# taz.de -- Hotel als Notunterkunft für Flutopfer: Leben im Dazwischen | |
> Heimerzheim wurde schwer von der Flut getroffen. Im Hotel Weidenbrück | |
> fanden jene Zuflucht, deren Häuser bis heute unbewohnbar sind. Ein | |
> Besuch. | |
HEIMERZHEIM taz | Vorübergehend geschlossen. Das verrät einem seit gut zwei | |
Monaten der in Öffnungsfragen recht zuverlässige Dienst Google Maps, wenn | |
man ihn nach dem „Landidyll Hotel Weidenbrück“ befragt. Und dennoch | |
schlurfen hier, im Nachtigallenweg in Heimerzheim, an einem Dienstagmorgen | |
Mitte September die Frühaufsteher:innen hungrig zum Frühstücksbuffet, | |
Kaffeevollautomaten surren pflichtbewusst vor sich hin, und | |
Hotelmitarbeiter:innen räumen Besteck, Geschirr und Krümel ab. | |
Ein Fehler auf Google Maps? Es ist komplizierter: Denn sowenig man | |
behaupten kann, dass das Hotel Weidenbrück derzeit geschlossen sei, so | |
wenig kann man behaupten, es sei geöffnet. | |
Der Ort, in dem das Hotel Weidenbrück steht, hat 6.600 Einwohner:innen, | |
gehört zur Gemeinde Swisttal und liegt etwa 15 Kilometer westlich von Bonn. | |
Vor zwei Monaten [1][berichtete die taz schon einmal aus Heimerzheim], | |
wenige Tage nachdem der Dorfkern vollständig zerstört worden war von der | |
Flut, die der Bach Swist in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli durch die | |
Straßen trug. | |
Mehr als 180 Menschen sind während [2][der Hochwasserkatastrophe im Sommer | |
in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz] ums Leben gekommen. Tausende | |
weitere verloren ihr Haus oder ihre Wohnung, sie kamen zunächst bei | |
Freund:innen oder Verwandten unter, große Hotelketten stellten für einige | |
Tage kostenfrei Zimmer zur Verfügung. | |
Von denjenigen, deren Zuhause heute noch immer unbewohnbar ist, haben die | |
meisten zumindest mittelfristig eine Bleibe gefunden, in einer | |
Ersatzwohnung oder weil sie Bekannte oder Familie mit genügend Wohnraum | |
haben. Doch es gibt auch jene, die immer noch warten, auf eine neue Wohnung | |
oder darauf, dass ihr altes Zuhause wieder bewohnbar ist. | |
Und so kommt es, dass mehr als zwei Monate nach der Flut immer noch | |
Menschen in Hotels leben – wie im Hotel Weidenbrück in Heimerzheim. 35 | |
Flutbetroffene finden derzeit hier eine Unterkunft. Dazu kommen einige | |
Helfer:innen – zunächst freiwillige, jetzt zunehmend professionelle – | |
sowie die Hotelmitarbeiter:innen. | |
Nach der Flut glich Heimerzheim einem Wimmelbild aus Zerstörung und | |
Aufräumarbeiten, aus Schock und Hilfsbereitschaft. Laut und chaotisch war | |
es hier wenige Tage nach der Katastrophe. Nun ist es leise geworden. Den | |
gröbsten Schutt haben die Bewohner:innen beseitigt, doch wird der Ort | |
Narben behalten. Mauern und Brücken sind kaputt, der Dorfkern ist derzeit | |
so gut wie unbewohnt, die Erdgeschosse der Häuser sind fast alle bis auf | |
den Rohbau abgetragen. Und doch kann, wer durch Heimerzheim läuft, sich | |
vorstellen, wie idyllisch es hier mal war – und vielleicht wieder wird. | |
Der Ort ist ein beliebter Rastpunkt für Wander:innen und | |
Radfahrer:innen auf der rheinischen Apfelroute. Die Eifel ist nur | |
wenige Kilometer entfernt. Heimerzheim ist nah genug an Bonn und Köln, um | |
Geschäftsreisende anzulocken, und abgeschieden genug, um Urlauber:innen | |
