# taz.de -- Leihfahrräder in China: Aufstieg, Fall und Comeback | |
> Shared Bikes setzten sich in keinem Land der Welt so stark durch wie in | |
> China. Nach der Goldgräberstimmung folgte der Kater, nun boomen sie | |
> wieder. | |
Bild: Entsorgungsfrage ungelöst: Leihfahrräder in Shenzhen, China | |
Peking taz | Wer einmal Luftaufnahmen von chinesischen „Fahrradfriedhöfen“ | |
gesehen hat, wird die spektakulären Bilder nicht so schnell vergessen: | |
Hunderttausende Leihräder, aufgereiht nach den knalligen Farben der | |
Betreiberfirmen, türmten sich auf den Brachflächen der Stadtränder. Viele | |
der dystopisch anmutenden Müllhalden entstanden vor drei Jahren, als Ofo, | |
einer der damaligen Marktführer, aufgrund von Schulden bankrott ging. Erst | |
expandierten sie wie wild, dann gingen viele Firmen in die Knie. | |
[1][Unpassend für das Image], das die Branche eigentlich verkörpern will: | |
grüne, nachhaltige Mobilität. | |
Auch wenn mit dem Konzept von Leihrädern weltweit experimentiert wurde, | |
zündete die Idee nirgendwo so rasant wie in China. Der Grund: Viele haben | |
hier ein Smartphone, dank des innovativen digitalen Schlosses brauchte es | |
ab sofort keine Parkstationen für Räder mehr, die stattdessen frei im | |
Stadtgebiet abgestellt werden konnten. | |
Für Minibeträge konnten Nutzer nun erstmals Bikes mit integriertem QR-Code | |
via Smartphone-App entsperren. Das Geschäftsmodell der Anbieter beruhte auf | |
der riesigen Datenmenge, die sie in Echtzeit generieren können. Zwei „early | |
adopters“, [2][Mobike] und Ofo, erreichten schon bald den sogenannten | |
Unicorn-Status: Damit bezeichnet man Start-ups, deren Marktwert auf über 1 | |
Milliarde Dollar geschätzt wird. | |
Vor etwa sechs Jahren begann der Boom, die Leihräder revolutionierten | |
Chinas Städte geradezu – oder, genauer ausgedrückt, führten sie zu ihrem | |
Ursprung zurück. Denn seit Gründung der Volksrepublik war China stets das | |
Synonym für belebten Radverkehr auf den Straßen. Noch im Jahr 1980 radelten | |
laut Regierung fast zwei Drittel aller Berufspendler zur Arbeit. Vor fünf | |
Jahren hingegen waren es nicht einmal mehr 12 Prozent. | |
## Liebesaffäre der Nation mit dem Fahrrad | |
Mit dem neuen Wohlstand und der boomenden Autoindustrie verstopften die | |
Straßen und die Luftverschmutzung in Chinas Innenstädten war bisweilen | |
apokalyptisch. Dementsprechend priesen damals Staatsmedien wie etwa China | |
Daily den Versuch der Tech-Start-ups, „die Liebesaffäre der Nation mit dem | |
Fahrrad neu zu beleben“. | |
Und das gelang zunächst bestens: „Wir wollen die Probleme lösen, indem wir | |
die Fahrräder zurück auf die Straßen bringen“, sagte der damals 25-jährige | |
Li Zekun, Marketingleiter von Ofo, großspurig in einem [3][Interview mit | |
dem Guardian] im Jahr 2016. Schon der Name war Programm: Wenn man sich Ofo | |
optisch anschaut, ähnelt es einem Zweirad. | |
Investorengelder flossen in Milliardenhöhe in die Branche, vor allem | |
angetrieben durch die chinesischen Internetriesen Tencent, Alibaba und | |
Didi. Und auch die Nutzer nahmen die Raddienstleistungen dankend an. | |
## 23 Millionen Leihräder | |
Doch die Behörden in Chinas Städten begingen dann gleich mehrere Fehler: Es | |
gab keinen Masterplan oder sonstige Regeln, die Leihräder in das | |
öffentliche Transportsystem einzugliedern. Stattdessen zog es nun immer | |
mehr Nachahmer auf den Markt, die auf schnelle Profite hofften. Ein | |
ungebremster Boom war die Folge: Im harten Konkurrenzkampf setzten die | |
großen Unternehmen auf aggressives Preisdumping, um die Mitbewerber | |
auszubremsen. Doch trotz der auf mittlerweile 23 Millionen Stück | |
angewachsenen Leihradflotte machte kein einziger Anbieter wirklich | |
nachhaltig Gewinne. | |
Die Ausmaße des Überangebots waren in keiner chinesischen Großstadt zu | |
übersehen: Trottoirs an belebten Straßen und U-Bahn-Eingänge waren fast | |
