# taz.de -- Tagebuch des taz-Wahlcamps: Im Cringe mit den Wahlwerbespots | |
> Meistens sind sie bloß nichtssagend bis peinlich. Doch ein gelungener | |
> Wahlwerbespot muss sich manipulativ ins Unterbewusstsein brennen. | |
Bild: Selbst das Standbild eines grünen Smileys ist unterhaltsamer als so manc… | |
Das Wahltagebuch beleuchtet die Bundestagswahl aus Sicht des Wahlcamps der | |
taz-Panterstiftung. | |
Dass der Wahlwerbespot der singenden Grünen für die Bundestagswahl cringy | |
ist, ist nun allgemein bekannt und bedarf keiner weiteren Kommentierung. | |
Keine Ahnung, wer bei denen dachte, dass man Wähler:innen so für sich | |
gewinnen kann. Mit einem Liedchen, das vor allem an den Moment der | |
Fremdscham erinnert, wenn die komische, alleinstehende Tante bei deiner | |
Geburtstagsfeier aufsteht, um ein lieb-gemeintes selbstgeschriebenes | |
Paarreim-Gedicht vorzulesen. Aber Grünen-Bashing zu betreiben, macht | |
mittlerweile ja echt keinen Spaß mehr, dafür macht es uns die vermeintliche | |
Klimarettungspartei viel zu einfach. | |
Da klickt man sich am liebsten doch weiter auf YouTube, um zu schauen, was | |
oder besser, ob die anderen Parteien womöglich etwas mehr zu bieten haben. | |
Zuerst schaut man vielleicht bei der, die seit über einem Jahrzehnt eine | |
Bundestagswahl nach der anderen gewinnt. | |
Die Union hat ein Filmchen gedreht, bei dem wir am Ende erfahren, wie | |
dieser onkelhafte Spitzenkandidat heißt, der sich gerne filmen lässt, wie | |
er blackfaced durch Bergwerke läuft und „weiß, was Veränderung bedeutet“. | |
Stimmt, dafür steht die CDU. Schon immer. | |
CSU-Freund Söder hat vorsichtshalber noch seinen eigenen Spot gemacht, | |
damit die Bayern trotzdem Halt finden im „Gewirr“ der Modernen – und der | |
onkelhafte Spitzenkandidat der CDU die CSU nicht auch noch mitzerstört. | |
Dafür ist Söder sogar bereit, die Welt zumindest „ein stückweit“ zu rett… | |
also wahrscheinlich das Stück „Bayern“. Immerhin. Vielleicht schafft er es | |
ja, dass es schon bald CSU/CDU heißt. | |
## Auch das rote Spektrum ist nicht besser | |
Wie die Konservativen zeigt uns auch die SPD im Kanzlerfilm, wie stark sie | |
für Klimaschutz steht: mit fünf Sekunden Windrädern. Ansonsten gibt es | |
wenigstens minimale Inhalte mit ein paar konkreten Versprechen: | |
Mindestlohn, Wohnungen, Renten. | |
Irgendwas mit Sozialdemokratie halt, wie der Name der Partei schon sagt. | |
Stellt sich die Frage, warum es das alles nicht schon gibt, da die Partei | |
schon länger mitregiert… Die rot-weiße Optik jedenfalls erinnert mehr an | |
Sparkassen-Werbung als an soziale Politik. Und die Scholz-Matrjoschka, die | |
nach und nach aufdecken soll, was eigentlich „alles drin ist im SPD-Paket“, | |
erinnert an Russland – Zufall? | |
Was uns direkt zu den Linken bringt: Gleiche Sparkassen-Optik, aber mehr | |
Stress und Ungeduld. Denn die Linke weiß, was abgeht auf der Welt. Sie geht | |
unter. Jetzt. Also, die Welt. Nicht die Linke. Oder doch? Dunkle | |
Untergangsmusik gepaart mit dem verzweifelten Betteln nach | |
Wähler:innenstimmen. | |
Auch sie spricht die Themen an, die uns aktuell zu beschäftigen haben. | |
Wohnen, Pflege, Klimakrise, soziale Gerechtigkeit – aber aggressiv. Keine | |
netten Worte, wie der Onkel von der CDU, kein beruhigendes Kinderlied wie | |
die Ökos von den Grünen. Die Uhr tickt. Solche Untergangszenarien sind der | |
normalen Bevölkerung eventuell doch ein bisschen too much. Schnell | |
wegschalten, nicht, dass man noch in Panik gerät am entspannten Feierabend. | |
## Bei der FDP hängt das Internet | |
Nichts lässt einen Freien Demokraten so sehr in Panik verfallen wie | |
schlechtes oder langsames Internet. Und damit man sich für einen kurzen | |
Moment auch so fühlt, wie die Anhänger der FDP das ganze Jahr über, haben | |
sich diese einen ganz miesen Trick einfallen lassen. Ihr Wahlwerbespot | |
fühlt sich an, als würde das Internet dauerhaft hängen. | |
In einem Schwarz-Weiß-Daumenkino klärt Lindner mithilfe aneinander | |
gereihter Fotos von Lindner nochmal auf: wir brauchen Digitalisierung. Es | |
geht um Überleben, es geht um Freiheit, um etwas tun. Und natürlich um | |
Lindner. Wie die Linke schon sagte: Jetzt. | |
Und Lindner fängt auch jetzt schon an. Nicht mehr aufschieben. Die Gedanken | |
beschäftigen ihn bis spät in die Nacht. Workaholic-Style. Und er arbeitet, | |
rettet die Digitalisierung, indem er super innovativ mit Füllhalter seine | |
Gedanken oder Memoiren oder Tagebuch oder, I don’t know, seinen Liebesbrief | |
an sich selbst auf weißes Papier schreibt. Wichtig ist arbeiten. Damit du | |
den Aufstieg schaffst in Deutschland. | |