Ruhe zu gönnen. | |
Jetzt sind hier so viele Heimerzheimer:innen untergebracht wie nie | |
zuvor. Wie lebt es sich als unfreiwilliger Dauergast in einem Hotel? Und | |
vor allem: Wie geht es den Menschen hier, seit die Kameras und mit ihnen | |
die Aufmerksamkeit weitergezogen sind? | |
„Mal so, mal so“, sagt Dieter Schneider – sowohl auf die eine als auch auf | |
die andere Frage. „Manchmal ist man in Aufbruchstimmung, aber man kommt | |
auch schon mal wieder in ein Tief hinein.“ Unter grauen, tief hängenden | |
Wolken, aus denen man jeden Moment Regen erwartet, sitzt Schneider auf der | |
Terrasse, die sich an das Hotelrestaurant schmiegt, trinkt Kaffee, raucht | |
eine Zigarette. | |
Luftlinie liegt das Hotel etwa 100 Meter weit entfernt von der Swist: das | |
weiße, verwinkelte Haupthaus mit Spitzdach, in dem sich auch das | |
Hotelrestaurant befindet, links davon ein flacher Verbindungsbau, der als | |
Lobby und Rezeption dient, und schließlich ein vierstöckiger, | |
kastenförmigen Anbau, in dem ein Großteil der insgesamt 41 Gästezimmer | |
liegt. Schneider, Jahrgang 1961, Zimmer 302, ist zusammen mit seiner | |
Lebensgefährtin erst seit Kurzem hier. Die ersten vier Wochen sind sie bei | |
seiner Schwägerin untergekommen, bis es dort zu eng wurde, dann waren sie | |
einige Wochen in einem Hotel in Bonn. Seit anderthalb Wochen sind sie nun | |
zurück in Heimerzheim. Die Kosten für das Zimmer zahlt zum größten Teil | |
ihre Versicherung. | |
„Manche Freunde sagen zu mir: Du wohnst in einem Hotel, ist doch toll“, | |
erzählt Schneider und schüttelt den Kopf. Natürlich sei er dankbar. „Aber | |
man lebt praktisch aus dem Koffer“, sagt er. Zermürbend sei das. Er streite | |
sich mit seiner Lebensgefährtin jetzt öfter über Kleinigkeiten, über die | |
sie früher hinweggegangen wären. | |
„Man hat viel Zeit, um nachzudenken“, sagt er. Seine Lebensgefährtin | |
pendelt unter der Woche nach Bonn zum Arbeiten. Schneider selbst ist im | |
Vorruhestand. Fast jeden Tag schaut er bei den Aufbauarbeiten an seinem | |
Haus vorbei – es gehe nur langsam voran, sagt er. Er laufe viel durch den | |
Ort, treffe sich außerhalb des Hotels mit Freunden zum Kaffeetrinken, | |
verbringe Zeit mit seiner Enkelin. „Man ist hier und kann nicht viel | |
machen“, sagt Schneider. | |
Geduld ist derzeit eine der Haupttugenden in Heimerzheim. Während die | |
Menschen kurz nach der Flut gar nicht wussten, wo sie zuerst anpacken | |
sollten, heißt es nun vor allem: warten. Auf Bautrockner, Gutachter, | |
Handwerker, auf Geld von Versicherungen oder auf neue Möbel. Und nicht | |
zuletzt: warten darauf, dass Stück für Stück so etwas wie Normalität | |
zurückkehrt. | |
Dieter Schneiders aktuelle Normalität sieht so aus: ein knapp 30 | |
Quadratmeter großer Raum; ein schmaler Gang, links das fensterlose | |
Badezimmer mit Stehdusche; Schrank, Schreibtisch und Doppelbett sind aus | |
hellem Holz, die Bettwäsche ist, na klar, weiß. Außerdem: ein Balkon zum | |
Luftschnappen und Rauchen. Schneider verbringt so wenig Zeit wie möglich | |
hier. „Den ganzen Tag Fernsehen gucken kann man ja auch nicht“, sagt er. | |
Dann verabschiedet er sich, er müsse noch eine Besorgung für seine Enkelin | |
machen. | |
