# taz.de -- Themen vor der Bundestagswahl: Die Qual der Klimawahl | |
> Obwohl das Thema Klima viel Aufmerksamkeit bekommt, wird es die Wahl wohl | |
> nicht entscheiden. Was ist da schiefgegangen? | |
Bild: Wochen nach dem Hochwasser ist die Zerstörung im Ahrtal immer noch groß | |
Aus Ahrweiler, Bad Saulgau, Berlin, Bremen und Köln | |
Am Freitag in Berlin ist die Stimmung noch einmal so, wie sich das | |
Klimaschützer:innen erhofft hatten. „Wenn ich das erste Mal wählen | |
darf, ist unser CO2-Budget aufgebraucht“, ruft der zehnjährige Johann von | |
der Bühne vor dem Reichstagsgebäude – und viele tausend Menschen jubeln. | |
„1,5 Grad – Klima in den Bundestag!“, ruft die Menge. | |
Fridays-for-Future-Initiatorin Greta Thunberg ist extra aus Stockholm nach | |
Berlin gereist, um [1][beim globalen Klimastreik] die große Bedeutung | |
dieser Wahl zu unterstreichen. | |
Die Grünen können diese Unterstützung gut gebrauchen, sie stützt ihre | |
zentrale Botschaft. „Die nächste Bundesregierung ist die letzte, die die | |
Klimakrise noch aktiv beeinflussen kann“, das wiederholt ihre | |
Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock bei praktisch jedem Auftritt. | |
Lange sah es so aus, als ob diese Aussage verstanden und geteilt wird: | |
Klimaschutz wird in vielen Umfragen als eines der wichtigsten Themen | |
genannt, den Grünen die höchste Kompetenz dafür zugesprochen. Noch im Mai | |
schlug sich das in den Umfragen nieder, die Grünen lagen ganz vorn. | |
Mittlerweile sind sie auf Platz drei gefallen. Und in den Fernsehtriellen | |
der Spitzenkandidat:innen wird vor allem diskutiert, wie hoch der | |
Benzinpreis steigen darf. Der Anstieg des Meeresspiegels? Verdorrte Länder? | |
Kein Thema. | |
Warum hatte die Klimapolitik nicht den Stellenwert im Wahlkampf, der | |
notwendig wäre? Wir haben uns auf eine Reise durch das Land begeben, um | |
Antworten zu finden. | |
Wir waren im Ahrtal, das im Sommer überflutet wurde, 133 Menschen kamen | |
dort ums Leben. Die immer häufiger auftretenden Wetterextreme sind eine | |
Folge des Klimawandels. Hat sich hier der Blick auf die Politik geändert? | |
Wir waren bei Wiebke Winter in Bremen, die die Klima-Union gegründet hat | |
und für die CDU in den Bundestag will. Macht ihr Einsatz für eine | |
fortschrittliche Union den Wahlsieg wahrscheinlicher? Wir haben den | |
Wahlkreis Sigmaringen in Schwaben besucht, den einer der größten | |
Klimabremser der CDU seit 16 Jahren bei jeder Bundestagswahl gewinnt – | |
jetzt könnte er ihn gegen einen Grünen verlieren. Und wir sind nach Köln zu | |
den Psychologen des Rheingold-Instituts gereist, um zu fragen: Wenn den | |
Menschen die Klimapolitik so wichtig ist, warum streiten sich dann Laschet | |
und Scholz um den Einzug ins Kanzleramt? | |
## Ahrtal: Nach der Flut | |
Am Bahnhof Ahrweiler sammeln Bagger verbeulte Schienenstränge ein, die von | |
der Flutwelle herausgerissen wurden. In diesem Streckenabschnitt fährt | |
statt der Ahrtalbahn bis auf Weiteres ein Bus. Am gegenüberliegenden | |
Flussufer räumen Bauarbeiter mit schwerem Gerät die Reste der demolierten | |
Uferstraße. Im Flussbett liegen auch elf Wochen später noch Trümmer und | |
Treibholz. Am Ortseingang stehen einsam zwei Großplakate von CDU und FDP, | |
hier und da sieht man kleinere Plakate anderer Parteien. Am Ort der | |
Katastrophe gibt es nur wenige Hinweise, dass auch hier am Sonntag gewählt | |
wird. | |
Ein paar Kilometer flussabwärts in Bad Bodendorf wohnen Ulrike und Anton | |
