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# taz.de -- Nahrungsmittelversorgung in China: Aufruf zur Mäßigung
> Wegen der Bedrohung durch Extremwetter hat die Lebensmittelsicherheit für
> Chinas Regierung höchste Priorität. Sie ruft zur Mäßigung auf.
Bild: Schlemmen ist in China en vogue – aber die Staatsführung ruft zur Mä�…
Jinan taz Wer „Sinograin“ im ostchinesischen Jinan besuchen möchte, wird
auf keiner Landkarte fündig. Onlinesuchmaschinen verraten die Adresse eines
der größten Getreidespeicher des Landes nicht. Selbst die
Regierungsvertreterin, die den Termin organisiert hat, nennt keinen genauen
Treffpunkt. Stattdessen schickt sie einen Bus, der den Journalistenbesuch
abholt.
Die wie ein Staatsgeheimnis behandelte Anlage, eine der Schaltzentren für
die Ernährungssicherheit des Landes, liegt unscheinbar zwischen
Apartmentsiedlungen in der Provinzhauptstadt Shandongs: Nur ein paar
Arbeiter in blauen Overalls lassen sich hinter den Gitterzäunen ausmachen.
Wer von der Straße aus Fotos von den weißen Silos schießen möchte, in denen
340.000 Tonnen Getreide lagern, wird umgehend von uniformierten
Sicherheitskräften umzingelt.
Die Nahrungsmittelversorgung ist in China eine besonders sensible
Angelegenheit – und eine Frage der nationalen Sicherheit. Schließlich muss
das Land eine Bevölkerung von 1,4 Milliarden ernähren, knapp ein Fünftel
aller Menschen weltweit. Im offiziellen Weißbuch verweist die Regierung in
Peking stolz darauf, dass die Selbstversorgung mit Getreide bei „über 95
Prozent“ liegt. Wie man genau auf diese Zahl kommt, ist weitgehend
intransparent. Das japanische Landesministerium erstellt jährlich
Informationen zur Nahrungsmittelversorgung verschiedener Länder und lässt
China bewusst aus – aufgrund „unzureichender Daten“, wie es in der Zeitung
Nikkei Asia heißt.
## Nahrungsmittelpolitik ist streng geheim
Die [1][Geheimniskrämerei darf nicht verwundern], wenn ein Journalist aus
Deutschland die nationalen Getreidespeicher besuchen möchte. Auch wenn der
Termin bereits vor Wochen geplant war, braucht es eine halbe Stunde
Überzeugungsarbeit, bis Sinograin seine Pforten ein Stück weit öffnet.
Ein paar karge Hallen dürfen die Medienvertreter besichtigten, Gebäude mit
Propagandatafeln der Kommunistischen Partei abfotografieren, kritische
Fragen jedoch keine stellen. Auch die Speicherkammern, in denen
Hunderttausende Sensoren eine stete Raumtemperatur von minus 15 Grad
sicherstellen sollen, bleiben für die Öffentlichkeit unter Verschluss.
Tatsächlich weckt das Thema bei vielen älteren Chinesen traumatische
Erinnerungen. Die Generation 60 plus kennt Hungersnöte und Mangelernährung
nicht nur aus Lehrbüchern und TV-Dokumentationen, sondern aus eigener
Erfahrung.
„Während der großen Hungersnöte kam es zu einer rasanten Inflation. Mit dem
Geld konnte man plötzlich kaum mehr etwas kaufen“, sagt ein Chinese aus der
zentralchinesischen Provinz, der aufgrund des heiklen Gesprächsthemas
unerkannt bleiben soll. Seine Worte wirken wie aus einer [2][weit
entfernten Vergangenheit]: Während der Mann von seiner entbehrungsreichen
Jugend spricht, tischt er am heimischen Wohnungstisch für die ganze Familie
ein Festmahl auf. Es gibt mehrere Fleischgerichte, gebratenen Tofu und
Gemüseteller. Die obligatorischen Reisschüsseln werden ebenfalls
aufgetischt, doch sind nur Beilage.
Früher sei nichts davon im Überfluss vorhanden gewesen, auch der Reis wurde
meist mit einer wässrigen Suppe vermischt. Extreme Hungersnöte habe er
selbst zwar nicht miterleben müssen, doch er kennt sie aus den Erzählungen
der Eltern: „Mao Tse-tung hatte damals verboten, für den Eigenbedarf auf
dem Feld zu arbeiten.“
## 50 Millionen starben durch Hunger
Tatsächlich ließ der Landesvater der Volksrepublik bei seinem „Großen
Sprung nach vorn“ (1958–1961) sämtliche Landwirtschaftsbetriebe
zwangskollektivieren, Bauern zur Errichtung von Infrastrukturprojekten vom
Feld abziehen und ihre Ausrüstung in Minihochöfen zu Stahl schmelzen.
Politisches Ziel war die rasche Industrialisierung des Landes. Stattdessen
führte die Misswirtschaft zur größten Hungerkatastrophe der
Menschheitsgeschichte. Die Schätzungen variieren, doch manche Forscher
gehen von über 50 Millionen Toten aus.
In vielen Schulen und Staatsmedien wird die Tragödie nach wie vor nicht
gelehrt: Auf Baidu Baike, dem chinesischen Pendant zu Wikipedia, wird das
Thema mit zehn kurzen Paragrafen abgehandelt, in denen von einem
„Rückschlag“ auf dem Weg zum Sozialismus die Rede ist. Auch in vielen
Lehrbüchern wird die menschengemachte Katastrophe mit Unwettern und
Missernten erklärt.
