# taz.de -- Vorabdruck eines Fahrradromans: Geschichten aus der Verkehrswende | |
> In „Die Zahl 38.185“ ist Aachen Kriegsschauplatz. Radler und Autofahrer | |
> befehden sich so obsessiv, dass einige sogar in Therapie müssen. Nur | |
> Satire? | |
Bild: Die Verkehrswende fordert auch ihre Opfer: aggressive Menschen im Auto od… | |
Hell und einladend wirkte der Besucherraum in der Therapeutenpraxis von Dr. | |
Friedensreich Darjahn. In einem angenehmen Drumherum das eigene Drinnen | |
loslassen und anschauen – das war immer Darjahns Motto. Er schaute auf | |
seine Liste: Cornelius Schaffrath war sein erster Klient heute, er kam das | |
erste Mal. Am Telefon hatte Schaffrath durchaus verzweifelt geklungen. | |
Schlafstörungen und Ängste hatte sich Darjahn notiert. | |
Schaffrath war pünktlich. Er sah sich kurz suchend um. „Wo darf ich mich | |
hinlegen?“ | |
Darjahn kannte das: Viele Klienten glaubten, alle Seelenzergliederung | |
geschehe auf einer Couch. „Ach nein, nehmen Sie doch hier Platz.“ Er wies | |
auf einen großen dunkelblauen Sessel. | |
Man ging kurz ein paar biografische Daten durch. | |
Alter: 48, Inhaber eines Sanitärfachgeschäfts, verheiratet, zwei Kinder. | |
„Ihr erstes Mal bei einem Therapeuten wie mir?“ Schaffrath bejahte. | |
„Was beschäftigt Sie denn, Herr Schaffrath? Nur zu.“ | |
„Ja, ähmmm …“ Er zögerte. „Also, ich bin zeitlebens stolzer und | |
begeisterter Autofahrer, und jetzt … Wissen Sie, ich schlafe seit Monaten | |
so schlecht, diese furchtbaren Albträume. Ich komme nicht mehr vorwärts. | |
Ich fahre mit meinem Wagen runter in die Stadt, aber bald neigt sich die | |
Straße umgekehrt, es geht hoch, immer höher. Wo ich doch in den Talkessel | |
will, völlig irre. Ich stecke fest. Das ist doch verrückt.“ Und nach einer | |
kurzen Pause. „Herr Doktor, seien Sie ehrlich: Liegt’s am Gehirn?“ | |
„Natürlich nicht. Mit dem Auto nicht mehr weiterzukommen, das klingt nach | |
Einschränkung der Selbstständigkeit. Das kann schmerzen und verunsichern. | |
Ein Klient berichtete mal, als er mühsam aus seinem Auto ausstieg, hörte er | |
einen ohrenbetäubenden Krach von Fahrradklingeln.“ | |
Schaffrath schreckte hoch. „Genau, genau. Ja, das war bei mir auch. | |
Lachende Radfahrer fuhren an mir vorbei, und alle bimmelten wie verrückt. | |
Die fuhren einfach weiter. Für die schien es keine Berge zu geben.“ | |
„Sehr gut, Herr Schaffrath.“ | |
„Und noch was: Im Autoradio lief dabei Bicycle Race von Queen. Da mag ich | |
ja die Textstelle You say Rolls, I say Royce …, aber das Lied wurde immer | |
lauter, je leiser ich es drehte. Ausschalten ging nicht. Es war der reine | |
Horror. Und immer wieder Glong neben mir, Glong, glock, klingel, srrrrr, – | |
Wahnsinn …“ | |
Beide schwiegen einen Moment. „You say Rolls, I say Royce … – ich hasse es | |
mittlerweile.“ | |
Darjahn ergriff das Wort: „Auto steht für uns, mittlerweile fast schon | |
genetisch, für Fortkommen, für Bewegung. Wenn man glaubt, man würde daran | |
gehindert, fühlt man sich amputiert, behindert, festgesetzt. Das setzt | |
Ängste frei. Und nachts verarbeiten Sie die Ängste.“ | |
Darjahn hatte einen Vorschlag. Schaffrath solle selbst mal mit dem Rad | |
durch Aachen fahren. Radfahren als Therapie, der Störung des Wohlbefindens | |
vorsichtig entgegentreten. Manchmal helfe es, sich den Dingen offensiv zu | |
stellen, das löse Blockaden. Mit der Reizkonfrontation könnte eine | |
Desensibilisierung in Gang gesetzt werden, so seine Hoffnung. | |
Entsetzt hatte ihn Schaffrath angesehen. „Meinen Sie wirklich? Radfahren? | |
Ich? Und wenn mich da jemand sieht!?“ | |
[…] | |