Simons. Er ist Lokalreporter, beide sind Mitglieder der Grünen. In ihrem | |
Haus war das Hochparterre und das Erdgeschoss überflutet, an der Fassade | |
kann man sehen, wie hoch die Flut gestiegen ist. Ihre Hühner, Tauben und | |
Kaninchen sind in der Flut ertrunken. Zehn Wochen später sind die | |
Innenräume und die Fassade weitgehend gesäubert, die verdreckten Möbel | |
entsorgt. Rundherum wird gehämmert und gearbeitet. | |
Anton Simons nennt es „kollektive Verdrängung“, dass weder die politisch | |
Verantwortlichen noch der Katastrophenschutz vorbereitet waren. In den | |
letzten Jahrzehnten seien im Tal immer weitere Flächen versiegelt worden, | |
die Bebauung verdichtet und näher an den Fluss herangerückt. „Wir müssen | |
jetzt neu entscheiden, wie viel Platz wir der Ahr lassen“, sagt Ulrike | |
Simons. | |
Das Ehepaar sitzt auf der inzwischen wieder sauberen Terrasse. Zu Besuch | |
ist an diesem Tag Grünen-Kreissprecherin Stefanie Jürries. Sie ist im | |
Wahlkampf unterwegs. An den Wahlständen werde schon über das Klima | |
gesprochen, sagt sie. Aber zentral sei das Thema für die meisten Menschen | |
im Ahrtal nicht: „Die haben jetzt andere Sorgen.“ Es gebe noch immer | |
regelmäßig Suizide, von Menschen, die nicht mehr weiter wissen. | |
Die Region sei seit Jahrzehnten von der CDU dominiert. Doch der Stellenwert | |
grüner Themen, der Klimaschutz vor allem, sei auch hier gestiegen, nicht | |
erst seit der Flut. Bei der Landtagswahl im März hätten die Grünen ihren | |
Stimmenanteil im Wahlkreis fast verdoppeln können, auf 9,5 Prozent der | |
Zweitstimmen. Für den Wahlsonntag ist sie deshalb optimistisch. | |
In allen Prognosen, die es zur Wahl im Ahrtal gibt, liegen nicht die Grünen | |
vorn, sondern CDU und SPD. Das Portal [2][wahlkreisprognose.de] rechnet | |
beim Zweitstimmenergebnis mit einem knappen Sieg der SPD. Das Direktmandat | |
werde mit 69-prozentiger Wahrscheinlichkeit wieder die CDU-Abgeordnete | |
Mechthild Heil gewinnen. Die Wahrscheinlichkeit eines Wahlsiegs der Grünen: | |
null Prozent. | |
Nun sind Prognosen für einzelne Wahlkreise mit Vorsicht zu genießen. | |
Trotzdem stellt sich die Frage: Wie kann das sein? An dem Ort, an dem die | |
Klimakrise in Deutschland sichtbar und tödlich wurde wie nirgendwo sonst, | |
wählt die Mehrheit jene Parteien, die für die mangelhafte Klimapolitik der | |
vergangenen Jahrzehnte verantwortlich sind. | |
Auf ihrem Großplakat posiert die CDU-Bundestagsabgeordnete Mechthild Heil | |
vor einem idyllischen Ausblick aufs Ahrtal. „Fassungslos, aber nicht | |
tatenlos – Wir bauen unsere Heimat wieder auf!“, das ist ihre Botschaft. | |
Vor vier Jahren hat Heil den Wahlkreis mit deutlichem Abstand gewonnen, | |
gegen die damalige SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles. | |
Dass ihre Wähler:innen ihr einen Denkzettel verpassen könnten für die | |
Klimapolitik ihrer Partei, fürchtet Heil nicht. „Die Menschen haben hier im | |
Moment andere Sorgen als das Klima“, sagt sie. Dass der Starkregen mit dem | |
Klimawandel zusammenhänge, sei unstrittig, doch die tödliche Verkettung der | |
Ereignisse in der Katastrophennacht habe andere Ursachen. | |
„Auch in Zukunft, nach dem Wiederaufbau, wird es im Ahrtal Hochwasser | |
geben. Wir müssen dafür sorgen, dass deshalb nicht Menschen sterben und die | |
Schäden sich in Grenzen halten“, sagt Heil. Nicht alle Häuser werde man an | |
gleicher Stelle wieder aufbauen können. Doch auf die Bergrücken könne man | |
