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# taz.de -- Nach Notfallzulassung eines Pestizids: Bienenkiller außer Kontrolle
> Agrarministerin Klöckner erlaubte ein für Bienen hochgiftiges, von der EU
> verbotenes Pestizid. Jetzt verbreitet es sich unkontrolliert in der
> Umwelt.
Bild: Für solche Zuckerrüben benutzen manche Bauern Saatgut, das mit Pestizid…
Berlin taz | Nachdem Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) ein für Bienen
hochgiftiges Pestizid ausnahmsweise erlaubt hat, verbreitet es sich
unkontrolliert in der Umwelt. Imker und Naturschützer in Bayern haben große
Mengen des Wirkstoffs Thiamethoxam und seines Abbauprodukts, des ebenfalls
als Pestizid genutzten Clothianidin, in Wasser- und Schlammproben gefunden.
Die Proben stammen von Feldern im Landkreis Neustadt an der Aisch–Bad
Windsheim, auf denen mit Thiamethoxam ummantelte Zuckerrübensamen ausgesät
worden waren. Auch in Proben von Pflanzen auf benachbarten Feldern in dem
fränkischen Landkreis und dem angrenzenden Kreis Fürth fand das beauftragte
Labor den Wirkstoff und sein Abbauprodukt aus der Pestizidgruppe der
Neonikotinoide. Die Laborberichte liegen der taz vor.
Die EU hat [1][2018 verboten], Thiamethoxam und Clothianidin im Freiland
auszubringen. Denn mehrere Studien hatten gezeigt, dass die in der Praxis
vorkommenden Mengen dieser Pestizide Bienen schädigen. Neonikotinoide
können Experten zufolge Insekten bereits bei einer niedrigen Dosierung
lähmen, töten oder das Lernvermögen und die Orientierungsfähigkeit
beeinträchtigen. Das betrifft nicht nur Bienen, sondern auch andere
Insekten und Wasserorganismen. Da immer mehr Insektenarten aussterben,
wollte die EU das nicht länger hinnehmen.
Trotz des EU-Verbots erteilte das Klöckner unterstellte Bundesamt für
Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) [2][mehrere
„Notfallzulassungen“] für das Thiamethoxam-haltige Produkt „Cruiser 600 …
des Chemiekonzerns Syngenta. Die [3][EU-Pestizidverordnung] erlaubt solche
Ausnahmen, wenn sich eine „Gefahr“ nicht anders abwehren lässt. In sieben
Bundesländern durfte von Januar bis April 2021 auf insgesamt 126.900 Hektar
– einer Fläche mehr als eineinhalb mal so groß wie Hamburg –
Zuckerrübensaatgut mit dem Gift ausgesät werden. Die „Gefahr“ war in dies…
Fall eine Blattlaus, die durch Saugen die Pflanzen mit verschiedenen
Vergilbungsviren infiziert. Die Blätter verfärben sich gelblich, die
Photosynthese stockt, und die Rübe verkümmert. Wenn Samen mit Thiamethoxam
gebeizt werden, ist das Gift in allen Teilen der späteren Pflanze
enthalten.
Mit „anderen Pflanzenschutzverfahren oder zugelassenen
Pflanzenschutzmitteln“ könnten die Insekten laut BVL [4][nicht ausreichend
bekämpft] werden. Das Virus habe sich zuletzt in vielen Anbaugebieten der
EU ausgebreitet und auch in Deutschland regional zu „gravierenden“
Pflanzenschäden und Ertragsverlusten geführt. Das Risiko für
„Nichtzielorganismen“ durch die Aussaat des behandelten
Zuckerrübensaatgutes sei gering, da diese Pflanze im Anbaujahr nicht blühe
und daher wenig attraktiv für Bestäuber sei. Außerdem gebe es strenge
Auflagen für den Insektenschutz.
„Aber diese Auflagen sind in der Praxis kaum umzusetzen“, sagte Imker
Matthias Rühl der taz. Zwei seiner Mitstreiter nahmen im Juli insgesamt
drei Proben aus Wasser, das nach Regenfällen von drei Feldern ablief, wie
einer der Beteiligten der taz berichtete. Auf den Äckern sei laut dem
örtlichen Landwirtschaftsamt Saatgut mit Thiamethoxam ausgesät worden. Der
Regen spülte den Umweltschützern zufolge Erde von den Äckern in Gräben und
Bäche.
Ein akkreditiertes Labor fand in dem Schwemmwasser pro Liter bis zu 2,2
Mikrogramm Thiamethoxam und 0,37 Mikrogramm Clothianidin. „Das ist eine
extrem hohe Konzentration“, sagte Professor Matthias Liess, Ökotoxikologe
am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, der taz. „Insekten wie Libellen,
Köcherfliegen und Eintagsfliegen sterben dadurch.“ Dabei seien diese Tiere
relevant für die Nahrungskette, zum Beispiel als Futter für Vögel. Zudem
tragen sie dazu bei, dass Verunreinigungen im Wasser abgebaut werden.
