| # taz.de -- Staatschefs auf der COP 26: Zwischen Rhetorik und Realität | |
| > Die Regierungen auf dem Weltklimagipfel strotzen vor Eigenlob. Ein | |
| > genauer Blick zeigt: Bis auf wenige Ausnahmen machen alle viel zu wenig. | |
| Bild: Premier Modi auf dem Weltklimagipfel in Glasgow: Geht es aufwärts beim K… | |
| Glasgow taz | Als Chandrikapersad Santokhi auf die Bühne tritt, plätschert | |
| höflicher Applaus durch den riesigen und fast leeren Saal. Der Präsident | |
| von Surinam, dunkler Anzug mit blau karierter Krawatte, nimmt sich die | |
| reichen Länder vor: „Ich kann meine Enttäuschung nicht verbergen, wie hier | |
| die Zusagen gebrochen wurden“, sagt Santokhi. Die Küsten seines Landes sind | |
| bedroht, es braucht mehr Geld und Hilfe. Santhoki hört gar nicht mehr auf | |
| mit dem Reden. Statt der erlaubten drei redet er sieben Minuten. | |
| Vor ihm hat der Präsident von Kirgistan gesprochen, nach ihm kommt die | |
| Präsidentin von Tansania. Es ist der zweite Tag des „High-Level-Segments“, | |
| bei dem auf dem Klimagipfel von Glasgow die Staats- und Regierungschefs | |
| ihre Erklärungen abgeben. [1][Die großen Namen] wie Biden und Macron waren | |
| am Vortag dran, jetzt ist Zeit für die Chefs von Serbien, Sierra Leone, | |
| Togo oder Cabo Verde. | |
| Man ist versucht, das als UN-Folklore abzutun, wo halt jeder mal zu Wort | |
| kommt. Aber das wäre ein Fehler. Denn man würde den Klima-Champion Surinam | |
| übersehen. Surinam? Das kleine Land von einer halben Million Einwohner an | |
| der Nordküste Südamerikas ist eine Großmacht der Klimaneutralität. Auf 93 | |
| Prozent der Landesfläche wächst Wald, der mehr CO2 bindet, als die | |
| Surinamer in die Luft blasen. | |
| Das Land mit viel Landwirtschaft und wenig Industrie praktiziert bereits – | |
| [2][wie sonst nur das Himalaja-Königreich Bhutan] – die „grüne Null“, d… | |
| alle anderen erst noch erreichen wollen. „Trotz aller Probleme sind wir | |
| eines der wenigen CO2-negativen Länder“, betont Präsident Santhoki. Im | |
| Januar 2020 waren sie das zweite Land weltweit, das der UNO | |
| vereinbarungsgemäß neue Klimapläne vorlegte. | |
| ## Indien erkennt Ziel der Klimaneutralität an | |
| Indien ist da so ziemlich das genaue Gegenteil: 1,4 Milliarden Einwohner, | |
| ein großer und schnell wachsender Klima-Fußabdruck. Aber als | |
| Premierminister Narendra Modi am Montagnachmittag zum Mikrofon schreitet, | |
| kommt er nicht im Büßergewand. | |
| Im Gegenteil: Auch er redet fast zehn Minuten, denn er legt hier den neuen | |
| Klimaplan vor, der eigentlich seit 2020 fällig ist: Bis 2030 will er die | |
| Hälfte der Energie aus Ökoquellen beziehen, damit praktisch den Kohleausbau | |
| bremsen und bis 2070 klimaneutral sein. „Das sind nicht nur Worte, sondern | |
| ein klarer Sieg“, so Modi. | |
| Das sehen internationale Beobachter ähnlich. [3][Der „Climate Action | |
| Tracker“ (CAT),] den die Thinktanks Climate Analytics und New Climate | |
| Institute betreiben, untersucht die Klimapolitik der wichtigsten Staaten | |
| weltweit und vergibt Noten. [4][Ähnlich arbeitet „Climate Transparency“, | |
| eine Kooperation von 16 internationalen Universitäten und Umweltgruppen], | |
| die für die G20-Staaten umfangreiche Daten zusammentragen, um deren | |
| Klimapolitik zu bewerten. | |