nicht ausweichen: „Da wächst unser Wein, das sind unsere wertvollsten | |
Flächen.“ | |
Heil ist Architektin, und sie ist Vorsitzende des Bauausschusses im | |
Bundestag. Deshalb hat sie gleich eine Reihe von Vorschlägen parat: Man | |
könne Häuser vor Unterspülung schützen, es müsse einen zweiten Fluchtweg | |
über das Dach geben. Der Stromkasten dürfe künftig nicht mehr im Keller | |
hängen, damit bei der nächsten Flut nicht sofort der Strom ausfällt und die | |
Kommunikation zusammenbricht. Klimapolitik? Darüber spricht Heil nicht. | |
Es scheint, als könnte im Ahrtal eine Kandidatin mit dem Erfolgsrezept von | |
Olaf Scholz gewinnen: Mechthild Heil ist den Wähler:innen vertraut. Und | |
sie hat für die größte Herausforderung der Menschheit eine kleinteilige, | |
technische Lösung parat: Die Erderhitzung wird nicht bekämpft, sondern das | |
Ahrtal umgebaut, damit die nächste Flut nicht so tödlich wird wie die | |
letzte. | |
## Schwaben: Campact gegen CDU | |
„Klimabremser abwählen“ steht auf Plakaten, die etwa 20 Aktivist:innen | |
auf dem Marktplatz von Bad Saulgau hochhalten. Der CDU-Abgeordnete Thomas | |
Bareiß kämpft hier im schwäbischen Wahlkreis Sigmaringen-Zollernalb um | |
den Wiedereinzug in den Bundestag. Von der Bühne ruft er seinen | |
Anhänger:innen und den Protestierenden entgegen: „Ich bin stolz auf | |
das, was wir in den letzten 16 Jahren bei diesem Thema gemacht haben.“ Das | |
Publikum, das auf Bierbänken seiner Rede lauscht, klatscht begeistert, ein | |
Storch, der oben auf dem Kirchturm hinter Bareiß in seinem Nest sitzt, | |
stimmt klappernd ein. | |
Wie auch im Ahrtal ist Sigmaringen tiefstes CDU-Land – seit 1949 hat die | |
Partei die Mehrheit. Bareiß hat bei den letzten vier Bundestagswahlen den | |
Wahlkreis direkt gewonnen. Doch dieses Mal wird es knapp. Das liegt, neben | |
den sinkenden Zustimmungswerten für die Union, auch am Klimaschutz. | |
„50 Prozent unseres Stroms stammt aus erneuerbaren Energien“, ruft Bareiß | |
den Protestierenden zu. „Das hat kein anderes Land geschafft in der Welt.“ | |
Die erste Aussage stimmt, die zweite ist Unsinn. Doch Bareiß’ Behauptungen | |
bleiben, von den Plakaten abgesehen, unwidersprochen. | |
Thomas Bareiß gilt nicht nur bei Umweltverbänden als einer der | |
einflussreichsten Blockierer beim Klimaschutz. Als energiepolitischer | |
Sprecher seiner Fraktion hat er bis 2018 daran mitgewirkt, den Ausbau | |
erneuerbarer Energien zu verlangsamen; parallel war er Mitglied im | |
Lobbyverband „Zukunft Erdgas“ und reiste mehrmals ins autoritär regierte | |
Aserbaidschan, das Gas exportiert. Seit 2018 ist er parlamentarischer | |
Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, wo er daran beteiligt war, dass | |
strengere Abstandsregeln für Windräder eingeführt wurden. Den CO2-Preis, | |
den die Regierung beschloss, lehnte er lange ab; am Kohleausstiegsdatum | |
2038 und am Verbrennungsmotor will er festhalten. | |
Im seinem ländlich geprägten Wahlkreis nördlich des Bodensees hat Bareiß’ | |
Haltung zum Klimaschutz bisher kaum eine Rolle gespielt. Hier ist er als | |
heimatverbundener Kümmerer bekannt. „Die Menschen wissen, was sie an mir | |
haben“, sagt Bareiß im Gespräch mit der taz. Dass sich das bald ändern | |
könnte, liegt vor allem an Campact. Die Organisation, die sonst eher | |
thematische Protestkampagnen organisiert, mischt sich diesmal in mehreren | |
Wahlkreisen in den Wahlkampf ein. | |
„Thomas Bareiß ist mitverantwortlich dafür, dass Deutschland seine | |