„Und, wie geht es Ihnen?“ Sie sahen sich heute zum dritten Mal. | |
Cornelius Schaffrath berichtete, er habe das Rad seines Sohnes angefasst | |
und in der Garage sogar unbeobachtet ein paar Meter hin- und hergeschoben. | |
Darjahn lobte ihn. | |
„Aber diese Träume!“ Einmal sei eine ganze Kolonne Radfahrer unter seine | |
Bettdecke gestrampelt, alle mit Stacheln, die aus ihren Helmen rauswuchsen; | |
ausgerechnet an dem Wochenende, als er allein zu Hause war. Da habe er | |
mitten in der Nacht laut geschrien, und der Nachbar von gegenüber habe | |
geschellt, ob er Polizei oder Rettungswagen rufen sollten. „Nein, es sind | |
nur diese Radfahrer überall“, habe er gesagt und noch schlaftrunken unter | |
seine Bettdecke gezeigt, „da …, überall, überall, riesige Radfahrer, wie | |
Zombies.“ Der Nachbar sei nur mit Mühe abzuhalten gewesen, das Alexianer zu | |
alarmieren. „Ich bin doch kein Fall für die Klapse, oder?“ | |
Darjahn bemühte sich die Stirn glatt zu halten. Das waren Merkmale von | |
Panikattacken. Aber das Wort wollte er vorsichtshalber für sich behalten. | |
„Wir sehen uns in zwei Wochen, einverstanden?“ | |
Der nächste Klient klingelte, kaum dass Schaffrath gegangen war. Adel | |
Trabelsi stand vor der Tür. Der junge Mann, kaum dreißig, IT-Entwickler, | |
hatte am Telefon etwas von Verfolgungswahn erzählt. | |
Adel Trabelsi klipste seine Reflektor-Hosenklammern ab, zog die Bikerjacke | |
aus, legte seinen Helm neben den Sessel und nahm Platz. Darjahn dachte | |
noch: Ob die Begegnung mit einem leibhaftigen Radfahrer im engen | |
Treppenhaus für den armen Herrn Schaffrath ein Problem war und ihn | |
womöglich zurückwirft nach seinen homöopathischen Fortschritten? Na, | |
hoffentlich nicht. Und: Immerhin mal jemand, der nicht als Erstes nach der | |
Couch fragt. | |
„Oder gibt es hier eine Couch?“ | |
Darjahn nahm die Personendaten auf. „Gut. Was bedrückt Sie? Erzählen Sie | |
mal.“ | |
„Also, wissen Sie, ich bin ja leidenschaftlicher Rennradfahrer. Und ich | |
habe gelernt, mich im Leben zu wehren, wenn Unrecht geschieht und andere | |
rücksichtslos sind.“ | |
„Das ist sicher sehr richtig“, ermunterte ihn Darjahn. | |
„Nun, ich glaube“, er zögerte einen Moment, „ich habe mittlerweile einen | |
Verfolgungswahn.“ | |
Aha, da war dieser Begriff schon wieder. „Wer, glauben Sie denn, verfolgt | |
Sie?“ | |
„Niemand, nein. Ich verfolge. Es ist wie eine Obsession.“ | |
„Wen verfolgen Sie denn?“ | |
„Na, Autofahrer.“ | |
Eine kurze Pause entstand. Darjahn dachte, wenn der als Radfahrer Autos | |
verfolgt, dann hat er aber ganz schön was zu strampeln, auch mit Rennrad. | |
Und bei der Vielzahl von Autos hätte er ohnehin eine Menge zu tun. Denkbar | |
ungünstig. Am Ende ein Fall nicht für den Therapeuten, sondern für den | |
Kardiologen. | |
„Na, Autofahrer gibt es aber ganz schön viele …“ | |
„Das ist es ja. Es gibt Unmengen, die falsch parken. Besonders gern auf | |
Radwegen. Und die zeige ich an, also nicht die Radwege, sondern die | |
Falschparker. Verstehen Sie? Ich fahre ja viel herum, zu Kunden und auch | |
privat. Und permanent steht wieder so ein Auto auf dem Radweg. Das ärgert | |
mich, das nervt mich zunehmend. Und wissen Sie was: Ich bin ja ein | |
routinierter Radfahrer. Aber wer weiß, wer eine halbe Minute hinter mir | |
kommt, vielleicht jemand, der etwas unbedacht nach links zieht. Und wumm. | |
Also schütze ich auch andere.“ | |
Darjahn nickte. Trabelsi erzählte ihm von Meldeportalen wie Stadtpate und | |
Wegeheld. Dass es ganz einfach sei. Foto machen, Daten in die Website-Maske | |
und – absenden. Drittanzeigen heißt das auf Ordnungsamtssprech. | |