Nicht viele Gäste im Hotel Weidenbrück fühlen sich in der Lage, über das | |
Erlebte und das Leben im Hotel zu reden. Zu anstrengend ist der Alltag | |
ohnehin schon, zu tief sitzt der Schmerz. Eine junge Familie mit Säugling | |
winkt ab. Eine ältere Frau sagt, sie würde gerne reden, aber sie könne | |
einfach nicht. „So viel Leid“, sagt sie. „So viel Leid.“ | |
Es hat sich eine Schwere, eine Sprachlosigkeit breitgemacht im Hotel. Jede | |
und jeder hat Ähnliches erlebt, jede und jeder mit ähnlichen Problemen zu | |
kämpfen. Abgesehen vom Frühstück und der Putzkolonne, die täglich ihre | |
Wägen durch die mit rotem Teppich ausgelegten Stockwerke schiebt, erinnert | |
wenig an einen normalen Hotelbetrieb. Die Gäste gehen nach dem Frühstück | |
arbeiten, begutachten die Aufbauarbeiten und verschwinden abends wieder auf | |
ihren Zimmern. Lobby und Rezeption sind meistens verwaist, An- und Abreisen | |
gibt es kaum. | |
Und trotzdem gibt es für Elisabeth Weidenbrück derzeit wohl mehr zu tun als | |
je zuvor. Die 41-Jährige, eine zierliche Frau mit fester Stimme, hat 2018 | |
die Leitung des Hotels von ihren Eltern übernommen, hat es renoviert und zu | |
einem Vier-Sterne-Haus ausgebaut. Das Geschäft lief nach der dritten | |
Coronawelle gerade wieder an, jetzt aber hat das Hotel seit zwei Monaten | |
wieder offiziell geschlossen – und betreut doch Tag und Nacht Gäste. | |
Elisabeth Weidenbrück schlägt wie Dieter Schneider ein Gespräch auf der | |
Hotelterrasse vor. Der drohende Regen bleibt aus. Ein Tisch ist extra | |
eingedeckt, weiße Tischdecke, eine kleine Pflanze, Kaffee, Wasser. | |
Weidenbrück kommt zwanzig Minuten zu spät. Ihr Tagesablauf lasse sich | |
derzeit nur ungefähr planen, entschuldigt sie sich. Auch ihr Wohnhaus, das | |
man von der Terrasse aus sehen kann, wurde überschwemmt. Zusammen mit ihrem | |
Mann und ihren zwei kleinen Kindern ist Weidenbrück zurzeit Gast in ihrem | |
eigenen Hotel. | |
„Man funktioniert irgendwie, aber man kommt auch an seine Grenzen. Das ist | |
einfach so“, sagt sie auf die Frage, die hier am Anfang jedes Gespräches | |
steht: Wie geht es Ihnen? Sie versuche am Sonntag nicht zu arbeiten, sagt | |
Weidenbrück. „Aber es ist natürlich so: Wenn man so viele Betroffene | |
untergebracht hat, dann hat man eigentlich nie frei. Dann ist man immer | |
erreichbar. Es gehört eben sehr viel mehr Menschlichkeit dazu als im | |
normalen Hotelbetrieb.“ | |
Zugleich macht sie klar: Zu sehr dürfe man das alles nicht an sich | |
heranlassen. „Irgendwann weiß man auch gar nicht mehr, was man sagen soll. | |
Wir sind Hoteliers und keine ausgebildeten Psychiater.“ Ab und zu komme die | |
evangelische Pfarrerin oder der katholische Pfarrer zum Frühstück, um den | |
Menschen ein wenig Beistand zu leisten. | |
„Es gibt sehr viel Solidarität, aber die Menschen kommen psychisch an ihre | |
Grenzen. Viele wohnen zu zweit auf weniger als dreißig Quadratmetern, und | |
das seit zwei Monaten. Diese Enge belastet“, sagt Weidenbrück. Auch für ihr | |
Team sei es keine einfache Situation. Darüber hinaus weicht der Schock bei | |
vielen langsam einer Erkenntnis: Es wird noch Monate dauern, bis sie nach | |
Hause dürfen – wenn sie überhaupt zurückkehren können. | |
Dass Elisabeth Weidenbrück derzeit kein Hotel, sondern eine Dauerunterkunft | |