Klimaziele deutlich verfehlen wird und dass in den letzten Jahren mehr als | |
100.000 Arbeitsplätze in der Solar- und Windindustrie weggefallen sind“, | |
sagt Campact-Mitarbeiter Damian Ludwig. „Eine solch unverantwortliche | |
Politik muss abgewählt werden.“ Die Organisation steckt nicht nur hinter | |
den „Klimabremser“-Plakaten bei der Kundgebung in Bad Saulgau. In E-Mails | |
und per SMS mobilisiert sie ihre Anhänger:innen aus dem Wahlkreis, auf | |
Tausenden von Haustürhängern ruft sie dazu auf, statt Bareiß den | |
Grünen-Kandidaten Johannes Kretschmann zu wählen. In einer Wahlkreisumfrage | |
von Mitte August liegt der gleichauf mit Bareiß, was in diesem Wahlkreis | |
eine echte Überraschung ist. | |
Im schwäbischen Sigmaringen könnte den Grünen gelingen, woran sie | |
bundesweit scheitern dürften: die CDU überholen. Das allerdings dürfte auch | |
lokale Gründe haben, für die auch der Name Kretschmann steht: Die | |
baden-württembergische Variante der Grünen ist es, die hier erfolgreich | |
ist, kombiniert mit außerparlamentarischer Hilfe von Campact. | |
Johannes Kretschmann, 40, ist Sprachwissenschaftler und Sohn des | |
Ministerpräsidenten. Mit der CDU hat er ebenso wenig Probleme wie sein | |
Vater, sein Auftreten ist trotz längerer schwarzer Haare ebenfalls sehr | |
bürgerlich: Im schwarzen Jackett mit Hohenzollernwappen am Revers | |
beschreibt er nach einem Wahlkampfspaziergang durch das Städtchen Albstadt | |
sein Unbehagen bei der Campact-Kampagne. | |
„Das ist nicht unser Stil“, sagt Kretschmann. Schließlich habe er zu Barei… | |
„ein freundliches, höfliches Verhältnis“. Und vielleicht müsse man nach … | |
Wahl zusammenarbeiten. Einen Anti-Bareiß-Wahlkampf will er nicht führen. Im | |
Mittelpunkt seines Wahlkampfs steht dann auch weniger die große | |
Klimapolitik als lokale Themen wie die Elektrifizierung von Bahnstrecken. | |
Das mag eine taktische Anpassung an die Bedürfnisse im konservativen | |
Wahlkreis sein. Es passt aber auch zur Strategie der Grünen: Bloß niemanden | |
mit zu radikalen Positionen abschrecken. Die Kritik der Klimabewegung, dass | |
auch das grüne Wahlprogramm nicht reicht, um Deutschland auf 1,5-Grad-Kurs | |
zu bringen, fürchtet man weniger als Verbotsdebatten vom politischen Gegner | |
und dem Springer-Verlag. Ob sich diese Strategie am Sonntag auszahlt, ist | |
offen. Für Kretschmann Junior könnte sie funktionieren. | |
Im schwäbischen Sigmaringen haben Thomas Bareiß und die CDU gemerkt, dass | |
ein Wahlkampf ohne Bekenntnis zum Klimaschutz in diesem Jahr nicht | |
funktioniert. Die Union versucht, bei dem Thema aus der Defensive zu | |
kommen. Aber wäre die CDU tatsächlich erfolgreicher, wenn sie sich | |
glaubwürdiger für Klimaschutz einsetzen würde? | |
## Bremen: Die Klima-Union | |
Ein Samstagvormittag Anfang September, die Bremer CDU hat vor der Volksbank | |
in der Einkaufsstraße in Vegesack im Norden der Stadt einen Wahlkampfstand | |
aufgebaut. Für die Union sieht es laut Umfragen gerade düster aus. Das | |
„Politikbarometer“ des ZDFs sieht die Konservativen nur noch bei 22 | |
Prozent, die SPD liegt erstmals vorn. Wiebke Winter, 25, Direktkandidatin | |
vor Ort, steht vor dem Stand und bietet den Vorbeilaufenden Flyer und Kulis | |
an. Winter sitzt seit Dezember im Bundesvorstand ihrer Partei, im März hat | |
sie die KlimaUnion gegründet, weil ihr die Politik ihrer Partei „nicht | |
ehrgeizig genug“ war. Armin Laschet, der Kanzlerkandidat, hat sie gerade in | |