„Erst waren es einzelne, aber mittlerweile jage ich sie. Manisch, wie | |
getrieben. Ich bin zum Blockwart geworden. In der tunesischen Wüste sagt | |
man, du kannst ausdauernd wie ein Kamel gegen den ewigen Sand anrennen, | |
aber du wirst ihn nie besiegen. Ich verfolge Falschparker, als wären sie | |
Sandkörner, die man wegschaffen muss. Deshalb sage ich Verfolgungswahn. | |
Habe ich eine Zwangsstörung?“ | |
„Na, lassen Sie mir mal die Fachbegriffe“, insistierte Darjahn. „Nein, das | |
glaube ich nicht. Ihr Vergleich mit dem Sisyphos im Sand ist doch sehr | |
schön.“ | |
Adel Trabelsi sagte, manchmal fahre er nur noch herum, um Autofahrer zu | |
erwischen. „Ich opfere meine Freizeit, fotografiere eine oder zwei Stunden | |
Falschparker. Mein Tagesrekord sind 23.“ | |
Darjahn notierte „Ohnmachtsgefühl‚ Suchttendenzen, Manie und | |
Kontrollverlust“. „Ich verstehe, dass Sie sich bedrängt und gefährdet | |
fühlen. Sie versuchen überaktiv zu kompensieren, um dadurch wieder Zugriff | |
auf die Situation zu bekommen. Gleichzeitig wissen Sie als intelligenter | |
Mensch auch, dass Sie allein das nie schaffen.“ | |
„Ich will da ja rauskommen! Dass das endlich aufhört, diese permanente | |
Rücksichtslosigkeit und – wie sagt man? – ja: Borniertheit. Und | |
gleichzeitig bin ich selbst borniert und selbstgerecht. Das macht mich | |
kirre.“ | |
Darjahn schlug seinem Klienten eine milde Entwöhnungskur vor. Er solle | |
versuchen, ganz bewusst mal einen ganz bestimmten Falschparker Falschparker | |
sein zu lassen. Erstmal wirklich nur einen. Zu wissen, der ist Täter, der | |
macht mir Stress, der nervt – aber ich fahre souverän und gelassen vorbei. | |
„Als wäre er wirklich nichts als ein Sandkorn.“ | |
Als Anker solle er sich ein Lied ausdenken, das er dann vor sich hin pfeift | |
oder singt. „Wollen Sie das mal versuchen? Freuen Sie sich auf das Gefühl | |
der Erleichterung.“ | |
Adel Trabelsi fand die Idee gut und war gegangen. Darjahn fiel auf, dass er | |
den gleichen Satz mit dem Gefühl der Erleichterung heute schon einmal | |
gesagt hatte. Und dachte: Mache ich hier Therapie nach Schema F? | |
Der Radentscheid, dachte Darjahn, so gut und richtig die Idee war, er | |
frustrierte die Menschen zunehmend, weil da etwas lockt, das aber einfach | |
nicht kommt. Wie bei dem Hund, dem man an einem Stöckchen ein Stück Wurst | |
vor der Schnauze baumeln lässt, der er dann hinterherjagt, aber sie einfach | |
nicht einholt. Der Radentscheid wie Tierfolter. | |
Tja, was die Hoffnung um diesen Radentscheid nur mit den Menschen | |
anrichtet. Da geht es doch nur um die Aufteilung von Straßen, um einen | |
kleinen lokalen Baustein von Verkehrswende, um mehr Sicherheit. Und genau | |
diese Aussicht auf mehr Sicherheit verunsicherte die Menschen über alle | |
Maßen. Sicherheit verunsichert, was für ein Paradox. | |
Darjahn sah auf die Straße. Unten fuhr eine Radlerin ganz entspannt | |
Richtung Bismarckstraße. Nicht lange – recht schnittig kam ihr ein Golf | |
entgegen, mittig auf der engen Straße. Lichthupe. Hupe. Und er bremste sie | |
schwarzpädagogisch auch noch aus. Wieso können manche Autofahrer immer noch | |
nicht verstehen, dass Einbahnstraßen wie diese hier nur für Autos welche | |
sind! Und dieses Zweirad war doch nun offensichtlich kein Auto. | |
Seltsam, diese Aggressivität – als wären Radfahrer Aliens. Der Radentscheid | |
hatte alle Stimmung hochgeschaukelt. Vielleicht sollte er einen Fachartikel | |
für Verkehrspsychologie heute schreiben. | |
17 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Bernd Müllender | |
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