| Sie liefern Maßstäbe, um die Leistungen der Länder zu gewichten und zu | |
| vergleichen, also die Rhetorik mit der Realität abzugleichen. Das ist umso | |
| wichtiger, als im notorisch konfliktscheuen UN-Prozess kaum jemals ein | |
| offenes Wort darüber fällt, was jetzt Fortschritt und was Greenwashing ist. | |
| Was also steckt hinter den Reden der Regierenden? | |
| Indien bekam vom CAT bislang ein „höchst ungenügend“. Zu schwach waren | |
| Emissionsziel und Politik. Das wird sich nach Modis Ankündigung verbessern, | |
| heißt es. Die Details würden gerade durchgerechnet. Aber der Aufstieg von | |
| „höchst ungenügend“ zu „ungenügend“ sei wohl drin, sagt Niklas Höhn… | |
| New Climate Institute. | |
| „Von einem Emissionsziel ohne zusätzlichen Effekt wandelt sich das zu einem | |
| Ziel mit leichtem Effekt.“ Ganz wichtig auch: Indien ist das letzte große | |
| Land, das Klimaneutralität verspricht. Zwar erst für das Jahr 2070. Aber | |
| immerhin akzeptiert das das Land das Ziel prinzipiell. | |
| ## Bidens ungedeckter Klima-Scheck | |
| Was auf der Konferenz gesagt wird, ist oft weit davon entfernt, was zu | |
| Hause realistisch und durchsetzbar ist. Bestes Beispiel: US-Präsident Joe | |
| Biden verspricht bei seinem Auftritt, das US-Klimaziel zu halten, bis 2030 | |
| die Emissionen zu halbieren, „bezahlbare Energierechnungen, gute Jobs, eine | |
| saubere Industrie“. Dafür werde er mit seinem Plan zum Wiederaufbau | |
| „historische Investitionen in saubere Energien“ auslösen. „Die USA sind | |
| wieder mit am Tisch und werden mit ihrem Beispiel vorangehen“, so Biden. | |
| Sein Problem: Für seine Klima-Agenda wollte der Präsident ein gigantisches | |
| Infrastrukturpaket, direkte Hilfen für saubere Energien und Strafen für | |
| dreckigen Strom durchsetzen. Aber durch den Widerstand eines Senators aus | |
| dem Kohle-Bundesstaat West Virginia musste Biden diese Pläne teilweise | |
| abspecken oder auf Eis legen. Seine Regierung rechnet verzweifelt, ob mit | |
| den Einschränkungen die Klimapläne zu schaffen sind. Ergebnis bisher: | |
| vielleicht mit viel Glück. | |
| Auch Jae-in Moon aus Südkorea erklärt kurz darauf, sein Land mache | |
| „Fortschritte“, man wolle die Emissionen von CO2 bis 2030 um 40 Prozent und | |
| bei Methan um 30 Prozent senken und Klimaneutralität erreichen. „Wir haben | |
| seit dem Zweiten Weltkrieg mehr Wald als alle anderen Länder aufgeforstet.“ | |
| Man habe zudem acht Kohlekraftwerke stillgelegt und die Kohlefinanzierung | |
| im Ausland beendet. | |
| Die Analysten von „Climate Transparency“ beeindruckt das wenig: Korea sei | |
| „nicht auf dem Pfad, das 1,5-Grad-Ziel zu halten“, heißt es. Die | |
| Pro-Kopf-Emissionen liegen mit 14 Tonnen doppelt so hoch wie im G20-Schnitt | |
| und sind in den letzten Jahren gestiegen, statt zu fallen. Die Klimapläne | |
| seien unzureichend für das Pariser Abkommen, das Wiederaufbauprogramm nach | |
| Covid senke kaum Emissionen. | |
| ## Selbst die Klassenbesten sind versetzungsgefährdet | |
| Die schlimmsten Sorgenkinder des Klimaschutzes haben sich gar nicht erst | |
| nach Glasgow getraut. Die Regierungschefs von China, Russland, Brasilien | |
| und Saudi-Arabien haben nur Botschaften an die Konferenz übermittelt. China | |
| ist bisher die große Enttäuschung der Klimaschützer: Das Land hat zwar | |