ein Expertenteam berufen. Was wie eine sinnvolle Maßnahme klingt, wirkt | |
verzweifelt, weil Laschet erst spät auf die Idee kam. | |
Die Sonne kämpft sich durch die Wolken, Winter zieht ihr Jackett aus. Zwei | |
ältere Männer wollen mit ihr sprechen – nicht übers Klima, über den | |
Kandidaten. „Söder wäre gut gewesen“, sagt einer. Sie sei ja auch für S�… | |
gewesen, sagt Winter. Aber jetzt, wo sie Laschet näher kennengelernt habe, | |
schätze sie seine offene Art. „Er kann zuhören“, entgegnet sie. Aber im | |
entscheidenden Moment habe er nicht zugehört, fällt der andere Mann ein, | |
und meint jene Szene im Flutgebiet, als Bundespräsident Steinmeier zu | |
Betroffenen sprach, und Laschet im Hintergrund lachte. | |
Eine Frau tritt an den Stand und will wissen, was denn nun mit den 500 | |
Millionen sei, die CSU-Verkehrsminister Scheuer mit der Maut in den Sand | |
gesetzt habe, ein alter Mann kommt und beklagt sich über die Schließung von | |
Sparkassenfilialen, ein anderer über die Maskenaffäre. Und immer wieder | |
geht es um Laschet. Die Klimapolitik aber, sie ist hier kein Thema. Obwohl | |
es die Priorität der Kandidatin ist. Das Hauptgesprächsthema sei die | |
schlechte Performance des Kanzlerkandidaten, sagt auch eine der Helferinnen | |
am Wahlkampfstand. | |
Winter glaubt trotzdem, dass die Klimapolitik für den Wahlkampf immens | |
wichtig ist. Immerhin hätten die Grünen ihre Werte laut Umfragen fast | |
verdoppelt. Und Laschet habe das Expertenteam zum Klima als Erstes von fünf | |
präsentiert. „Wenn die CDU dieses Thema für so wichtig erachtet, obwohl es | |
kein traditionelles CDU-Thema ist, sagt das etwas.“ Sie werde oft | |
angesprochen, von jungen Leuten sowieso. „Viele sagen: Sie sind doch die | |
mit der Umwelt, Sie sind doch die mit dem Klima. Die Leute kennen mich | |
darüber.“ | |
In der Tat dürfte Wiebke Winter, die es mit ihrem Engagement für | |
Klimapolitik bis in die Talkshow von Markus Lanz geschafft hat, bekannter | |
sein als die meisten anderen Kandidat:innen, die zum ersten Mal antreten. | |
Ihre Chance, aus Bremen in den Bundestag einzuziehen, ist allerdings | |
schlecht. Sie steht auf dem dritten Platz der Landesliste, aus dem kleinen | |
Bremen wird voraussichtlich nur ein Christdemokrat nach Berlin gehen. In | |
der CDU könnte Winter trotzdem Karriere machen. | |
## Köln: Auf der Couch | |
Warum schlägt sich die Klimapolitik im Wahlkampf nicht deutlicher nieder? | |
Das weiß Stephan Grünewald vom Rheingold-Institut. Rheingold ist ein | |
kleines Marketinginstitut, das für seine tiefenpsychologischen Interviews | |
bekannt ist. Seit 2002 führt es vor jeder Bundestagswahl zweistündige | |
Interviews und Gruppendiskussionen mit etwa 50 Wähler:innen durch. „Wir | |
legen die Wähler:innen sinnbildlich auf die Couch“, so nennt Grünewald | |
das. | |
Rheingold versucht, die Interviewpartner:innen so auszusuchen, dass | |
die Gruppe nach Parteipräferenzen, aber auch nach Merkmalen wie Alter, | |
Geschlecht oder Bildung ausgewogen ist. Repräsentativ im klassischen Sinne | |
aber ist die Studie nicht. | |
In einem Sitzungsraum in Köln zieht Grünewald, 60, Psychologe und | |
Mitbegründer des Instituts, eine ernüchternde Bilanz. „Es gibt keine | |
Aufbruchstimmung“, sagt er. Nach anderthalb Jahren Pandemie seien die | |
Wähler:innen damit beschäftigt, ihren Alltag in den Griff zu kriegen. | |
„Die Leute denken nicht mehr so global oder europäisch.“ Es überwiege der | |
Rückzug ins „eigene Schneckenhaus“. | |
