# taz.de -- Ethikerin über Landwirtschaft: „Landwirte fühlen sich angegriff… | |
> Die Wissenschaftlerin Lieske Voget-Kleschin erklärt, warum Landwirtschaft | |
> keineswegs per se als unmoralisch bezeichnet werden kann. | |
Bild: Von bestimmten Insektiziden bedroht: Biene im Anflug auf eine Blüte | |
taz: Frau Voget-Kleschin, wie moralisch ist die Landwirtschaft? | |
Lieske Voget-Kleschin: Ich würde mich davor scheuen zu sagen, die | |
Landwirtschaft generell handelt moralisch oder unmoralisch. Man | |
unterscheidet in der Philosophie zwischen Ethik und Moral. Moral ist das | |
Gesamtsystem der Werte und Normen, die wir anerkennen. Aus philosophischer | |
Perspektive ist jedes Tun ein Ausdruck von Moral. Wenn man den Begriff | |
moralisch im Sinne einer Bewertung nutzt, damit also ausdrücken will, dass | |
man etwas als gut und richtig oder falsch bewertet, muss man sich einzelne | |
Akteure ansehen. | |
Es gibt ein aktuelles Beispiel in Niedersachsen: Landwirte haben vermutlich | |
gegen Auflagen verstoßen und haben ein Insektengift statt punktuell | |
großflächig auf Rübenackern ausgebracht. | |
Das ist natürlich ein moralisch falsches Verhalten, wenn es eine bestimmte | |
Regelung gibt und einzelne Landwirte sich einfach nicht daran halten. Es | |
ist von landwirtschaftlichen Vertretungen nicht klug, nur abzuwehren und | |
nicht aufzuklären. In dieser Hinsicht ist die Situation sehr eingefahren. | |
Die Gesellschaft auf der einen Seite wirft den Landwirten oft | |
pauschalisierend vor, falsch zu handeln, und die Landwirte auf der anderen | |
Seite fühlen sich nicht gewertschätzt und angegriffen. | |
Die Landwirtschaft [1][gilt oft als Klimasünderin]. Könnten | |
Landwirt*innen nicht mehr fürs Klima tun? | |
Erstmal ist es wichtig zu sehen, dass sich Landwirte in | |
politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen bewegen müssen, die sie selbst so | |
nicht gewählt haben und als Einzelperson auch schwer ändern können. In | |
diesem Rahmen gibt es durchaus einen Gestaltungsspielraum, den auch | |
einzelne Landwirte nutzen und zum Beispiel mehr für das Klima oder den | |
Erhalt von Biodiversität tun als andere. Die Frage ist, inwieweit einzelne | |
Landwirte moralisch verpflichtet sind, einen bestimmten | |
Gestaltungsspielraum für mehr Klima- und Biodiversitätsschutz auszunutzen. | |
Wie sehen Sie das als Ethikerin? | |
In der Ethik unterscheidet man zwischen moralischen Pflichten, etwa der | |
Pflicht, nicht zu lügen oder zu stehlen. Und dann gibt es sogenannte | |
supererogatorische Pflichten. Das sind die, von denen wir sagen, es ist | |
wünschenswert, dass Menschen das tun, aber wir können es nicht von ihnen | |
verlangen. Ein typisches Beispiel ist, einer alten Dame, die am Straßenrand | |
steht, über die Straße zu helfen. Wir wünschen uns, dass jemand das tut, | |
aber wir können ihn nicht moralisch dafür verurteilen, wenn er es nicht | |
tut. Landwirte sind – auch moralisch – verpflichtet, sich an die | |
bestehenden gesetzlichen Regelungen zu halten. Geht es um | |
Handlungsspielräume von Landwirten, über diese Regelungen hinaus mehr für | |
Klima- oder Biodiversitätsschutz zu tun, würden wir uns als Gesellschaft | |
zwar wünschen, dass Landwirte diese ausnutzen, aber wir können sie nicht | |
moralisch dafür verurteilen, wenn sie es nicht tun. Es gibt aber andere | |
Möglichkeiten. | |
Welche? | |
Die Artenvielfalt zu erhalten und das Klima zu schützen sind | |
