Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Angela Merkel tritt ab: Die heimliche Revolutionärin
> Die schafft das nie, meinten manche, als Merkel 2005 Kanzlerin wurde.
> Aber sie hat mehr bewirkt, als viele glauben – besonders in der
> Frauenpolitik.
Bild: Hat viel für Frauen gemacht. Angela Merkel bei ihrer Vereidigung 2005
Nun ist sie also wirklich bald weg. Am Donnerstag hat die Bundeswehr Angela
Merkel verabschiedet, [1][nächste Woche wird Olaf Scholz zum Kanzler
gewählt]. Seit Merkel nach der Bundestagswahl ihre Abschiedsrunden im
Ausland drehte, wurde immer wieder deutlich, wie sie andernorts geschätzt
wird: als moderierende, rationale Krisenmanagerin.
Hierzulande gehen die Menschen meist weniger schmeichelhaft mit Merkel um.
Ihre politische Führungskraft sei überschätzt, findet der
Wirtschaftsjournalist Wolfgang Münchau. Mit dem Titel [2][„Es ist gut, dass
Merkel vor dem Abschied steht“] kommentierte die Süddeutsche Zeitung
Merkels bevorstehenden Abgang. Vor allem im Osten häuften sich zuletzt die
„Merkel muss weg“-Rufe.
Dabei wird vergessen, dass Angela Merkel etwas Einzigartiges geschafft hat:
Sie ist Deutschlands erste Bundeskanzlerin und die erste Ostdeutsche im Amt
dazu. Merkel kam aus einem Land, dem ein Demokratieverständnis bis heute
zuweilen abgesprochen wird, und in dem das Verdienst der weiblichen
Emanzipation vielfach nicht den Frauen zugeschrieben wurde, sondern dem
DDR-Verdikt der Vollerwerbstätigkeit.
Und sie kam in ein Land, das Frauen auf allen gesellschaftlichen Ebenen
benachteiligt. Die schafft das nie, orakelten viele, als Merkel 2005
Gerhard Schröder aus dem Kanzlersessel kickte. Die Republik war damals eine
machohafte, dünkelhafte politische Elite gewohnt. Wie soll eine Frau aus
dem Osten damit umgehen?
Merkel ging damit um. In 30 Jahren politischer Praxis wurde aus [3][„Kohls
Mädchen“] eine „Teflonkanzlerin“ und die „Flüchtlingskanzlerin“, die
„Mutti“, „Leader of the free world“ und schließlich die „ewige Kanzl…
Sie hat sich beharrlich von der Frauen- zur Umweltministerin und von der
Generalsekretärin zur Parteivorsitzenden der CDU und schließlich ersten
Bundeskanzlerin hochgearbeitet.
Der Aufstieg dieser Frau aus der Uckermark wäre ohne eine Modernisierung
der Gesellschaft indes nicht möglich gewesen. Eine Frau an der Spitze des
Staates war vor dem Mauerfall undenkbar. Der emanzipatorische Schub, den
vor allem Ostfrauen ins wiedervereinte Land brachten, hat mit dazu
beigetragen, dass sich das änderte. Gleichzeitig hat Merkel der
Gesellschaft ein Update verpasst – und das stärker, als es manchen bewusst
ist.
In ihrer Amtszeit wurden für damalige Verhältnisse so revolutionäre Dinge
eingeführt wie das Elterngeld und [4][die Vätermonate], [5][Quoten] für
Aufsichtsräte und Vorstände, die Homo-Ehe und ein
Entgelttransparenz-Gesetz, das helfen soll, die noch immer schlechtere
Bezahlung von Frauen zu beheben. Unter Merkel wurde das Scheidungs- und
Unterhaltsrecht reformiert, damit Frauen nach der Elternzeit leichter in
den Job zurückkehren können und nicht auf lange Sicht ein Dasein in
Teilzeit oder als Vollzeitmutti fristen müssen – in finanzieller
Abhängigkeit vom Mann.
In der Ära Merkel wurde [6][der Gender-Care-Gap], der unterschiedliche
Zeitaufwand zwischen Frauen und Männern bei unbezahlter Sorgearbeit, ins
Bewusstsein gerückt, und mit „Nein heißt Nein“ das Sexualstrafrecht
verschärft. Welcher frühere Kanzler kann sich einen solchen
gesellschaftlichen Umbruch auf die Fahnen schreiben?
An dieser Stelle muss betont werden, dass Merkel Mitglied der CDU ist,
einer wertkonservativen, besitzstandswahrenden und vor größeren Umbrüchen
zurückscheuenden Partei. Man muss sich nur Helmut Kohl in Erinnerung rufen
mit seiner Vorliebe für Pfälzer Saumagen – und seiner Bräsigkeit, seiner
Provinzialität und seinem patriarchalen Auftreten in seinen Jahren als
Kanzler.