„Und wenn sie aus diesem Schneckenhaus mal ihre Fühler ausstrecken“, sagt | |
Grünewald, „dann realisieren die Menschen, dass die Deltavariante im | |
Anmarsch ist, dass die Taliban Afghanistan erobern, die Flutwelle anrollt | |
und Waldbrände unsere Urlaubsregionen zerstören. Da türmen sich | |
Problemberge auf – und man hat keinen Plan, wie man sie lösen kann.“ | |
Daraus entsteht, was Grünewald ein Machbarkeitsdilemma nennt: „Zwar | |
erkennen die Menschen den Handlungsbedarf, sie sind aber zu angstvoll oder | |
bequem, um das in Handlungsbereitschaft zu überführen.“ Dieses Dilemma | |
präge auch den Blick auf die Kanzlerkandidat:innen: Einerseits wünschten | |
sich viele Befragte starke Personen, die die Probleme angehen. Andererseits | |
seien sie fast erleichtert, dass es diese nicht gibt. „Das ist ein | |
Projektionsmechanismus. Wenn die Kandidat:innen stark sind, muss ich | |
auch stark sein.“ | |
In den Tiefeninterviews stellten die Rheingold-Mitarbeiter:innen eine | |
„Kleinredelogik“ fest. Die Grünen, so Grünewald, würden am stärksten | |
Wandlungsanspruch repräsentieren. Da seien die Menschen fast erleichtert | |
über die Fehltritte der Spitzenkandidatin – denn damit seien sie selbst aus | |
der Pflicht. | |
Die CDU, das ergeben die Interviews, gelte zwar weiter als starke und | |
verlässliche Partei, Armin Laschet aber als zu weich. Sein Lachen im | |
Flutgebiet habe ihn diskreditiert. „Ich habe selten erlebt, dass ein | |
einzelner Fehler einen Kandidaten so geschwächt hat“, sagt Grünewald. Wenn | |
Laschet nicht Kanzler werde, dann auch wegen dieses einen Bildes. | |
Scholz werde als jemand erlebt, der vor allem von den Fehlern der anderen | |
profitiere. „Die Wähler:innen konstatieren mit einer Mischung aus | |
Enttäuschung und Erleichterung, dass scheinbar keiner der | |
Kandidat:innen diese Herkulesaufgabe stemmen kann.“ | |
Die Aktivistin Luisa Neubauer hatte in dieser Woche noch einmal dafür | |
plädiert, ein paar bittere Wahrheiten in den Wahlkampf einzuführen. Sie | |
wirkte dabei etwas resigniert: „Wir haben“, sagte sie in einer Talkshow am | |
Dienstag, „nicht mehr die Wahl zwischen mehr oder weniger Klimaschutz, mehr | |
oder weniger Pendlerpauschale. Wir haben nur die Wahl zwischen richtig | |
gutem, radikalen Klimaschutz und einer Klimakrise, wie wir sie uns nicht | |
vorstellen wollen.“ | |
Am Sonntag werden die Menschen überall im Land in Grundschulen spazieren, | |
um abzustimmen. Im Ahrtal nicht, sie sind zu beschädigt. Stattdessen sind | |
schon seit Wochen Busse unterwegs, um Briefwahlunterlagen auszuteilen und | |
die Stimmzettel gleich wieder mitzunehmen. | |
Deutlich mehr Menschen als je zuvor werden bei ihrer Stimmabgabe auch an | |
die Erderwärmung denken, an den steigenden Meeresspiegel, an Brände und | |
Flut. Das ist eine neue Entwicklung. Doch ob im zerstörten Ahrtal, im | |
konservativen Sigmaringen, ob in Bremen, Köln oder Berlin: Dies wird | |
voraussichtlich die Wahl nicht entscheiden. Statt konsequentem Klimaschutz | |
will die Mehrheit der Politiker:innen das Gefühl vermitteln: Fürchtet | |
euch nicht. Dabei gab es selten so gute Gründe sich zu fürchten wie heute. | |
24 Sep 2021 | |
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[1] /Globaler-Klimastreik-am-Freitag/!5803459 | |
[2] https://www.wahlkreisprognose.de/ | |
## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
Christoph Schmidt-Lunau | |
Malte Kreutzfeldt | |
Kersten Augustin | |
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