# taz.de -- Ein Jahr nach Brand in Moria: Alafaat hat Angst vor dem Winter | |
> Auf der griechischen Insel Lesbos hat sich die Lage für viele Geflüchtete | |
> kaum verbessert. Für Menschen im Rollstuhl ist sie besonders schwer. | |
Bild: Zäune und Zelte: Kara Tepe am 19. September 2020 | |
LESBOS taz | Zwei Männer stützen Khaled Alafaat, als er aus seinem | |
elektrischen Rollstuhl heraus die Stützstangen ergreift. Dann zieht er sich | |
hoch und zwingt einen Fuß vor den anderen. „Nur noch einen Schritt“, sagt | |
der Syrer immer wieder. | |
Die Chilenin Fabiola Velasquez leitet das Therapeutenteam der | |
Physiotherapiepraxis von „Earth Medicine“ in der größten Stadt der | |
griechischen Insel Lesbos, Mytilini. Sie will heute Alafaats Gliedmaßen | |
vermessen. Velasquez sucht nach einem neuen Rollstuhl für den 33-Jährigen. | |
[1][Alafaat lebt in dem Lager, das in Deutschland Kara Tepe genannt wird.] | |
Kara Tepe entstand, nachdem in der Nacht zum 9. September in dem | |
Elendslager Moria am Strand der Insel Lesbos mehrere Brände ausgebrochen | |
waren. Bald stand das ganze Camp in Flammen. [2][Tausende wurden in dieser | |
Nacht obdachlos, viele mussten die folgenden Tage zunächst ohne jegliche | |
Versorgung auf der Straße verbringen.] | |
Das Ausweichlager für 5.000 ehemalige Moria-Bewohner nennt auf Lesbos | |
niemand Kara Tepe. Der Name bedeutet übersetzt „schwarzer Hügel“ und blei… | |
der geschlossenen Familienunterkunft oberhalb des Strandes vorbehalten. Das | |
neue Camp am Meer, in dem Khaled Alafaat nun lebt, nennen manche einfach | |
„Moria 2“. | |
2012 schlug im Norden Syriens eine Bombe in Alafaats Haus ein. Die Trümmer | |
verletzten ihn am Kopf. Seine Beine verkrampfen sich seitdem in Spastiken. | |
Alafaats Brüder trugen ihn 2019 in einem Leintuch auf ein Boot. Es brachte | |
ihn von der türkischen Küste nach Lesbos. | |
Seine Brüder schleppten Alafaat in dem Tuch wochenlang durch das Lager | |
Moria. Dort lebten sie außerhalb des eigentlichen Lagers im sogenannten | |
Dschungel. Den Mitarbeitern des Camps fiel der im Leintuch umhergetragene | |
Syrer schließlich auf. Sie brachten ihn in das Lager für Familien und | |
Kranke auf dem Hügel Kara Tepe. Doch nach dem Brand im Camp Moria vor einem | |
Jahr musste er umziehen: Die griechischen Behörden stampften das neue | |
Zeltlager am Strand aus dem Boden und schickten alle Migranten dorthin. | |
Alle anderen Camps wurden geschlossen. | |
## Strom gibt es nur für wenige Stunden am Tag | |
Das neue Lager liegt auf abschüssigem Gelände. Duschkabinen und Toiletten | |
liegen auf einer Kuppe über den Zelten. Sie sind mit einem normalen | |
Rollstuhl unerreichbar. Helfer organisierten Alafaat einen | |
Elektro-Rollstuhl, der den Anstieg zu den Sanitäranlagen bewältigt. Aber | |
der Kies scheuerte die Reifen auf und der Sand blockierte die Technik. Ein | |
elektrischer Rollstuhl ist nicht für ein Leben in einem Camp gemacht. | |
Seine Familie bettet den 33-Jährigen in dem Lager auf dem Boden, um ihn mit | |
einem Eimer Wasser zu waschen. Sie hieven ihn auf die Dixi-Klos. Alafaat | |
verbrachte den Winter in einem Wohncontainer – einem der wenigen, die es in | |
dem Lager gibt. Der elektrische Rollstuhl wäre draußen im Schlamm stecken | |
geblieben. Während der Hitzewelle im August verwandelte sich der Container | |
in einen Backofen. „Helfer haben uns einen Ventilator gegeben, aber wir | |
