| # taz.de -- Spielzeitauftakt in Osnabrück: Anfang ohne viel Zauber | |
| > Am Theater Osnabrück ist nun Ulrich Mokrusch Intendant. Zum Auftakt geht | |
| > es um Alltagsrassismus, Machtmännlichkeit und Aus- und Einwanderung. | |
| Bild: Faust als machttrunkener Filmproduzent: Simon Stephens „Fortune“ | |
| Dass aus Verliebtheit Liebe zu einer Stadt wird, sich daraus aber | |
| schließlich nur noch gut eingespieltes Miteinander entwickelt: normal. Für | |
| Theaterintendanten ist das häufig der Moment, den [1][Arbeitsplatz zu | |
| wechseln]. Ralf Waldschmidt verließ nach zehn Jahren Osnabrück, um | |
| Chefdramaturg an der Staatsoper Hamburg zu werden. Ulrich Mokrusch verließ | |
| Bremerhaven nach elf Jahren, um Waldschmidt zu beerben. | |
| An der Wesermündung war sein [2][Start einst fulminant], weil er an vielen | |
| Orten mit Kooperationspartnern und lokalen Themen in die Stadt | |
| hineinspielen ließ, nebenher den Muff des Vorgängers wegwirbelte, ohne auf | |
| Musicals, Operetten und Opernklassiker zu verzichten. In den letzten Jahren | |
| aber verlor das Mokrusch-Theater an Dynamik, ruhte sich auf dem Erreichten | |
| aus und versuchte allzu häufig, Erfolgsstücke und -konzepte anderer Häusern | |
| zu reproduzieren. | |
| Nun wieder Neustart. Das Haus in Osnabrück ist aber viel besser | |
| aufgestellt, als es das in Bremerhaven war. Waldschmidt setzte auf | |
| Ausgrabungen vergessener, selten gespielter zeitgenössischer Opern und | |
| Uraufführungen, genau dieser Leidenschaft frönt auch Mokrusch. | |
| Auch an Waldschmidts findig-forsche Schauspielleitung knüpft Mokruschs Team | |
| an, setzt ebenfalls auf zeitgeistig virulente Erstaufführungen. Zur | |
| Saisoneröffnung stehen Alltagsrassismus, egomane Machtmännlichkeit und | |
| Aus-/Einwanderung auf dem Spielplan. | |
| Durchstarten mit „1000 Serpentinen Angst“, dem autofiktionalen Roman | |
| [3][Olivia Wenzels, der reichlich aktuelle Debatten vernetzt]: Es geht um | |
| Klasse, Kolonialismus und Kapitalismus, Herkunft, Identitätspolitik, | |
| Rassismus- und Sexismus-Erfahrungen und die Suche von uns | |
| Wohlstandsprivilegierten nach einem anständigen Leben. | |
| Politik des Guten | |
| Die Struktur der Vorlage wird mit drei Schauspieler:innen in lockerer | |
| Szenenfolge aufgegriffen: Im Zentrum steht die Tochter einer ostdeutschen | |
| Punkerin und eines Angolaners, die nicht nur sexuell, sondern grundsätzlich | |
| nach ihrer Rolle in einer sozialen Wirklichkeit sucht, die sie als fremd | |
| stigmatisiert. | |
| Anonyme Frager:innen bringen die Protagonistin zum selbstvergewissernden | |
| Reden, Offenbaren, Empören, Nachdenken, Problematisieren: ein bissig | |
| reflektiertes Einüben, Widersprüche auszuhalten und sich Heimweh nach | |
| Heimat sowie Sehnsucht nach Muttersein nicht zu verbieten. Dazu platzen per | |
| kommentierter Diaschau Erinnerungen auf, von Begegnungen mit der Mutter, | |
| der einst SED-treuen, heute eine rechte Partei wählenden Oma sowie in | |
| nachgespielten Szenen fremdenfeindlicher Alltagsaggression, trotz | |
| Rollenwechselei stets aus der Ich-Perspektive der Erzählerin. | |
| Sie sucht nach Positionierung zur eigenen Geschichte. Mal wird getanzt, | |
| meist aber nach vorn ins Publikum geplaudert. Etwa vom zwiespältigen Glück | |
| einer USA-Reise. Einerseits kann die Ich-Instanz des Abends den tief | |
| verankerten Rassismus dort nicht leugnen, fühlt sich andererseits aber | |
| schwärzer als in Deutschland und der PoC-Communitys zugehörig: öffentlich | |
| gemocht, gegrüßt, akzeptiert. Dort kann sie unbefangen eine Banane essen, | |
| sie nennt das „Freiheit“, in Deutschland würde sie dafür mit Affenlauten, | |
| Witzen über ihre bananenlose DDR-Vergangenheit oder Anzüglichkeiten übers | |
| Penislutschen bedacht. | |
| Das Frage-Antwort-Spiel kommt in der Regie von [4][Rebekka David] leider | |
| kaum vom gewissenhaften Rekapitulieren des Textes zur forschen | |
| Auseinandersetzung damit. So ist der Abend eher ein gutes politisches denn | |
| überzeugend künstlerisches Statement. | |
| Mit den Top-Mimen des Ensembles prunkt die zweite Premiere: „Fortune“ von | |
| Simon Stephens. Mit einer modernen „Faust“-Version soll Grundsätzliches | |
| verhandelt werden. Die Hauptfigur ist kein Wissenschaftler auf | |
| Erkenntnissuche mehr, sondern besitzt nur noch die negativen Eigenschaften | |
| von Goethes Geistesheroen. Faust heißt nun Fortune, ist erfolgreicher | |