## Wo bleibt der Sinn? | |
Lustig, alles in allem. Aber irgendwie auch nicht. Denn was sollen diese | |
Wahlwerbespots überhaupt? Werden sie einfach nur traditionell gedreht, um | |
dann die Standardkritik zu ernten: „minimaler Inhalt mit maximalen | |
Emotionen“? Doch ist das überhaupt schlimm? Gibt es denn eigentlich | |
Menschen, die letzten Endes von einem Spot im Fernseher überzeugt werden, | |
von einer Partei, die sie davor niemals gewählt hätten? Wird man nicht, | |
wenn überhaupt, von der eigenen politischen Überzeugung nochmal bestätigt? | |
(Beziehungsweise wählt trotz allem weiter grün…?) | |
Gehört das Werbespotdrehen einfach dazu als Partei, weil die anderen es | |
auch so machen, um wenigstens präsent zu bleiben? Am Ende sagen die Spots | |
immerhin viel darüber, welche Emotionen die Parteien bei den | |
Wähler:innen versuchen anzusprechen. Von Beruhigungen, Stabilität bis zu | |
Stress und Panik für jeden Geschmack. | |
Stellt sich die Frage: Was wäre denn eigentlich ein guter Wahlwerbespot? | |
Sollen sie denn nun an die Emotionen potentieller Wähler:innen | |
appellieren oder doch an den Intellekt? Beides? Sollte man jetzt | |
stattdessen in knapp zwei Minuten versuchen möglichst viel Wahlprogramm | |
vorzulesen? Oder reicht einfach der klassische Ansatz der etablierten | |
Parteien – ein bisschen blabla, Windräder und viel Screentime für den (!) | |
Spitzenkandidaten? | |
Die Partei – bekannt für Ernsthaftigkeit und ihrer dauerhaft präsenten | |
Ambition zu regieren, schenkte bei der Europawahl 2019 ihre anderthalb | |
Minuten Screentime der Seenotrettungsorganisation See-Watch. [1][Diese | |
zeigte ein Kind, das im Mittelmeer ertrinkt]. Hart, ehrlich, idealistisch. | |
Null Werbung. Null Manipulation. Reicht meistens nicht, um gewählt zu | |
werden. | |
## Wahlspot ist gleich Werbespot | |
Die andere Möglichkeit wäre, man sieht der Tatsache ins Auge, dass ein | |
Wahlwerbespot eben nichts anderes ist als ein Werbespot und dass das Ziel | |
ist, Stimmen zu gewinnen, und dass Werbung eben manipulativ ist. | |
Überzeugen, egal wie. Niemand kann das doch besser hinbekommen als eine | |
ganz bestimmte Partei. Eine, die aus einer Gruppe Fans einer Zeit besteht, | |
in der politische Propaganda und Manipulation von Massen über Film so | |
richtig groß wurde. Die AfD. | |
Denn Spots auf YouTube schauen, endet meistens so, dass du dir sogar den | |
AfD-Spot gibst, aus Frust und einer schulbewussten Neugier. Diesmal, um zu | |
realisieren, dass du, wenn du nicht wüsstest, dass die Partei für | |
Ausländerfeindlichkeit, Nationalismus und ein überkommenes Weltbild steht, | |
diesen Spot am ansprechendsten fändest. | |
Der Spot erzählt eine Geschichte, die den normalsten Bürger Deutschlands in | |
den Mittelpunkt stellt: Martin Schmidt. Familienvater mit Normalo-Job und | |
Dieselauto. Ziele und Inhalte fließen nur nebenbei ein. | |
Ganz gezielt sprechen sie genau die Bürger an, deren Stimme sie auch | |
bekommen können. Ganz gezielt wird alles nicht angesprochen, was sie alles | |
super Rechtes im Wahlprogramm stehen haben. Klar, sie haben natürlich den | |
Vorteil, dass sie als Oppositionspartei in den Wahlkampf gehen. Das macht | |
es einfacher ehrlich, vertrauenswürdig, echt zu erscheinen. | |
## Raffiniert und manipulativ | |
Die Filmemacher sind sneaky: bauen Kleinigkeiten ein, die sich ins | |
Unterbewusstsein einprägen. Martin Schmidt tankt Diesel und sagt: „die | |
Regierung soll uns nicht nur abkassieren, wo es geht.“ Martin Schmidt fährt | |
an einem Wettkasino und protzigem Auto vorbei und sagt „es sollen mal | |
wieder echte Ganoven“ drankommen. Wer das sein soll wird nicht gezeigt. | |
Martin Schmidt sagt, man solle „die Kleinen wieder beschützen“ und an der | |
Wand steht ACAB. | |
Und Martin Schmidt fährt aus der Dunkelheit in die aufgehende Sonne hinein. | |
Fährt durch Schmutz und Missständen und steht am Ende oben auf einem hellen | |
Parkdeck. | |
Filmisch hervorragend. Wenn es einen Werbespot gibt, der Wähler:innen | |
umstimmen könnte, wenn sie ihn abends nach einem langen Arbeitstag beim | |
Feierabendbier auf der Couch sehen, während das Kind schon wieder schreit, | |
dann der. Ziel erreicht. | |
Denn wenn man es schafft, die Stimmen der Menschen für sich zu gewinnen, | |
die sich als „normal“ ansehen, dann hat man das Medium „Wahlwerbespot“ | |
genau richtig eingesetzt. Das müsste nämlich nach der Definition von normal | |
die meisten Wähler:innen betreffen. | |
6 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=obDJQNRnyus | |
## AUTOREN | |
Ruth Fuentes | |
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