# taz.de -- Rußbilder aus dem Ruhrgebiet: Experimentelle Interventionen | |
> Die Erich-Reusch-Retrospektive im Bochumer Museum unter Tage „grenzenlos“ | |
> ist eine Hommage an den unendlichen Raum. | |
Bild: Erich Reuschs „Wasserrelief“-Brunnen für die Universität Bochum | |
Die eindrucksvollsten Werke Erich Reuschs kann man nicht ausstellen. Sie | |
sind als Architekturelemente geschichtsträchtigen Orten wie dem Berliner | |
Bendlerblock eingeschrieben, wo der Künstler die Gedenkstätte für den | |
Deutschen Widerstand gegen das Naziregime klug inszeniert. Oder sie waren | |
zeitlich begrenzte Installationen: Skulpturen in der Luft oder | |
Interventionen in der akustischen Umwelt. | |
Erinnerungen an sichtbare Arbeiten hängen als schwarz-weiße Fotografien in | |
der Ausstellung „grenzenlos“ im Bochumer Museum unter Tage, die trotz der | |
Unmöglichkeiten, auf die man beim Projekt einer Reusch-Retroperspektive | |
stößt, doch erstaunlich gut funktioniert. | |
Bis zu seinem Tod im vergangenen Dezember hat der 94-jährige Erich Reusch | |
noch mit an der Konzeption der Schau im Museum unter Tage gearbeitet, das | |
zu den Kunstsammlungen der Bochumer Ruhr-Universität gehört. | |
Das dort tätige Stifterehepaar Silke und Alexander von Berswordt-Wallrabe | |
hat ihn seit Jahrzehnten gefördert, und an der Ruhr-Uni realisierte er 1973 | |
den sogenannten Forumsbrunnen, der – wenn er noch funktionieren würde – | |
wohl der außergewöhnlichste Brunnen des Landes wäre: Eigentlich ist er | |
tatsächlich mehr Forum, ein Begegnungsort im besten Sinn mit Stufen zum | |
Verweilen, unter denen normalerweise fast unmerklich Wasser verläuft. Man | |
würde es allerdings eher als akustisches Phänomen oder Veränderung des | |
Mikroklimas wahrnehmen. | |
## Reaktivierung des Forumsbrunnen | |
„Wir versuchen derzeit alles, um den Brunnen zu reaktivieren“, informiert | |
Alexander von Berswordt. Dann wäre er ein guter Anlaufpunkt für Menschen, | |
die im Museum nur das Foto von ihm betrachten konnten. | |
Andere bahnbrechende Arbeiten des Künstlers existieren nur noch als | |
fotografische Erinnerung – zum Beispiel die „Überlagerten | |
Laserflächenbahnen“, mit denen Reusch 1967 Feinstaub als schwarze Rechtecke | |
im Himmel sichtbar macht – in einer Zeit, in der noch niemand über die | |
Abgasbelastung der Luft als Problem nachdachte. | |
Oder die „Pulsierende Fläche“, die er 1971 aus einem unregelmäßig | |
gespannten Fallschirm an einer Flughalle in der Nähe seines Wohnorts in | |
Werdohl schuf. Außer dem Künstler selbst haben das flüchtige Werk nur | |
wenige Menschen gesehen – trotzdem hat er es einmal als eines seiner | |
wichtigsten bezeichnet. | |
Das macht deutlich, wie Erich Reusch mit Unbedingtheit und Unbeirrbarkeit, | |
störrisch und widerständig über 70 Jahre lang einer künstlerischen Vision | |
nachging, die alles andere als leicht konsumierbar ist. Seine Positionen | |
bewegen sich zwischen Architektur, Skulptur, Installation, Land Art und, in | |
seinen letzten Jahren, auch Malerei, haben aber alle ein Thema gemeinsam: | |
den unendlichen Raum. | |
## Begrenzte menschliche Erkenntnisfähigkeit | |
Reusch, der seine Laufbahn nach dem Kunststudium in Berlin Anfang der | |
1950er Jahre als Architekt in Düsseldorf begann, wo er 1975 zum | |
Kunstprofessor ernannt wurde, setzte sich mit der Begrenztheit der | |
menschlichen Erkenntnisfähigkeit und Existenz, der relativen Position des | |
Menschen in einem tendenziell nicht endlichen Raum auseinander. | |
In den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs wurde er noch eingezogen und | |
arbeitete als Minensucher bei der Marine. Dort erwarb er sich ein Wissen um | |
nicht oder kaum sichtbare Realitäten wie Strömungsverhalten, Magnetismus, | |
Gefahrenlagen, was sich auf seine Kunst auswirkte. Er erlebte auch selbst | |
Gefahr und verlor infolge einer Kriegsverletzung einen Finger an der | |
rechten Hand, die außerdem Nervenschäden erlitt. | |
Mit diesem Handicap schuf er an ausstellbaren Objekten vor allem | |
Skulpturen, die mit der Wahrnehmung spielen. Schon die kleineren | |
Wandarbeiten aus den 1950er Jahren im ersten Raum der Ausstellung scheinen | |
sich mit Stacheln, anderen merkwürdig herausragenden Objekten und | |
ungewöhnlichen farbigen Markierungen einem ruhenden oder ordnenden Blick | |
aktiv zu widersetzen. | |
## Prozessuale Skulptur | |
Einem größeren Publikum bekannt wurden seine elektrostatischen Objekte, die | |
er seit den 1970er Jahren schuf: Skulpturen oder Wandbilder aus Plexiglas, | |
an dem sich über elektrostatische Aufladung Gasruß ansammelt und ständig | |
neu formiert. | |
Erstaunlich sind Reuschs späte Arbeiten: Nach einem Schlaganfall war der | |
Künstler von den Nervenzuckungen in der rechten Hand wundersamerweise | |
befreit, er konnte wieder malen und zeichnen. Zuerst malte er mit Acryl auf | |
Plexiglasbruchstücken, die wie Reste oder Fetzen eigentlich größerer Werke | |
an einfachen Schrauben an den Wänden hängen. | |
Bis zuletzt arbeitete er an großformatigen Gemälden: Wie die | |
Plexiglasfetzen faszinieren sie durch ihre knallige Farbigkeit, die in | |
krassem Gegensatz zum schlichten Schwarz-Weiß der meisten früheren Werke | |
steht; doch ihre Anziehungskraft ist stärker. Sie ziehen den Blick in | |
erstaunliche Tiefen. | |
Erich Reusch hat es tatsächlich geschafft, in der Zweidimensionalität der | |
jahrhundertealten Kunst der Anordnung von Farbe auf Leinwand einen | |
gewaltigen Eindruck von der Begrenztheit des Menschen im unendlichen Raum | |
zu schaffen. | |
29 May 2020 | |
## AUTOREN | |
Max Florian Kühlem | |
## TAGS | |
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