht. Da ist also bereits massiv öffentliches
Geld drin. Das würde eine Aussetzung der Patente und einen
Technologietransfer rechtfertigen.
Das hätten die Regierungen doch bereits bei der Vergabe der Fördergelder
vertraglich vereinbaren können.
Genau das ist nicht passiert und das ist einer unserer größten Kritikpunkte
an die Regierungen. Man hätte effektive Bedingungen an die Vergabe knüpfen
können wie zum Beispiel mehr Transparenz was den Anteil der privaten Mittel
an der Entwicklung betrifft, aber auch für bezahlbaren und gerechten Zugang
und Technologietransfer im Falle einer Pandemie. Es war sehr kurzsichtig
und fahrlässig das nicht zu tun.
Wenn man jetzt anfangen würde, Eigentumsrechte auszuhebeln, würde das nicht
alle weiteren Innovationen bremsen?
Diese vermeintliche Innovationslogik können wir in vielen Fällen nicht
bestätigen. Stattdessen gibt es im Bereich Medikamentenentwicklung immer
wieder klassisches Marktversagen. Etwa bei den vernachlässigten tropischen
Krankheiten, die für Pharmaunternehmen nicht lukrativ sind, weil
überwiegend arme Menschen betroffen sind. Ohne öffentliche Gelder würde
hier keine Innovation vorangetrieben werden.
Die Gegner:innen sagen auch, dass die Übertragung des Know-hows und der
Aufbau neuer Produktionsstätten viel zu lange dauern würde.
Wenn wir heute die Patente aussetzen, haben wir nicht morgen mehr
Impfstoff, das ist klar. Aber die Forderung kam vor über einem Jahr, und
die durchschnittliche Zeit für bislang stattgefundene Technologietransfers
von mRNA-Impfstoffen beträgt laut einer Studie der US-amerikanischen
Organisation Knowledge Ecology International sechs Monate. Wir könnten
jetzt also schon ein halbes Jahr lang mehr Impfstoff produzieren.
Tatsächlich geht gerade bei mRNA der Know-how-Transfer besonders schnell.
Die Hersteller und auch die Befürworter des freien Marktes betonen immer
wieder, dass es bereits freiwillige Kooperationen gibt und keinen Zwang
braucht.
Es gibt nur einzelne Kooperationen mit Impfstoffherstellern etwa in Indien,
Südafrika oder Ruanda. Besser als diese individuellen Vereinbarungen, die
ja auch die Gefahr von Abhängigkeiten beinhalten, wäre aber eine
Zusammenarbeit mit dem eigens dafür geschaffenen WHO mRNA-Technologie Hub.
Dann bräuchte es nur einmal den Wissenstransfer und der Hub würde für die
Multiplikation sorgen. So oder so sehen wir, dass Freiwilligkeit im Bereich
mRNA-Technologie nicht in einem ausreichenden Maße zu globaler
Produktionsausweitung führt.
Die EU befürwortet als alternative Lösung Zwangslizenzen – ist das nicht
das Gleiche wie eine Patentaussetzung?
Nein. Zwangslizenzen auszuhandeln dauert sehr lange und sie funktionieren
vor allem auf nationaler Ebene. Den Ländern, die bisher keine eigenen
Produktionskapazitäten haben, würden sie wenig nutzen.
Eine Dosis mRNA-Impfstoff kostet im Einkauf rund 20 Euro, die Hersteller
haben die Preise noch mal erhöht. Wird es bei eigener Produktion
tatsächlich viel günstiger?
Einer Studie von Oxfam zufolge könnte man eine Impfdosis zum Preis von 1,20
Euro produzieren.
Wenn die Gegenargumente nicht so recht ziehen – worum geht es dann
eigentlich bei der Blockade der EU?
Es sind ganz klar Wirtschaftsinteressen, die da geschützt werden sollen.
Man hängt hier einem veralteten System von Forschung und Entwicklung nach,
statt angesichts einer nie dagewesenen globalen Bedrohung neue Wege zu
gehen. Es macht aus medizinischer, wirtschaftlicher und moralischer Sicht
keinen Sinn, den Impfstoff in dieser Situation so ungleich zu verteilen.
Aus medizinischer Sicht drohen weitere Virusmutationen. Dass es moralisch
verwerflich ist, ärmeren Ländern lebensrettenden Impfstoff vorzuenthalten,
liegt auch auf der Hand. Aber warum macht es aus wirtschaftlicher Sicht
keinen Sinn?
Das sollte aus Sicht von Ärzte ohne Grenzen nicht das Hauptargument sein,
aber es ist auf jeden Fall so, dass eine andauernde globale Pandemie über
die nächsten fünf Jahre bis zu 5,3 Billionen US-Dollar Verluste für die
Weltwirtschaft bedeuten könnte. Berechnungen der Weltbank, der
Weltgesundheitsorganisation, der Welthandelsorganisation und des
Internationalen Währungsfonds zeigen, dass eine globale Bekämpfung der
Pandemie für alle günstiger wäre – sie veranschlagen dafür lediglich Kost…
von 50 Milliarden US-Dollar.
Wie geht es jetzt weiter?
Die Verhandlungen bei der Welthandelsorganisation werden fortgeführt, Ende
November findet die große Ministerkonferenz der WTO statt. Ob dort ein
Kompromiss verkündet wird, die Patente ausgesetzt werden oder weiter
verhandelt werden muss, werden wir dann sehen. Klar ist: Diese Pandemie
wird nicht einfach weggehen und die Weltgemeinschaft muss damit umgehen.
Deutschland hat im nächsten Jahr die G7-Präsidentschaft inne und damit eine
besondere Verantwortung. Eine neue Bundesregierung muss die bisherige
Blockadehaltung aufgeben und Veränderungen vorantreiben.
17 Nov 2021
## LINKS
[1] /Ungerechtigkeit-bei-Corona-Impfungen/!5812817
[2] /Patente-auf-Corona-Impfstoffe/!5773035
## AUTOREN
Manuela Heim
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