Dass die Reflexion der Vergangenheit mit Zensur und staatlicher Repression
unterdrückt wird, hat nur eine Minderheit gestört. Die meisten Chinesen
hatten ihren Blick auf eine verheißungsvolle Zukunft fixiert. In den
letzten Jahrzehnten ist China sehr schnell zur zweitgrößten Volkswirtschaft
der Welt aufgestiegen, hat rund 120 Millionenstädte mit modernen
Hochhäusern errichtet und inmitten des Aufstiegs zu neuem Selbstbewusstsein
gefunden. Hunger ist für die meisten Leute nur mehr ein abstraktes Wort;
wer es sich leisten kann, feiert den neuen Wohlstand mit kulinarischen
Festessen.
Auf den Straßen Pekings gibt es alle paar Meter kleine Nudellokale, noble
Hotpot-Lokale und internationale Fast-Food-Ketten. Auch spätnachts, wenn
die Arbeiter in den Gasthäusern Zigaretten und Bierflaschen auftischen,
fehlen niemals die Essensbeilagen – von grünen Sojabohnen über kalte
Tofu-Scheiben [3][bis hin zu gewürzten Lammspießen]. Firmen-Dinner werden
in Restaurant-Separees abgehalten, bei denen solange neue Speisen
aufgetischt werden, bis die ersten Kollegen regelrecht vom Stuhl fallen.
## Zerstörung von Ackerflächen
Trotz Überfluss ist Nahrungsmittelsicherheit ein zentrales Thema der
Staatsführung: China verfügt über knapp zehn Prozent der globalen
Ackerfläche, muss damit aber über zwanzig Prozent der Weltbevölkerung
ernähren. Um der Herausforderung zu begegnen, verfolgt die Regierung drei
Strategien: Ab 1980 begrenzte sie das Bevölkerungswachstum mit der
Einkindpolitik, später erhöhte sie die Produktivität im Agrarsektor und
zuletzt steigerte sie dank wachsender Devisen die Nahrungsmittelimporte.
Bis heute holt sich die Volksrepublik ein Gros der Sojabohnen und Milch vom
Weltmarkt.
Die derzeitigen Risiken für Chinas Lebensmittelversorgung sind nicht
existenziell, aber im Zuge des wirtschaftlichen Aufstiegs, der auch ein
Raubbau an der Natur war, gingen unzählige Ackerflächen verloren. 2014
ergab eine Studie der Regierung, dass rund 16 Prozent der Landflächen durch
Quecksilber und Arsen kontaminiert wurden. Der Staat hat viele Felder
umgewandelt zu Industrieparks und Wohngegenden, da diese höhere Profite
abwerfen.
Die langfristig größte Bedrohung wurzelt im Klimawandel, der in China immer
öfter zu Extremwettern führt. 2020 wurde der Nordosten von drastischen
Dürren heimgesucht, während die zentralchinesische Provinz in Henan im
Sommer 2021 die stärksten Regenfälle seit Beginn der Wetteraufzeichnungen
hatte. „Die Flut kam zwar erst nach der diesjährigen Getreideernte, aber
dennoch gab es negative Auswirkungen für die Landwirte“, sagt Professor Cao
Yang von der Zhejiang Universität für Land- und Forstwirtschaft. Der
Experte für Ernährungssicherheit empfängt in einem Hotelzimmer in Jinan, wo
eine Konferenz zur Lebensmittelverschwendung stattfindet.
Die Situation in seinem Heimatland stimmt den Experten grundsätzlich
optimistisch, doch er sieht auch die Herausforderungen für die heimische
Landwirtschaft, die Abwanderung der jungen Bevölkerung in die Städte. „Das
wird jedoch keine Probleme mit sich bringen. Dank des technologischen
Fortschritts in China werden wir in der Landwirtschaft eben stärker von der
Technologie denn von menschlicher Arbeitskraft abhängen“, sagt er.
## Droht eine Versorgungskrise?
Dennoch lancierte der Staatschef Xi Jinping im Sommer 2020 eine landesweite
Kampagne, die den verschwenderischen Umgang mit Lebensmitteln anmahnt. Noch
vor wenigen Jahren gehörte es bei Geschäftsessen und Familientreffen zum
guten Ton, ein Vielfaches dessen aufzutischen, was Mägen verdauen können.
Nun werden Restaurantgäste dazu angehalten, weniger Gerichte zu bestellen.
Arbeiter in vielen Firmen müssen gar Strafen zahlen, wenn sie ihre
Kantinenportionen nicht vollständig aufessen. Zudem wurden sämtliche
Live-Streamer, die sich auf Onlineplattformen beim Essen „exzessiver“
Portionen filmen, aus dem Netz verbannt. „Fördern Sie ein soziales Umfeld,
in dem Verschwendung beschämend und Sparsamkeit lobenswert ist“, lautete
die offizielle Direktive.
Unter Experten schrillten damals die Alarmglocken auf. „Eine Kampagne gegen
Lebensmittelverschwendung mag nichts Neues sein. Dass der mächtigste Mann
des Landes persönlich dazu aufruft, zeigt, dass China eine Versorgungskrise
drohen könnte“, sagte Valarie Tan von der Berliner Denkfabrik Merics:
„Ernährungssicherheit hat für die Kommunistische Partei Priorität.“
13 Oct 2021
## LINKS
[1] /Zensur-im-chinesischen-TV/!5795697
[2] /Rolle-von-Konfuzius-in-China/!5800232
[3] /Fleischhaltige-Ernaehrung/!5677417
## AUTOREN
Fabian Kretschmer
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