# taz.de -- Kelly Reichardts Filme in Hamburg: Geworfene Menschen | |
> Zutiefst amerikanisch und dabei arm an Heldengedöns: Das B-Movie in | |
> Hamburg würdigt in diesem Monat die Regisseurin Kelly Reichardt. | |
Bild: Kammerspiel ohne schützende Kammer: Michelle Williams im Irgendwie-Roadm… | |
HAMBURG taz | Ein Buddy-Movie, ein Kumpelfilm also, in dem sich die beiden | |
Freunde fremd geworden sind. Ein Roadmovie, dessen Protagonistin auf halbem | |
Wege liegen bleibt, grob gesagt: Das Auto streikt, ihr Geld reicht nicht | |
für irgendwelche Unvorhergesehenheiten, und der Hund ist auch noch weg. | |
Western, die alle Zutaten des Genres haben, eigentlich – aber doch immer | |
merkwürdig damit fremdeln. Ein Thriller im umweltaktivistischen Milieu, im | |
dem es auch knirscht, was die Konventionen von Plot oder Spannung angeht. | |
Die Filme von Kelly Reichardt lassen sich lesen als ein subversives Umgehen | |
mit allerlei Standards und Formen: denen des Hollywood-, aber auch denen | |
des US-amerikanischen Independent-Kinos, in dem der Regelverstoß – oder | |
zumindest -beugung – ihrerseits ja längst Klischees abwerfen. Dabei sah es | |
ganz zu Anfang aus, als stünde ihr eben dort eine glänzende Karriere bevor: | |
[1][Ihr Debüt, „River of Grass“], war 1994 eine erkennbar billig | |
entstandene, seinerzeit so beliebte Variation auf „Bonny und Clyde“ im | |
Vorort-Ambiente. Nicht mit alten Bäumen und weißen Lattenzäune allerdings, | |
sondern Vorort im Sinne von: Zersiedelung, Armut, Leben unter | |
Schnellstraßen. | |
„River of Grass“ ist – so wie [2][“Certain Women“ (2016)] – nicht d… | |
wenn das Hamburger B-Movie der Regisseurin jetzt seinen Monatsschwerpunkt | |
widmet. Das dürfte an Technikalitäten liegen: Um eine | |
Gesamt-Langfilm-Werkschau zu zeigen, fehlten dem kleinen Kino auf St. Pauli | |
schlicht ein paar freie Termine. Inhaltlich wäre das Debüt dabei kein | |
Fremdkörper in der Reihe, die sich ausdrücklich „Kelly Reichardts | |
Wilderness“ widmet. Denn auch wenn das Gros ihrer Filme im landschaftlich | |
spektakulären Oregon spielt – und zwei davon zu Zeiten, da der pazifischen | |
Nordwesten noch echten Pioniergeist forderte: Die Wildnis, das ist nicht so | |
sehr eine dem Menschen und seinen Kulturtechniken als andere | |
gegenüberstehende. Nein, Kelly Reichardts Wildnis ist eine, die der Mensch | |
wenn nicht geschaffen, dann doch wesentlich geprägt hat – um sich | |
hineingeworfen wiederzufinden, nicht visionär gestaltend. | |
## Karriere startete verzögert | |
Zum Auftakt wurde [3][„Old Joy“] gezeigt (noch mal zu sehen am 20. | |
November), Reichardts zweiter Spielfilm, entstanden erst zwölf Jahre nach | |
dem Debüt: Was genau dazwischen passiert ist, warum sie keine zunächst | |
Indie- und irgendwann dann anständig budgetierte Autorinnensensation wurde? | |
Manchmal – und zumindest teilweise im Scherz – hat sogar Reichardt selbst | |
es so dargestellt: Sie war halt kein Kerl, Kerle wie Quentin Tarantino aber | |
waren das Gesicht des Indie-Films in den 1990ern und darüber hinaus. | |
Vom grellen, ironisch-anspielungsgesättigten Kino eines Tarantino – oder, | |
anders, eines Wes Anderson – unterscheiden sich Reichardts Arbeiten | |
maximal: Sie sind geprägt von einer Ruhe, einer Unaufgeregtheit, die | |
manchen Zuschauer*innen schon zu viel sein dürfte; späteren Filmen wurde | |
mitunter im Gestus echten Überraschtseins bescheinigt, sie seien ja so, | |
tja, plotgetrieben. | |
„Old Joy“ ist wie mehrere der jetzt zu sehenden Filme die Adaption einer | |
Kurzgeschichte, was ja schon andeutet: Hier geht es mehr um innere Vorgänge | |
denn um äußere Action. Zwei alte Freunde, Mark und Kurt, gehen in den Wald, | |
wegen heißer Quellen. Was nur ein paar Stunden dauern soll, dauert über | |