gesamtgesellschaftliche Aufgaben. Selbstverständlich müssen sich Landwirte | |
an gesetzliche Auflagen halten und es spricht einiges dafür, dass diese | |
Auflagen in einigen Bereichen verschärft werden müssen. Wenn sich die | |
Gesellschaft aber darüber hinaus mehr von diesen Gemeingütern wünscht, dann | |
wäre es sinnvoll, die Rahmenbedingungen für Landwirte auch dementsprechend | |
zu ändern. Was Nichtregierungsorganisationen schon länger fordern, ist, | |
dass Landwirte langfristig ausschließlich dafür EU-Mittel erhalten, wenn | |
sie Gemeingüter erzeugen. Etwa wenn sie durch die Art, wie sie | |
wirtschaften, zum Erhalt der Artenvielfalt in der Agrarlandschaft | |
beitragen. Neben den Rahmenbedingungen gibt es aus ethischer Sicht auch | |
einen anderen interessanten Punkt, nämlich der Erwartungshaltung der | |
Gesellschaft an die Landwirtschaft. | |
Was ist interessant daran? | |
Teile der Anforderungen, die die Gesellschaft an die Landwirtschaft stellt, | |
gehen nicht auf normative Vorstellungen zurück, also Vorstellungen davon, | |
dass ein bestimmtes Tun ge- oder verboten ist, sondern auf sogenannte | |
eudaimonistische Vorstellungen, also Wünsche, wie eine gute Landwirtschaft | |
aussehen solle. Und diese Wünsche oder Erwartungen sind teilweise schwer | |
mit der Realität in der Landwirtschaft vereinbar. Es besteht zum Beispiel | |
der Wunsch nach einer idyllischen, familiären Landwirtschaft. Aber auch | |
wenn wir Bio-Eier kaufen, sind die selten von einer Handvoll Hühner, die | |
auf der Wiese herumlaufen. Auch die Bio-Haltung von Legehennen erfolgt | |
häufig in vergleichsweise großen Beständen, gemäß der Auflagen von | |
Bioverbänden etwa in ein bis vier Ställen mit jeweils 3.000 Hühnern. Viele | |
Menschen würden das als „Massentierhaltung“ wahrnehmen und es intuitiv | |
ablehnen. | |
Sie halten auf dem Kongress einen Vortrag mit dem Thema: Was kann und will | |
Ethik (in) der Landwirtschaft. Was kann Ethik in der Landwirtschaft? | |
Ethikerinnen sind meiner Ansicht nach nicht besser darin, moralische | |
Urteile zu fällen, als andere. Unsere Kompetenz liegt darin, dass wir uns | |
mit der Urteilsbildung auseinandergesetzt haben. Wir können einen Beitrag | |
dazu leisten, gemeinsam mit den Beteiligten, etwa mit Landwirten, gute | |
Urteile zu fällen. Wir können darauf hinweisen, ob wir uns gerade über | |
Fakten oder über Normen uneins sind. Wenn wir uns über Fakten streiten, | |
kann es hilfreich sein, eine Diskussion zu versachlichen. Streiten wir uns | |
über Normen, sind also zum Beispiel unterschiedlicher Auffassung darüber, | |
wer die Verantwortung trägt, Emissionen in der Landwirtschaft zu | |
reduzieren, müssen diese normativen Fragen auch als solche diskutiert | |
werden. Mehr Fakten helfen da nicht weiter. Es hängt auch viel davon ab, | |
wie man Diskussionen führt. | |
Inwiefern? | |
Die Frage, wer für etwas Verantwortung trägt, kann man beispielsweise | |
retrospektiv führen, also fragen, was schief gelaufen ist und wer daran | |
schuld ist. Man kann Verantwortung aber auch prospektiv verstehen und | |
fragen, was jeder Einzelne und was bestimmte Gruppen tun können, damit sich | |
negative Ereignisse in Zukunft nicht wiederholen. Zu einer solchen | |
konstruktiven Diskussionskultur kann und möchte ich als Ethikerin | |
beitragen. | |
3 Nov 2021 | |
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## AUTOREN | |
Juliane Preiß | |
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