## Immer noch Ehegattensplitting
Natürlich ist vieles offen geblieben. Das [7][Ehegattensplitting], das die
Einverdiener-Ehe steuerlich fördert, gibt es noch immer. Frauen werden nach
wie vor schlechter bezahlt als Männer; die Folge sind miese Renten für
Frauen. Und die zwischen Frauen und Männern ungerechte Verteilung von
Sorgearbeit wird die Sozialdebatten der kommenden Jahre bestimmen.
Zudem hat Merkel die Modernisierung nicht bewusst forciert, sie ließ sie
eher geschehen. Sie erkannte, dass sie ihre Macht einbüßen könnte, wenn sie
sich gesellschaftlichem Fortschritt verweigerte. Mit der ihr eigenen
Unaufgeregtheit und ihrer sachlich-neutralen Art, Politik zu machen, hat
Merkel so viel für Frauen und Familien getan wie kaum andere
Politiker:innen zuvor in Deutschland.
Ihr wurde oft vorgeworfen, ihr Frausein nie zum Thema gemacht und stets auf
Sachfragen gedrängt zu haben. Doch genau deshalb konnte Merkel nie auf die
Frauenrolle reduziert werden. Anders hätte sie – zur damaligen Zeit – nicht
Kanzlerin werden und ihre Rolle auf dem internationalen Parkett ausfüllen
können.
Sie musste die Banken- und die Eurokrise und zum Schluss die Coronapandemie
managen, mit der verstärkten Fluchtmigration umgehen, mit Autokraten wie
Putin, Trump und Erdoğan verhandeln, den Rechtsterrorismus bekämpfen und
die Klimakrise kommunizieren. Knallharte Themen, denen das Geschlecht von
Staatsoberhäuptern egal ist.
## Dem Osten treu
Ebenso wurde ihr vorgeworfen, zu wenig für die Ostdeutschen getan zu haben.
In der Tat schenkte sie den besonderen ostdeutschen Interessen und
Problemen keine besondere Beachtung. Sie ging ebenso wenig auf ostdeutsche
Befindlichkeiten ein, noch setzte sie etwas daran, die ostdeutsche
Wirtschaft speziell zu fördern.
Denn sie war, so sah sie es, Kanzlerin aller Deutschen. Wie hätte wohl die
Kritik an Merkel ausgesehen, hätte sie vor allem Menschen zwischen Usedom
und Thüringer Wald im Blick gehabt? Aber sie blieb dem Osten auf besondere
Weise treu: Durch ihre bodenständige, unprätentiöse Art zeigte sie, dass
man sich als Ostdeutsche nicht dem Westen anpassen muss.
Es mag pathetisch klingen: Merkel hat ihre Rolle, die für eine Frau und
eine Ostdeutsche komplett neu war, voll ausgefüllt. Um es mit einem ihrer
berühmtesten Sätze zu sagen, nur ein wenig umgedeutet: Sie hat es
geschafft.
3 Dec 2021
## LINKS
[1] https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/bundestagswahl/id_91252342/…
[2] https://www.sueddeutsche.de/meinung/angela-merkel-bundestag-bilanz-abschied…
[3] /fileadmin/verlagsdateien/pdfs/titelseiten/Es_ist_ein_Maedchen_11_10_05.pdf
[4] /Vaeterreport-des-Familienministeriums/!5801723
[5] /Paritaet-und-Frauenpolitik/!5814265
[6] /Benachteiligung-von-Frauen/!5694226
[7] /Steuerreform-schaffe-Jobs-fuer-Frauen/!5807899
## AUTOREN
Simone Schmollack
## TAGS
Schwerpunkt Angela Merkel
Elterngeld
CDU
Kolumne Der rote Faden
taz-Adventskalender
Schwerpunkt Angela Merkel
Feminismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Historiker Rödder über die Union: „Das Drama der CDU ist komplex“
Der Historiker Andreas Rödder ist Kenner der CDU und selbst Mitglied. Ein
Gespräch über die Merkel-Nachfolge und die Chance auf Erneuerung in der
Opposition.
Abschied von Merkel und Kurz: Rote Rosen und ein Baby
Angela Merkel zeigte bei ihrem Abschied als Kanzlerin Haltung. Österreichs
Ex-Kanzler Sebastian Kurz hingegen demonstrierte nochmal, wie klein er ist.
taz.berlin-Adventskalender (3): Die ganz große Musik-Koalition
Unser Autor erwärmt sich am übereinstimmenden Musikgeschmack von
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Rot-Grün-Rot in Berlin. Und jetzt
Schlager!
Bundeswehr-Dirigent über Zapfenstreich: „Da spielt Tuba statt E-Bass“
Reinhard Kiauka dirigiert beim Abschied von Angela Merkel das
Blasorchester. Mit ihren Musikwünschen hat ihm die Kanzlerin Probleme
bereitet.
Parität und Frauenpolitik: Die bequeme Quote
Die Herren Feministen glauben, dass eine Quote sie vom Rest der
Frauenpolitik befreit. Die Quote droht zum Ersatz für feministische Inhalte
zu werden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.