leiten muss, kratzt auch an ihrer Berufsehre. Ihren Job in normalen Zeiten | |
beschreibt sie so: „Die Menschen freuen sich, hierher zu kommen. Wir sorgen | |
im besten Fall dafür, dass sie noch glücklicher sind, wenn sie wieder | |
abreisen.“ Eine Aufgabe, die derzeit unmöglich zu erfüllen ist. „Wir kön… | |
die Menschen nicht glücklich machen“, sagt sie, „womit auch?“ Dann entde… | |
Weidenbrück einen kleinen Schlammfleck an ihrem Stuhl, der offensichtlich | |
von der Flut stammt und übersehen wurde. „Hier ist Schlamm“, murmelt sie, | |
mehr zu sich selbst. Und ganz kurz scheint es, als verliere sie die | |
Fassung. | |
Dem Hotel Weidenbrück fehlen derzeit nicht nur Urlaubsgäste, es blieb auch | |
selbst nicht von der Flut verschont. Ein Rundgang macht das Ausmaß der | |
Zerstörung deutlich. Vor dem Haus stehen immer noch drei große | |
Bauschuttcontainer. Um ins Erdgeschoss zu gelangen, muss man sich durch | |
eine Plastikplane zwängen. Drei Gästezimmer hat das Wasser hier zerstört. | |
Dazu den Tagungsraum, den Fitnessraum und die Sauna. Der Putz ist von den | |
Wänden, der Estrich gibt den Blick auf beigerötliche Gemäuer frei. Das | |
Erdgeschoss wirkt wie eine Ruine. | |
Noch schlimmer ist für Elisabeth Weidenbrück jedoch der Verlust der | |
Infrastruktur des Hotels. Das gesamte IT-System, Telefon, der Fahrstuhl, | |
das hoteleigene Blockheizkraftwerk und die Zentralkühlung funktionieren | |
nicht beziehungsweise sind komplett zerstört worden. Selbst wenn es derzeit | |
normale Urlaubsgäste in Heimerzheim gäbe: Weidenbrück könnte sie kaum | |
empfangen, denn mehr als ein Zimmer und ein Frühstück kann sie nicht | |
anbieten. | |
Auf der Website des Hotels steht zwar, dass Stammgäste willkommen seien, | |
aber bisher sei nur einer gekommen, der geschäftlich in der Region | |
unterwegs war, sagt Elisabeth Weidenbrück. Den Plan, das Hotel am 15. | |
November wieder für alle zu öffnen, musste sie verwerfen: „In diesem Jahr | |
wird das mit der Öffnung nichts mehr.“ Sie und ihre Partner arbeiteten auf | |
Hochtouren, aber sie seien nun mal abhängig von Gewerken und Lieferanten. | |
Am katholischen Gemeindezentrum mitten in Heimerzheim hat die Gemeinde | |
Swisttal einen Infopoint eingerichtet. Auf dem kleinen Rasenstück zwischen | |
Gemeindehaus und Kirche wurde ein Gedenkbaum für die Opfer und Betroffenen | |
der Flut gepflanzt. Neben aktuellen Informationen gibt es hier mittags | |
kostenfreies Essen, auch für die Gäste des Hotels Weidenbrück. | |
Elisabeth Weidenbrück kommt auch manchmal hierher, um sich mit anderen | |
auszutauschen. An diesem Dienstag Mitte September machen zwei Mitarbeiter | |
der Telekom hier ihre Mittagspause. Die beiden sind sehr gefragt, noch | |
immer haben viele Häuser in Heimerzheim weder Telefon- noch | |
Internetanschluss. | |
Als Weidenbrück die beiden zu fassen kriegt, verweist sie auf ihr Problem: | |
„Meine Gäste müssen mit Handwerkern, Gutachtern und Versicherungsvertretern | |
mailen. Die brauchen Internet.“ Außerdem würde man ab Freitag Anträge für | |
die Bundeshilfen stellen können. „Das geht aber erst mal nur online.“ Ob | |
man daher nicht „bitte, bitte, bitte“ kurzfristig einen Hotspot im Hotel | |
errichten könne? Die Telekom-Mitarbeiter wiegeln ab. | |
