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# taz.de -- Künstlerin Ingeborg Lüscher: Spielerische Selbsterforschung
> Mit Busreifen, Seife und Kippen hat Ingeborg Lüscher gearbeitet, geleitet
> von ihrem Blick auf das Leben. Zu sehen in einer Retrospektive in Bochum.
Bild: Ingeborg Lüscher, Augen, 1998 ​
Oft ist es ja gar nicht das die Wahrnehmung herausfordernde Werk, das
Menschen in ein Museum lockt, sondern die interessante
Künstler*innen-Biografie. Ein kurzer Abriss von Ingeborg Lüschers reichem
Leben vermag da zu beeindrucken: Die im Tessin lebende gebürtige Sächsin
war Teil der legendären documenta 5, danach bis zu seinem Tod mit dem
[1][berühmten Ausstellungsmacher Harald Szeemann] liiert. Erst mit Anfang
30 bog sie von einer Schauspiel-Karriere auf eine Laufbahn als bildende
Künstlerin ab.
Bis heute arbeitet die mit 85 Jahren äußerst agile und jugendliche
Offenheit ausstrahlende Ingeborg Lüscher an neuen Werken wie auch an ihrem
Nachruhm. Deshalb suchte sie vor einiger Zeit ein Museum, das ihre
wichtigsten, oft raumgreifenden Arbeiten in seine Sammlung übernehmen
möchte.
Nach einer jahrzehntelangen Zusammenarbeit mit dem Bochumer Mäzen,
Galeristen und [2][Museumsstifter Alexander von Berswordt] fand sie
schließlich, dass sie in der Situation Kunst (für Max Imdahl) gut
aufgehoben wären, die an die Sammlungen der Ruhr-Universität Bochum
angeschlossen ist. 80 Werke schenkte sie dem Museumsensemble, was man dort
zum Anlass nahm, eine große Retrospektive zusammenzustellen, die Lüschers
Werk in Deutschland zum ersten Mal seit 15 Jahren in seiner vollen
Bandbreite zeigt.
Um ein besonders raumgreifendes Werk in der Ausstellung „Ingeborg Lüscher.
Spuren vom Dasein. Werke seit 1968“ zeigen zu können, kooperiert das zur
Situation Kunst gehörende Museum unter Tage erstmals mit dem Kunstmuseum
Bochum, das seit diesem Sommer unter der neuen Leitung der jungen
Niederländerin Noor Mertens steht. Hier ist ab Mitte November Lüschers
„Bernsteinzimmer“ zu sehen, das in seinen Maßen Bezug auf das Prunkzimmer
nimmt, das unter Friedrich I. um 1700 im Berliner Schloss Charlottenburg
entstand.
## Duft der Sonne, Gestank der Kippe
Das „Bernsteinzimmer“ der Künstlerin bildet allerdings nicht die vor allem
teure Ausschmückung des verloren gegangenen Zimmers nach, sondern seine
Anmutung und Lichtwirkung: Es setzt sich aus 9.000 Stücken Seife der Marke
„Sole“ zusammen und stellt nicht mehr bloß eine Rauminstallation, sondern
ein Environment für die Besucher*innen dar; eine Umgebung mit einer
eigenen visuellen, akustischen und olfaktorischen Wirkung, weil es
natürlich einen schwachen Seifengeruch ausströmt.
Der Hang zur Arbeit mit ungewöhnlichen Materialien sticht sofort hervor im
bereits geöffneten Teil der Ausstellung im Museum unter Tage. Er löst
Irritationen aus: Am Anfang hängen die „Verstummlungen“, Collagen aus
Tausenden Zigarettenstummeln, die die Künstlerin bei Freund*innen und
Bekannten gesammelt und meistens in einem Fensterrahmen zusammenstellt hat.
Von fern können diese Strukturen wie natürliche Erscheinungen wirken –
Schattenwürfe, Bienenwaben – ein schöner Anblick.
Aus der Nähe kommen dann Ekel und ökologische Bedenken ins Spiel. Immerhin
belasten die ständig weggeworfenen und kaum kompostierbaren
Zigarettenfilter die Umwelt – eine Assoziation, die Anfang der 1970er
Jahre, als die Werke entstanden, wohl noch nicht die erste war. Damals galt
Rauchen als schick, gerade für künstlerisch-kreative Menschen.
Im Verlauf der Schau stößt man auf Skulpturen aus Busreifen oder
angefackeltem Styropor, auf die raumgreifenden „Hängenden Gärten der
Semiramis“ aus gelben Polyethylen-Bahnen und auf Kleidungsstücke, die sich
aus Wäschetrockner-Flusen quasi rematerialisieren. Und immer wieder ist es
der Schwefel beziehungsweise die Schwefelblume, die als leuchtendes Gelb,
als ihre Metapher für das Spiel mit dem Licht, ihr Werk markiert.
Trotzdem ist Ingeborg Lüscher nicht in erster Linie Materialforscherin.
Wenn man sie kennenlernt, wird gleich klar: Sie lässt sich von ihrem
Erleben als Mensch in dieser Welt, ihren Fragen, ihren Gefühlen leiten. Das
Gelb des Schwefels hat sie beim Besuch eines Drogerie-Ladens fasziniert,
sie kaufte gleich eine ganze Flasche und setzt es nun auf großformatigen
Gemälden oder Skulpturen gern als Antagonist zu tief schwarzen
Farbstrukturen ein.
Es korrespondiert zum Beispiel mit dem Gelb, in dem ihre 1998
fotografierten „Augen“ leuchten. Diese Fotoserie ist immer in Paaren
gehängt: Ein Auge geöffnet, eins geschlossen. Licht und Schatten – keins
von beidem ist für sie positiv oder negativ besetzt, das eine bedingt das
andere.
Eine pyramidenförmig gehängte Serie kleinformatiger Fotos von 1975 bis
1979, die die Welt aus Kinderperspektive zeigen, hat sie genannt: „Wie ich
beginne, die Welt zu erleben oder: Ich kenne den Sinn und die Worte, nur
die Dinge sind über mir“. Inspiriert dazu hat sie eine Reihe von
Hypnosesitzungen, die ihr Aufschluss über frühere Leben bringen sollten:
„Ich glaube, in meinem vorherigen Leben war ich ein armes Mädchen, das früh
verstorben ist. Vielleicht darf ich deshalb jetzt so ein reiches Leben
haben und es voll auskosten.“
So kann man die Werke in der Bochumer Schau als Selbsterforschung, als
Ergebnis des Auskostens eines reichen Lebens sehen. Das macht Spaß und man
erkennt: Hinter der abstrakten Anmutung der Collage „Hyrgin und Rear III“
ist auf den zweiten Anblick deutlich ein feuriges liegendes Paar mit feurig
roter Liebesenergie zu erkennen – Ingeborg und Harald.
6 Nov 2021
## LINKS
[1] /Buch-ueber-Harald-Szeemann/!5668699
[2] /Russbilder-aus-dem-Ruhrgebiet/!5682982
## AUTOREN
Max Florian Kühlem
## TAGS
Bildende Kunst
Retrospektive
Museum
Bochum
Installation
Künstlerin
Schlecker
Feministische Kunst
Ausstellung
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