Nacht, weil Kurt, der den Weg eigentlich kennt, das doch nicht tut – worin | |
sich kristallisiert, wie unterschiedlich die Wege sind, die beide gegangen | |
sind seit ihrer gemeinsamen Zeit; wie unterschiedlich geordnet die Bahnen | |
ihrer Leben. In der Tat ein ereignisarmer, meditativer Film, dem sich | |
zuwenden muss, wer nichts versäumen will. | |
## Frauen in tragender Rolle | |
Dass es da um [4][zwei Männer (und einen Hund) im Wald] geht, mag | |
überraschen, denn das Gewicht der weiblichen Charaktere ist auch so ein | |
Spezifikum Reichardts: Frauen spielen in beinahe allen ihrer Filme tragende | |
Rollen, wenn nicht die einzig tragende. Das hat sich erst mit [5][„First | |
Cow“ (2019)] geändert. Reichardts zweite Beschäftigung mit dem | |
Western-Genre und einem nicht zeitgenössischen Setting ist nun am 25., 27. | |
und 28. November zu sehen – und erzählt auch ganz ohne weibliche | |
Hauptrollen, so [6][würdigte es im Sommer die taz], „mit leichter Hand von | |
Frühkapitalismus und toxischer Männlichkeit“. | |
Einen Mann, der nicht ist, was zu sein er vorgibt, hatte [7][„Meek’s | |
Cutoff“] (18. und 28. November) sogar im Titel: Stephen Meek, eine reale | |
Figur im noch unerschlossenen Nordamerika, ein Trapper, dem sich Mitte des | |
19. Jahrhunderts eine Gruppe Siedler anvertraute. [8][Reichardts Film] von | |
2010 erzählt die vermeintlich heroische Besiedlung des mitnichten leeren | |
Landes als Plackerei, geleistet von Menschen, die sich nicht als | |
Held*innen fühlen. | |
Die Spannung zwischen hehrem Anspruch und schnödem, weiß Gott nie perfektem | |
Dasein prägt auch [9][„Night Moves“ (2013)], Reichardts in mancher Hinsicht | |
konventionellsten Spielfilm: [10][Ein Thriller, von außen gesehen], | |
plotgetrieben und mit gleich mehreren Stars in den Hauptrollen, darunter | |
Dakota Fanning und Jesse Eisenberg. Radikal Umweltbewegte wollen da einen | |
Staudamm sprengen, ein Zeichen setzen gegen all das, was falsch läuft in | |
der Welt – und geraten irgendwann in eine Form der Selbstzerfleischung mit | |
drastischen Auswirkungen (14., 21. und 27. November). | |
Im – aus Sicht des Autors – vielleicht schönsten Film der Reihe geht es | |
nicht um große Politik oder fehlgeleiteten Idealismus: In [11][„Wendy and | |
Lucy“] (14., 20. und 21. November) strandet Erstgenannte auf dem Weg zu | |
irgendeinem miesen Job in einer Fischfabrik. Das Auto ist alt und streikt, | |
aber die Dollars sind exakt abgezählt auf dieser Reise – und nun? Wieder so | |
ein für Reichardt typisches Spiel mit dem Beinahe und dem Was-hätte-Sollen, | |
ein an äußerer Handlung armes Kammerspiel ohne schützende Kammer, dafür in | |
einem Freien der vorbeifahrenden Züge und schlampig übergeputzten | |
Ernüchterung. Aber Vorsicht: Michelle Williams – die gerade zum vierten Mal | |
mit Reichardt gedreht hat – [12][als Wendy zuzusehen], wie sie ihren | |
geliebten Hund Lucy sucht und an den Institutionen der schäbigen Kleinstadt | |
zu scheitern droht: Das kann Herzen zerreißen. | |
Infos: [13][https://b-movie.de] | |
14 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=K9QrvLd2pbY | |
[2] /Episodenfilm-von-Kelly-Reichardt/!5385579 | |
[3] /Archiv-Suche/!812262/ | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=KkdJV1X4fwI | |
[5] /US-Film-im-Wettbewerb-der-Berlinale/!5665559 | |
[6] /Feministischer-Western-First-Cow/!5782127 | |
[7] /Regisseurin-ueber-Neo-Western/!5107899 | |
[8] https://www.youtube.com/watch?v=iR5o8omffT8 | |
[9] /Kelly-Reichardt-ueber-ihren-neuen-Film/!5035672 | |
[10] https://www.youtube.com/watch?v=s7-VqKLYZks | |
[11] /US-Kinofilm-Wendy-and-Lucy/!5153957 | |
[12] https://www.youtube.com/watch?v=pASs3rerRCY | |
[13] https://www.b-movie.de | |
## AUTOREN | |
Alexander Diehl | |
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