Auf einer Bierbank vor dem Gemeindehaus sitzt ein älteres Pärchen und | |
löffelt Hühnersuppe aus Plastikschalen. Es erzählt von der Nacht der Flut. | |
„Das war dramatisch“, sagt der Mann. „Wir wurden mit einem Rettungsboot | |
mitten in der Nacht aus dem Obergeschoss unseres Hauses geholt. Eine Tasche | |
konnten wir gerade noch so zusammenpacken.“ Als sie wieder festen Grund | |
unter sich hatten, sind sie zum Hotel Weidenbrück gelaufen und dort in | |
einem der letzten freien Zimmer untergekommen. „Wir waren insgesamt drei | |
Nächte da. Dann sind wir über eine Bekannte an eine Wohnung in Bonn | |
gekommen.“ | |
Ähnlich erzählt es am nächsten Morgen Marlene Overkamp im Frühstücksraum �… | |
auch sie und ihr Mann haben noch in der Nacht der Flut Zuflucht im Hotel | |
gesucht. Das Wasser stand noch nicht allzu hoch, sie konnten rüberlaufen. | |
„Eigentlich wollten wir mit dem Auto fahren, aber da ließ sich das | |
Garagentor schon nicht mehr öffnen“, sagt Overkamp. Das Auto sei nun | |
natürlich hinüber – wie so viele Dinge aus ihrem langen Leben in | |
Heimerzheim. | |
Overkamp, eine stolze Frau von 73 Jahren, die Haare perfekt frisiert, um | |
den Hals eine Perlenkette, hat in ihrem Leben noch nie zur Miete gewohnt. | |
50 Jahre wohnten sie und ihr Mann in einem Bungalow mit Garten, direkt an | |
der Swist. Jetzt leben sie in Zimmer 102. | |
Sachen für ein, zwei Tage hätten sie in der Flutnacht gepackt. Nun leben | |
sie auf den Tag genau seit zwei Monaten hier. „Wir wissen noch nicht, ob | |
wir jemals zurückkehren können in unser Haus“, sagt Marlene Overkamp. Sie | |
macht eine kurze Pause. „Wir haben Dinge verloren, die uns sehr wichtig | |
waren“, sie wendet sich ab, um sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. | |
„Nachdem das Wasser weg war, habe ich mich drei Tage nicht getraut, | |
nachzugucken, wie es dort aussieht“, sagt Overkamp. „Ich war nervlich so | |
fertig, ich konnte da nicht rein.“ Ihre Tochter habe gerettet, was zu | |
retten war, immerhin: das gute Porzellan. | |
Wie Dieter Schneider macht auch den Overkamps die Enge zu schaffen. „Ich | |
habe immer viel Zeit im Garten verbracht“, sagt Marlene Overkamp. „Jetzt | |
geht das Leben so an einem vorbei. Man stumpft total ab. Nur Fernsehen | |
gucken den ganzen Tag geht auch nicht“, sagt sie, als würde sie Schneider | |
zitieren. | |
Zwischendurch musste Overkamp für ein paar Tage ins Krankenhaus. „Da freut | |
man sich eigentlich, wieder nach Hause zu kommen.“ Stattdessen: Zimmer 102. | |
Auch Overkamp betont, dass sie dankbar sei. Und dennoch fühle es sich | |
manchmal an, wie in einem „gehobenen Gefängnis“ zu wohnen, sagt sie. Ihr | |
Balkon geht nach hinten raus, zum kleinen Hang, an dem das Hotel liegt. | |
Dunkel sei es, sagt Overkamp, aber besser als im dritten Stock, wo sie die | |
ersten Tage wohnten – ohne Fahrstuhl. | |
Eine neue Wohnung im Nachbarort haben die Overkamps bereits gefunden. | |
Gerade sind sie dabei, sich Möbel zu organisieren, das strukturiert den | |
Tag. „Mindestens drei Wochen müssen wir noch hier bleiben, dann kommt das | |
neue Bett“, sagt sie. | |
Während der Monate im Hotel hatten die Overkamps und die anderen Gäste | |
genug Zeit, um sich kennenzulernen. Gerade am Anfang habe hier zwar jeder | |
