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# taz.de -- Reifenspuren im Roman: Die Zukunftsmaschine
> Um 1900 erreicht das Fahrrad erstmals die Literatur. Es war ein Vehikel,
> das mit großen Hoffnungen und Ängsten befrachtet war. So wie heute.
Bild: Das Fahrrad fand seit seiner Erfindung auch den Weg in die Literatur
Fahrradwege führen nicht nur über Asphalt und Schotter, sondern auch durch
Romane. Seit der Erfindung des kettengetriebenen Fahrrads um 1878 lassen
sich auch in der Literatur Reifenspuren finden. In den Anfangstagen des
Rads sind es die mit ihm einhergehende Mobilitätswende und der Weg in die
Freiheit, die Literaten von Leo Tolstoi über Karl Valentin und Arthur Conan
Doyle bis Henry Miller faszinierte. Letzterer gab zu: „Mein Rad ist jetzt
mein einziger Freund geworden. Ich kann auf es vertrauen, was mehr ist, als
ich über meine Kumpels sagen könnte.“ („Mein Fahrrad und andere Freunde�…
Was die Autoren anfangs ziemlich fuchste, waren die zahlreichen Pannen,
Schrammen und Probleme, die sie beim Erlernen der Aufstiegs-, Brems- und
Kurventechnik hatten. Einige von ihnen wie beispielsweise der irische
Satiriker George Bernard Shaw protokollierten die Unfälle minutiös, stiegen
aber trotzdem immer wieder aufs Rad. Der US-amerikanische Autor Mark Twain
notierte in seiner Humoreske „Taming the bike“ („Wie man ein Hochrad
zähmt“, 1886), dass der einzige Weg, dieses verdammt schwierige Deutsch zu
lernen, die Methode sei, mit der man Fahrradfahren lerne: „Greifen Sie nach
einer ihrer Gemeinheiten und lernen Sie diese so lange, bis Sie es wirklich
beherrschen, anstatt das Halbgelernte einfach liegenzulassen und zum
nächsten überzugehen.“
Auch die Satire des englischen Autors Jerome K Jerome „Drei Männer auf
Bummelfahrt“ (1900) verbindet das Fahrrad mit dem Deutschen. Jerome schickt
in seiner Erzählung drei Männer auf dem Fahrrad nach Deutschland und lässt
sie dort über die sonderlichen Eigenschaften der „Teutonen“ staunen und
lachen. Es geht unter anderem auch um eine subtile Form der Konsumkritik.
So sagt einer der Männer: „Es mag ein Land geben, in dem Fahrradsättel aus
Regenbogen gemacht und mit Wolken gepolstert sind; aber wir tun gut daran,
uns mit harten Tatsachen abzufinden“ – und spielt damit offenkundig auf
eine Werbetafel am Wegesrand an.
Auch bei Arthur Conan Doyle gibt es eine Verbindung zwischen Deutschem und
dem Fahrrad. Während Sherlock Holmes „Die einsame Radfahrerin“ (1903) an
ihren von den Pedalen abgewetzen Schuhseiten erkennt, verfolgt er im Moor
der „Internatsschule“ (1904) die Fahrradspuren des Deutschlehrers Mr.
Heidegger.
Dass in den Pionierarbeiten der europäischen, vor allem der englischen
Literaten das Fahrrad und Deutschland so eng verknüpft sind, liegt
jedenfalls nicht daran, dass die Kollegen in Deutschland so viel übers Rad
geschrieben hätten. In der ersten Hochphase des Fahrrads, die mit der
Politisierung des Romans zusammenfällt, ist die Begeisterung in Deutschland
für das Fahrrad als Mittel zur Überwindung von Klassen oder
Ahnungslosigkeit jedenfalls weit weniger verbreitet. Beispielhaft dafür ist
Thomas Manns „Der Weg zum Friedhof“ (1900). Die Novelle handelt von dem
Arbeitslosen Lobgott Piepsam, der auf dem Gehweg von einem kecken Radfahrer
überholt wird und darüber einen cholerischen Tobsuchtsanfall kriegt, der
ihn das Leben kostet.