| verkündet, bis 2060 CO2-neutral zu sein und keine neue Kohle im Ausland zu | |
| bauen, aber keine ehrgeizigeren Ziele ausgerufen. | |
| In seinem Grußwort lobte sich Staatspräsident Xi Jinping, China werde | |
| „weiterhin den Umweltschutz priorisieren und einen Entwicklungspfad | |
| verfolgen, der grün und nachhaltig ist“. Die „irrationale Entwicklung von | |
| energieintensiven und verschmutzenden Projekten“ werde gebremst. | |
| Auch Wladimir Putin hat Klimaziele angekündigt, und der brasilianische | |
| Präsident Jair Bolsonaro behauptet, seine Regierung sei engagiert, man | |
| werde die CO2-Emissionen bis 2030 halbieren und die illegale Entwaldung bis | |
| 2028 stoppen. | |
| Die Urteile der Experten sind dagegen vernichtend: China und Brasilien | |
| gelten als „höchst unzureichend“. Russland landet sogar ganz unten. Seine | |
| Klimapläne sind für den CAT sogar „kritisch unzureichend“. | |
| Die Klimapläne seien praktisch ohne Anstrengung zu erreichen, das | |
| Klimagesetz schwach, das Nullziel in 2060 nur vage angekündigt. Insgesamt | |
| beruhe nach wie vor ein großer Teil der Volkswirtschaft auf dem Export von | |
| Öl und Gas. Außerdem verstoße Russland gegen UN-Regeln bei der Anrechnung | |
| von CO2-Speicherleistung von Wäldern. | |
| Scott Morrison immerhin hat sich auf die COP getraut. Der Premier von | |
| Australien, dem G20-Land mit dem höchsten CO2-Ausstoß pro Kopf, erklärt, es | |
| „gebe Grund für Optimismus“, denn „die Technik hat die Antworten“. Die | |
| neuen Klimapläne des Landes seien stärker als die Zusagen in Paris und | |
| brächten minus 35 Prozent Klimagase bis 2030 und grüne Technologien wie | |
| Wasserstoff und Finanzhilfen für die Länder in der Region. | |
| Climate Transparency dagegen befindet, das Land sei weit von den | |
| Paris-Zielen entfernt, fördere weiter fossile Brennstoffe und verweigere | |
| sich einem Ziel der Klimaneutralität. Und CAT stuft Down Under als „höchst | |
| unzureichend“ ein. | |
| Zu den Klassenbesten, die aber mit dem Zeugnis „fast ausreichend“ immer | |
| noch versetzungsgefährdet sind, gehören für den CAT Äthiopien, Costa Rica, | |
| Kenia, Nigeria, Marokko und Nepal. | |
| Das einzige Industrieland, das es auf die Liste schafft, ist Gastgeber | |
| Großbritannien. Premierminister Boris Johnson hält eine engagierte Rede zur | |
| Eröffnung der Konferenz, die von Greta Thunberg bis zu James Bond und dem | |
| Erfinder der Dampfmaschine James Watt reicht. | |
| Das Land hat eine lange Tradition von ehrgeizigem Klimaschutz, hat die | |
| Kohleverstromung früh beendet und setzte lange auf Gas und Atom. Die | |
| Analysten loben im Vereinigten Königreich ehrgeizige Ziele für 2030 und | |
| 2050, die das Land auf 1,5-Grad-Kurs bringen könnten – wenn sie denn | |
| konsequent umgesetzt werden. | |
| Einer der wenigen Vorreiter beim Klimaschutz bleibt allerdings stumm | |
| während des „High-Level-Segment“ des Glasgower Gipfels. Das afrikanische | |
| Gambia steht für die CAT-Rechner stellvertretend für viele arme Staaten mit | |
| wenigen Emissionen. Das Urteil lautet: „Vereinbar mit 1,5 Grad“. Aber in | |
| Glasgow meldet sich Gambia im Konzert der Regierungschefs nicht zu Wort. | |
| 2 Nov 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Bernhard Pötter | |
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