Die Pestizidmengen würden die RAK-Werte um mehr als das 50-Fache
überschreiten. Die Abkürzung steht für „regulatorisch akzeptable
Konzentration“ und bezeichnet im Zulassungsverfahren eines
Pflanzenschutzmittels den Grenzwert, der in Gewässern nicht überschritten
werden darf. Zwar sind die Proben aus Franken nicht direkt in einem
Gewässer genommen worden, sondern am Feld, von dem das Wasser in Bäche und
Gräben lief. „Aber bei kleinen Gewässern ist der Anteil des vom Feld
abgeschwemmten Wassers sehr hoch, sodass die Konzentration auch im Gewässer
sehr hoch ist. Entsprechend sterben dann im Gewässer die Insekten“,
erläuterte Liess.
Auch auf benachbarten Feldern fanden die Imker nach eigenen Angaben die
Neonikotinoide. In drei im August gesammelten Proben von Pflanzen wie Raps,
Mais, Lupinen und Ackerdisteln stellte das Labor bis zu 0,008 Milligramm
Thiamethoxam und 0,009 Milligramm Clothianidin pro Kilogramm
Pflanzenmaterial fest. Ebenfalls von diesen Pflanzen sammeln Bienen und
andere Insekten Pollen oder Nektar. „Aber sogar auf nahezu allen
untersuchten Neonikotinoid-Feldern selber stießen wir auf Pflanzen, die
dieses Jahr bereits geblüht haben oder noch in Blüte sind und von Insekten
angeflogen werden können“, so Rühl.
Für den Bienenzüchter sind das Verstöße gegen die [5][Allgemeinverfügung
der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft] über die Notfallzulassung
des Thiamethoxam-haltigen Pestizids „Cruiser 600 FS“. Sie verlangt zum
Beispiel „erosionsmindernde Maßnahmen“ auf gefährdeten Flächen. Vor und
nach der Aussaat der mit dem Neonikotinoid ummantelten Samen sei
„bestmöglich“ Sorge dafür zu tragen, dass zwei Jahre lang – bis Ende 20…
auf dem Acker keine Pflanzen blühen. Zudem dürften in den 45 Zentimetern
zum Feldrand keine mit dem Pestizid behandelte Zuckerrüben wachsen. Die
Behörden kontrollierten die Vorgaben aber nur sporadisch, kritisierte Rühl.
Das Agrarministerium in München teilte der Landtagsfraktion der Freien
Wähler mit, dass in einem von Rühl angezeigten Fall der betroffene
Landwirtschaftsbetrieb tatsächlich zu wenig gegen Erosion unternommen
hatte. Die anderen Fälle würden noch untersucht. Auf eine taz-Anfrage dazu
antwortete das Ministerium bis Redaktionsschluss nicht.
Das Bundesagrarministerium verwies in einer Stellungnahme für die taz vor
allem auf die Länder. „Parteiübergreifend“ hätten mehrere beim BVL
Notfallzulassungen für Thiamethoxam beantragt. Klöckner habe von den
Ländern gefordert, „Bewirtschaftungsregeln zum Schutz von Bienen und
anderen Insekten zu erlassen“. Das BVL habe vorgeschrieben, dass die Samen
mit etwa 35 Prozent weniger des Pestizids ummantelt werden als bei der
früheren Zulassung.
Hintergrund der Erlaubnis ist, dass andere EU-Staaten Ausnahmegenehmigungen
erteilt hatten. Deshalb verlangten viele deutsche Zuckerrübenbauern, dass
sie ebenfalls die Mittel wieder benutzen dürfen.
Bio-LandwirtInnen bauen Zuckerrüben ohne chemisch-synthetische Pestizide
an, indem sie einem Schädlingsbefall etwa durch eine weite Fruchtfolge
vorbeugen. Das bedeutet, dass sie besonders viele verschiedene Fruchtarten
hintereinander anbauen. Allerdings ernten Biobauern pro Hektar weniger als
ihre konventionellen KollegInnen.
Nicht nur in Franken werden zu hohe Pestizidmengen in Gewässern gefunden.
Ökotoxikologe Liess hat vor Kurzem eine Studie veröffentlicht, wonach in
mehr als [6][80 Prozent der untersuchten Gewässer] die RAK-Werte
überschritten werden. Sein Team analysierte mehr als 100 Messstellen an
Bächen, die durch überwiegend landwirtschaftlich genutzte Tieflandregionen
in zwölf Bundesländern fließen.
29 Sep 2021
## LINKS
[1] /Pestizide-im-Freiland-verboten/!5501788
[2] https://www.bvl.bund.de/DE/Arbeitsbereiche/04_Pflanzenschutzmittel/01_Aufga…
[3] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/TXT/?uri=celex%3A32009R1107
[4] https://www.bvl.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/04_pflanzenschutzmitt…
[5] https://www.lfl.bayern.de/mam/cms07/ips/dateien/ips_allgemeinverf%C3%BCgung…
[6] https://www.ufz.de/index.php?de=36336&webc_pm=33%2F2021
## AUTOREN
Jost Maurin
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