durchgängig mit Leihrädern gepflastert, Spaziergänge wurden zu urbanen | |
Slaloms. | |
Zudem verrosteten viele Räder: Nicht selten parken Chinesen nämlich ihr | |
Shared Bike an Autobahnleitplanken, hinter Gebüschen oder in Parkanlagen. | |
Während der Covid-Lockdowns, als praktisch sämtliche Pekinger Wohnanlagen | |
abgeriegelt waren, nutzten einige Nachbarschaftskomitees die Fahrradketten | |
als Gitterabsperrung. Bei Flusssäuberungsaktionen finden sich zudem | |
regelmäßig Tausende Räder, die einfach ins Gewässer geworfen wurden. | |
Der Goldgräberstimmung folgte unweigerlich der Kater: Die Blase platzte, | |
mindestens 60 Leihradanbieter gingen in den vergangenen vier Jahren in | |
China bankrott. Es traf dabei auch die drei einstigen Marktriesen [4][Ofo], | |
Mobike und Bluegogo. Die Aufräumarbeiten blieben schließlich an den | |
Kommunen hängen. | |
## Solarzellen und Lithiumbatterien | |
Allein die Firma Xiaoming Bike überließ über 400.000 Räder nach ihrer | |
Pleite sich selbst. Laut der [5][South China Morning Post] mussten bislang | |
insgesamt rund 25 Millionen Räder recycelt werden. Dies ist aufgrund der | |
teils integrierten Solarzellen und Lithiumbatterien ein aufwendiger | |
Prozess. | |
Zwar haben einige Konzerne mittlerweile Wiederverwertungskonzepte | |
entwickelt, bei denen etwa alte Reifen für Tartanbahnen in Schulen benutzt | |
werden. Doch die meisten Räder wurden nicht recycelt. Ob sich Leihräder aus | |
ökologischer Sicht lohnen, ist also nicht eindeutig zu beantworten. Laut | |
einer aktuellen Studie chinesischer Forscher sparen die Räder erst nach | |
einer zweijährigen Nutzungsdauer CO2-Emissionen. | |
Als die Branche sich gesundschrumpfte, sorgte ausgerechnet die | |
Coronapandemie für erneutes Wachstum. Denn inmitten der Lockdowns nutzten | |
Chinesen die Leihräder so intensiv wie nie zuvor – aus Angst vor Ansteckung | |
in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Zusätzlich wurde der Trend durch die | |
erstmals seit Jahren leeren Straßen in den Metropolen Schanghai und Peking | |
befeuert. | |
Es scheint, als ob Industrie und Behörden aus den Fehlern der Vergangenheit | |
gelernt haben. Zum einen haben viele Stadtregierungen inzwischen den | |
Wildwuchs beim Abstellen mit neuen Regeln eingedämmt. So dürfen die Räder | |
in bestimmten Gegenden nur noch in markierten Zonen geparkt werden, um die | |
Gehwege freizuhalten. Gleichzeitig kündigte zum Beispiel Peking an, noch | |
dieses Jahr mindestens 44.000 der insgesamt über 800.000 Räder aus dem | |
Stadtzentrum zu entfernen. | |
## Exakte Nutzungsanalysen | |
Vor allem aber setzen die übrig gebliebenen Leihradanbieter inzwischen | |
verstärkt auf technologische Lösungen, um ihre Dienstleistungen zu | |
optimieren. Mithilfe von künstlicher Intelligenz und Big Data stellen sie | |
inzwischen exakte Nutzungsanalysen an, um genau zu identifizieren, in | |
welchen Gegenden durchschnittlich wie viele Leihräder gebraucht werden. | |
Die Analysen ergaben so, dass seit Ausbruch der Pandemie Leihräder immer | |
öfter für längere Fahrten benutzt werden, anstatt wie sonst üblich nur zur | |
nächsten U-Bahn-Station. Die Firmen reagierten darauf, indem sie nun | |
zusätzlich Elektroscooter vermieten. | |
Bislang hält sich das Angebot noch im Rahmen. Doch Kritiker befürchten, | |
dass möglicherweise schon bald an chinesischen Außenbezirken auch | |
„E-Scooter-Friedhöfe“ entstehen. | |
29 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /E-Scooter-Boom-in-Berlin/!5518307 | |
[2] /Flut-von-Leihraedern-in-Berlin/!5502523 | |
[3] https://www.theguardian.com/world/2016/dec/28/bike-sharing-revolution-aims-… | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Ofo_(Fahrradverleihsystem) | |
[5] https://www.scmp.com/business/china-business/article/3103908/what-happens-d… | |
## AUTOREN | |
Fabian Kretschmer | |
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