| Filmregisseur und setzt auf das Streben nach Macht und prompte | |
| Bedürfnisbefriedigung. | |
| Auch das verhuscht verklemmte Gretchen wird zeitgemäß zur emanzipierten | |
| Maggie, Filmproduzentin. Auf die ist Fortune geil. Teufel Lucy verschafft | |
| ihm die Frau, dazu Drogen, mehr Ruhm und Zauberkräfte zur Degradierung | |
| ungeliebter Kolleginnen. Fortune feiert seinen Omnipotenzwahn. Zwölf Jahre, | |
| so der Blutdeal, kann er leben, als gäbe es kein Morgen – dann muss er die | |
| Rechnung dafür zahlen. | |
| Für Stephens ist Fortune damit ein Vertreter des modernen Menschen, der | |
| seine Möglichkeiten zu Wohlleben und Maximalkonsum zukunftsvergessen | |
| ausnutzt und dabei Ressourcen der Natur gnadenlos ausbeutet, den | |
| Klimawandel befeuert etc. Fortune zerstört „nur“ Menschen. Schlichter | |
| Lösungsvorschlag für alle: Einsicht hilft. Diese Appell-Dramatik kommt in | |
| Christian Schlüters Inszenierung fidel-präzise daher, wirkt aber für einen | |
| dreistündigen „Faust“-Abend doch recht dürftig. | |
| Hilft das Musiktheater? Mit verzweifelt wirbelnden, aufrührerisch | |
| brausenden, zärtlichen und klagenden Klängen ist „Fremde Erde“ die erste | |
| und einzige Oper des Franz-Schreker-Schülers [5][Karol Rathaus]: | |
| musikalisch ein Fest. Kaum ein expressiver Effekt der 1920er-Jahre-Musik, | |
| der nicht genutzt würde. Das Orchester überzeugt, das hauseigene | |
| Gesangsensemble beeindruckt, die Regie Jakob Peters-Messer widmet sich in | |
| schöner Klarheit dem Libretto, das vom Auswandern der verzweifelten | |
| Landbevölkerung Litauens erzählt. | |
| Leider werden die Gründe der Flucht nach Übersee nicht thematisiert. | |
| Ebenfalls keine aktuellen Anknüpfungspunkte bietet die Überfahrt. Im fernen | |
| Chile finden die Geflüchteten Krankheit und Tod unter | |
| brutalkapitalistischen Arbeitsbedingungen in einer Salpetermine. | |
| ## Aufbruch ohne Ecken und Kanten | |
| Vor diesem Hintergrund lebt die machtmonströs auftrumpfende Ausbeuterin, | |
| Typ Operndiva, ihre Lust auf Jungs von ganz unten aus, verführt den | |
| sozialrevolutionären Semjin, obwohl er zu Beginn noch sagte, keine Ware zu | |
| sein. Aber Sex mit der Chefin und revoluzzen gegen sie, der Spagat klappt | |
| nicht. Semjin endet in der Gosse, sterben und sterben wollen ist angesagt. | |
| Große Oper – als bitter abgeschmecktes Rührstück, in dem die krankmachende | |
| Fremde und der antikapitalistische Impetus kaum mehr als eine | |
| emotionalisierende Folie abgeben. | |
| Mokruschs Neustart ist bisher nicht wie in Bremerhaven von frecher | |
| Mitreißerei, Experimentierfreude, dramaturgischen Ecken und formalen Kanten | |
| gekennzeichnet, sondern vom souveränen Management des Anfangszaubers. Ein | |
| Aufbruch, der sich wie aufgefrischte Kontinuität anfühlt. | |
| 30 Oct 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Theaterintendanten-im-Norden/!5681880 | |
| [2] /!5645870/ | |
| [3] /Autorin-Olivia-Wenzel-ueber-Identitaet/!5666451 | |
| [4] https://www.staatstheater-hannover.de/de_DE/ensemble-schauspiel/rebekka-dav… | |
| [5] https://de.wikipedia.org/wiki/Karol_Rathaus | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Fischer | |
| ## TAGS | |
| Theater Bremerhaven | |
| Theater | |
| Oper | |
| Schauspiel | |
| Faust | |
| Musiktheater | |
| Theater | |
| Theater Bremerhaven | |
| Theater Osnabrück | |
| Gesellschaftliche Teilhabe | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Musiktheater beim Morgenland-Festival: Der Untergang des Morgenlandes | |
| Eine wortreiche, aber dürftige Handlung: Mit Kinan Azmehs „Songs for Days | |
| to Come“ scheitert Osnabrücks Intendant Ulrich Mokrusch kläglich. | |
| Theaterstück „Pfisters Mühle“: Morgen war alles besser | |
| In Braunschweig dramatisiert Rebekka David den frühen Umweltroman „Pfisters | |
| Mühle“ als nostalgische Schauergeschichte über zerrüttete Identitäten. | |
| Umstrittener Theaterintendant: … und alle Fragen offen | |
| Das Ensemble-Netzwerk will wissen, warum ausgerechnet Lars Tietje Intendant | |
| des Theaters Bremerhaven wird. Der Kulturdezernent nennt das Rufmord. | |
| Theaterintendanten im Norden: Bremerhaven auf Bewährung | |
| Große Intendanten-Rochade zwischen den Theatern des Nordens: In Osnabrück, | |
| Schwerin und Bremerhaven kommen und gehen die Chefs. | |
| Benachteiligte Jugendliche abholen: Am Anfang war Theater | |
| Mit dem Projekt „Theater – Ja!“ arbeiten Schulen und Theater in Bremerhav… | |
| erfolgreich an der gesellschaftlichen Teilhabe |