mit sich selbst zu tun gehabt, sagt Marlene Overkamp, mittlerweile kenne | |
man aber den ein oder anderen vom Frühstück. Das Reden, und seien es nur | |
ein paar freundliche Worte am Morgen, helfe. Mit einer Familie hätten sie | |
sich sogar angefreundet in den ersten Wochen, erzählt Overkamp – doch die | |
seien schließlich zurück in ihre Heimat nach Thüringen gezogen. | |
Da es im Hotelrestaurant kein Essen gibt und sie auch auf dem Zimmer nicht | |
kochen können, fahren die Overkamps abends oft in die Nachbarorte zum | |
Essen. Wenn sie zurückkehren nach Heimerzheim, setze ihr Mann an der | |
Kreuzung zwischen Hotel und ihrem alten Bungalow manchmal den Blinker | |
falsch, erzählt Marlene Overkamp. „Da wohnen wir nicht mehr“, sage sie dann | |
zu ihm. | |
Das Hotel Weidenbrück kennt Overkamp von seiner ersten Stunde an. Die | |
Großeltern von Elisabeth Weidenbrück haben es 1966 als Gaststätte | |
gegründet, drei Jahre später kamen erste Gästezimmer hinzu. „Das Restaurant | |
war bekannt für sein Schnitzel und die großen Portionen.“ | |
Als Elisabeth Weidenbrück 2018 ins Geschäft einsteigt, setzt sie vor allem | |
auf Nachhaltigkeit: Ladesäulen für E-Autos, ein eigenes Blockheizkraftwerk, | |
Lebensmittel aus der Region. 2019 dann die Kernsanierung. Fitnessraum, | |
Sauna, Tagungsraum, die Restaurant-Terrasse – alles wird neu gemacht. Im | |
Frühjahr 2020 ist die Sanierung abgeschlossen. „Na ja“, sagt Weidenbrück, | |
als müsse sie nicht aussprechen, was dann geschah. | |
Jeden Tag gegen halb sieben isst Weidenbrück mit ihren zwei Kindern, ihrer | |
Tante und ihrer Schwiegermutter im Hotelrestaurant zu Abend, ihr Mann | |
arbeitet meistens noch. Die Szene wirkt bizarr: Da sitzen fünf Menschen | |
alleine in der Mitte eines großen leeren Raumes und essen Nudeln mit | |
Pilzsauce, zubereitet von der Küchenchefin eines Vier-Sterne-Hotels. Denn | |
weil die Zentralkühlung ausgefallen ist, bleiben Weidenbrück derzeit zwei | |
Kühlschränke. Ein privater für ihre Familie, der andere für das | |
Frühstücksbuffet. Ihre Mitarbeiter:innen wollte Weidenbrück nach | |
Corona nicht schon wieder in Kurzarbeit schicken, daher kocht die | |
Küchenchefin nun eben für fünf statt für hundert Gäste. | |
Finanziell sei das glücklicherweise machbar, sagt Elisabeth Weidenbrück. | |
Die Coronazeit hätten sie durch die Hilfen und einige wenige | |
Geschäftskund:innen relativ gut überstanden. Aktuell verlange sie für | |
die Zimmer einen reduzierten Preis, für ein Doppelzimmer etwa 80 Euro. Für | |
die Betroffenen ohne Versicherung gebe es ein Härtefallkonto, so | |
Weidenbrück. „Da finden wir dann individuelle Lösungen.“ | |
Die Flut ist für Weidenbrück ohne Zweifel Folge des menschengemachten | |
Klimawandels. Und sie ist sicher, dass es nicht die letzte bleiben wird. | |
„Wir werden hier alles überdenken, auch was die Raum- und Zimmernutzung | |
angeht“, sagt Weidenbrück. „Sicherheit muss oberste Priorität haben.“ B… | |
Wiederaufbau unterstütze sie unter anderem eine Fachfirma für baulichen | |
Wasserschutz. | |
Am Hotelgeschäft selbst zweifelt Weidenbrück jedoch nicht, auch nicht nach | |
Pandemie und Flut. „Wir sind seit 55 Jahren hier. Auch eine Flut wird nicht | |
zerstören, was wir uns aufgebaut haben.“ | |
3 Oct 2021 | |
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