haben nur drei Stunden am Tag Strom im Lager“, sagt der Syrer. Bald könnten | |
schon wieder Feuchtigkeit und Kälte der Familie den Schlaf rauben. Ohne | |
Strom funktionieren auch keine Heizstrahler. „Ich habe große Angst vor dem | |
Winter“, sagt er. | |
Fabiola Velasquez massiert und trainiert in ihrer Praxis in Mytilini ihre | |
verletzten Patienten aus dem Zeltlager, damit sich ihr Zustand nicht noch | |
mehr verschlechtert. Sie könne angesichts der Lebensbedingungen dort keine | |
Fortschritte erreichen, sagt die Therapeutin. „Ich kann nur verhindern, | |
dass es schlimmer wird.“ Sie blättert in ihrem Terminkalender. 70 Patienten | |
kommen regelmäßig zu ihr in die Therapie. Wäre sie nicht auf Lesbos, würde | |
sich niemand um die Rollstuhlfahrer von Kara Tepe kümmern, meint sie. Was | |
tut der griechische Staat? Die Therapeutin zuckt mit den Schultern. | |
Ein meterhoher Zaun umgibt das neue Lager am Strand. Polizisten stehen in | |
Kampfmontur und mit Schilden am Eingang. Sie kontrollieren, wer in das Camp | |
hineingeht und wer es verlässt. | |
Wer das abgeriegelte Lager besuchen will, braucht Helfer, die Risiken | |
eingehen. Journalisten ist der Besuch des neuen Camps seit der Eröffnung | |
nach dem Brand in Moria nicht gestattet. Sie mitzubringen ist auch | |
verboten. Vor der Pandemie hieß es zur Begründung, es ginge um die | |
Privatsphäre der Geflüchteten. Seitdem das Coronavirus auch in Griechenland | |
umgeht, wird auf den Infektionsschutz verwiesen. | |
Nur Handyvideos von Bewohnern und Helfern informierten im vergangenen | |
Oktober die Öffentlichkeit darüber, dass das neue Lager im Schlamm versank. | |
Niemand sonst hätte von dort berichten können. Die im Lager akkreditierten | |
Nichtregierungsorganisationen müssen ihre Mitarbeiter anmelden. Aber das | |
Personal der NGOs wechselt, und wer sich unverdächtig verhält, zieht keine | |
Aufmerksamkeit der Beamten auf sich. Die Polizisten stehen am Eingang des | |
Camps im Schatten ihrer Einsatzwagen und lassen Autos passieren, als ginge | |
sie das nichts an. | |
Der Kies auf den Wegen glänzt in der Mittagssonne weiß wie die Zeltplanen | |
und die vom Wind aufgewirbelte Gischt des Mittelmeers. Die Böen geben einen | |
ersten Vorgeschmack auf die bald Lesbos umtosenden Herbststürme. Sie | |
wirbeln Staub in die Luft und blähen die zwischen den Zelten als | |
Sonnenschutz gespannten Tücher auf. Der Wind weht immerhin den Geruch der | |
Dixi-Klos von den Zelten weg. Der Weg führt an einem weiteren Wachposten | |
vorbei zu einer Insel von Containern in dem Meer aus Zelten. Hier leben | |
Menschen wie Khaled Alafaat, denen ein Schlafplatz auf dem Boden eines | |
Zeltes nicht mehr zuzumuten ist. | |
Die Bewohner meiden den Sturm und die Glut in der Mittagszeit. Einige | |
Somalierinnen halten auf einem Pfad zwischen den Zelten im Wind ihre | |
Kopftücher fest. Sie schützen mit den Händen vor der Stirn ihre Augen vor | |
dem Sand. Ansonsten wirkt das Camp wie ausgestorben. Aus dem Dschungel von | |
Moria ist eine Wüste geworden. | |
Die Gassen rund um den Hafen von Mytilini liegen vom Zeltlager Mavovrouni | |
aus gesehen auf einem anderen Planeten. Auch hier brennt die Sonne, es weht | |
eine Brise. Touristen schauen unter Markisen dem Eis in ihren Frappés beim | |
Schmelzen zu. Anders als zur Zeit des Lagers Moria laufen ihnen kaum noch | |
Geflüchtete über den Weg. Die Campbewohner brauchen in der Pandemie für | |