Ganz anders in der englischen Literatur. Hier ist das Fahrrad Vehikel für
den sozialen Aufstieg. Die drei Männer auf Bummelfahrt etwa stammen aus der
englischen Mittelschicht, die sich dank des Fahrrads Ende des 19.
Jahrhunderts erstmals aus dem Moloch der Stadt aufs Land bewegen kann, was
zuvor nur dem Adel vorbehalten blieb.
Auf diesen Aspekt zielt auch das Bonmot des englischen Autors Jon
Galsworthy, demzufolge das Fahrrad „seit Karl dem Zweiten verantwortlicher
ist für mehr Bewegung in Manieren und Moral als alles andere“. Angeblich
fällte Galsworthy dieses Urteil nach der Lektüre des Romans „Die Räder des
Zufalls“ von H.G. Wells (1895). Wells stellt in seinem Comicroman, der
gleichzeitig Satire und Reflexion über die Funktion und Wirkung von
Literatur ist, das Fahrradfahren als Klassenkampf dar. Hauptfigur ist Mr.
Hoopdriver, Angestellter eines Tuchladens, der zum ersten Mal in den Urlaub
fährt. Mit dem Fahrrad. Die Fahrradkette verschafft ihm die Möglichkeit,
sich von den „Ketten“ seines Angestelltenlebens zu befreien und dank der
Pedalen lernt er unbekannte Land- und Herrschaften kennen: Hoopdriver
trifft auf eine Frau aus einer höheren Klasse. Da die beiden sich auf
Sattelhöhe begegnen, kann er sich als etwas Besseres ausgeben und fühlt
sich befreit. So geht es auch der jungen Frau. Auch sie ist befreit: von
der lästigen Kleidervorschrift des Reifrocks. Sie fährt im „rational
dress“, dem Hosenanzug, wofür sie von Passanten beschimpft wird.
Das Fahrrad wird von H.G. Wells konsequent „machine“ genannt. Also so wie
wir heute motorisierte Flitzer oder Flugzeuge nennen. Von Wells stammt denn
auch der Ausspruch: „Jedes Mal, wenn ich einen Erwachsenen auf einem
Fahrrad sehe, verzweifle ich nicht mehr an der Zukunft der Menschheit.
Fahrradwege wird es in Utopia reichlich geben.“
Im 20. Jahrhundert wird das Verhältnis zur „Maschine“ differenzierter.
„Wenn man es zu weit gedeihen lässt, dann ist das der Anfang vom Ende. Dann
kommen die Fahrräder und verlangen das Wahlrecht, dann bekommen sie Sitze
im Landtag und machen die Straßen noch schlechter, als sie ohnedies schon
sind, um ihre weit gesteckten Ziele zu erreichen.“ Das Zitat stammt aus
Flann O’Briens zu Lebzeiten nicht veröffentlichtem Roman „Der dritte
Polizist“ von 1940. Es geht um Menschen, die „verfahrradeln“ und Fahrräd…
die „vermenscheln“. Es geht um die Übergänge zwischen Wirklichkeit und
Fiktion, um die Ambivalenz der Maschine und die Angleichung des Menschen an
sie. Ein dunkler Humor, eine Luftpumpe als Mordinstrument, aber am Ende
gibt es eine ähnliche Erkenntnis wie die von Henry Miller: „[…] ein gutes
Fahrrad ist ein famoser Kamerad, und es geht ein großer Zauber von ihm
aus.“
17 Oct 2021
## AUTOREN
Doris Akrap
## TAGS
Literatur
Fahrrad
Mobilität
Verkehrswende
Berlin-Pankow
Schwerpunkt Radfahren in Berlin
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