jeden Schritt außerhalb des neuen Lagers eine Genehmigung. | |
## Unklar, was mit den Geflüchteten auf dem Festland passiert | |
Nur eines von sieben Kindern aus dem Lager konnte nach Angaben der | |
Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch im vergangenen Jahr zur | |
Schule gehen. Dabei ist ein Drittel der Campbewohner im schulpflichtigen | |
Alter. Es sind auch viel weniger Migranten auf der Insel als vor dem Brand. | |
23.000 Menschen wohnten im März 2020 im „Dschungel“ von Moria. 12.600 waren | |
es, als in der Nacht vom 8. auf den 9. September der Suche nach 35 | |
Coronainfizierten im Camp zuerst ein Tumult und dann Feuer folgte. Circa | |
5.000 sind davon noch übrig. Wo ist der Rest geblieben? | |
Der deutsche Helfer Patrick Münz beißt in einem der Cafés, in dem | |
Geflüchtetenhelfer in Mytilini noch freundlich bedient werden, in ein | |
Sandwich. Münz arbeitet auf Lesbos für die Stuttgarter Hilfsorganisation | |
Stelp und die an der Luftbrücke nach Kabul beteiligte Gruppe | |
[3][„#LeaveNoOne Behind“]. | |
Die griechische Regierung habe nach dem Brand ihre Versprechen an die | |
Bevölkerung der Inseln eingelöst, die überfüllten Camps zu leeren, erklärt | |
der Helfer. „Sie haben in kurzer Zeit sehr vielen Menschen Asyl gewährt und | |
sie aufs Festland gebracht, wofür sie früher unglaublich lange gebracht | |
haben“, sagt Münz. Was wie eine gute Nachricht für die Geflüchteten klingt, | |
sei aber keine. Denn bei der Ankunft im Hafen von Piräus erwarte die | |
Geflüchteten von den Inseln nichts, erklärt er. | |
## Aus den Augen aus dem Sinn | |
Der griechische Migrationsminister Notis Mitarachi stellte im vergangenen | |
Jahr klar, dass anerkannte Asylbewerber selbst für sich zu sorgen hätten. | |
Ohne einen Cent in der Tasche und oft nicht eines Wortes Griechisch | |
mächtig, verlieren sich die Pfade Tausender Geflüchteter mit Schutzstatus | |
auf den Plätzen und Straßen Athens. In den Lagern auf den Inseln bleiben | |
die abgelehnten Asylbewerber zurück, in der Regel Afghanen. Sie sollen nach | |
den Regeln des EU-Türkei-Abkommens zurück in die Türkei geschickt werden. | |
Doch Ankara stellt sich stur. | |
Nach dem Sieg der Taliban in Afghanistan gebe es für die Afghanen von | |
Lesbos eher Anlass zur Ratlosigkeit als zur Hoffnung, meint Münz. „Afghanen | |
müssen jetzt nachweisen, dass ihnen in der Türkei Gefahr droht“, sagt Münz. | |
Die Griechen adeln nun ausgerechnet den Erzfeind als sicheren Drittstaat, | |
um dorthin abschieben zu können. Der Migrationsminister reagierte auf den | |
Einmarsch der Taliban in Kabul mit der Ankündigung, die Grenzanlagen zu | |
verstärken. | |
Ein Lager neuen Typs soll bis Ende des Jahres in einem dünn besiedelten | |
Landstrich im Zentrum von Lesbos entstehen und das Zeltlager am Strand | |
ersetzen. Auch auf anderen Inseln wird gebaut. Athen verspricht würdige | |
Lebensbedingungen. Der deutsche Helfer glaubt dagegen, dass die neuen Lager | |
die Geflüchteten so weit wie möglich aus dem Blickfeld der Griechen und | |
Touristen verbannen sollen. Das Camp am Strand von Lesbos ist noch nicht | |
das Ende der Welt. | |
7 Sep 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Arzt-ueber-das-Lager-Kara-Tepe-auf-Lesbos/!5760664 | |
[2] /Fluechtlingslager-Moria-in-Flammen/!5713341 | |
[3] /Fluechtlinge-aus-Griechenland-in-Berlin/!5726250 | |
## AUTOREN | |
Cedric Rehman | |
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