# taz.de -- Afghanische Geflüchtete in Griechenland: Abschreckung mit Schallka… | |
> Die griechische Regierung hält Migrant:innen aus Afghanistan und | |
> anderen Ländern fern – mit juristischen Tricks und rabiater Behandlung. | |
Bild: Der junge Afghane Amrullah Mirzada bei einem Straßenfest in Athen | |
ATHEN taz | Amrullah Mirzadah, 28, pechschwarzes Haar, klein, kräftig, in | |
afghanischem Stil gekleidet, hilft den Frauen an diesem letzten, | |
spätsommerlichen Samstag im September auf einem weitläufigen Platz in der | |
Athener Innenstadt. Sie bereiten Bolani zu, die ausgesprochen leckeren | |
afghanischen gefüllten Teigfladen. Sie sind sehr begehrt an diesem lauen | |
Abend auf dem antirassistischen Festival, organisiert von zahlreichen | |
griechischen Flüchtlingshelfern. | |
Mirzadah ist ein Hazara, spricht Persisch und ist anders als die | |
sunnitische Mehrheit von Afghanistan ein Schiit. Er kommt aus der | |
100.000-Einwohner-Stadt Baghlan, drei Autostunden nördlich von Kabul | |
gelegen. | |
Traurige Berühmtheit erlangte der Ort, als bei dem Besuch einer | |
afghanischen Parlamentariergruppe in der vom deutschen | |
Entwicklungsministerium unterstützten Zuckerfabrik im November 2007 ein | |
Bombenattentat verübt wurde. Mindestens 75 Menschen starben, darunter waren | |
60 Kinder. Im April 2010 wurden vier Bundeswehrsoldaten bei einer | |
Patrouille attackiert und getötet. Ein weiterer Bundeswehrsoldat kam sechs | |
Monate später bei einem Selbstmordanschlag ums Leben, sechs weitere | |
erlitten zum Teil schwere Verletzungen. | |
Zwischen vier und acht Millionen Hazara leben in Afghanistan. Als die | |
Taliban in den 1990er-Jahren an die Macht kamen, [1][fingen sie an, die | |
Hazara systematisch zu verfolgen. Für die sunnitischen Hardliner waren sie | |
schlicht Ungläubige.] Nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15. | |
August fürchten die Hazara erneut Verfolgung und Massaker an ihrer | |
Minderheit. Zu Recht. Wer kann, der flieht. | |
## Moria war die „Hölle“ | |
Amrullah Mirzadah floh schon 2019 mit seiner Frau Latifa. Vor dem Terror, | |
vor der Armut. Vier Monate brauchten sie, bis sie über den Iran und die | |
Türkei Europa erreichten, erzählt er. Ihre erste Station war [2][das | |
berüchtigte Lager in Moria auf der Insel Lesbos] in der Ostägäis. Wie war | |
es dort, Amrullah? „Nicht gut. Wie heißt das Gegenteil von Himmel?“, fragt | |
Mirzadah. „Hölle.“ Mirzadah nickt. „Das war die Hölle.“ | |
Amrullah und Latifa erlebten noch am 9. September des vorigen Jahres den | |
Brand, der die „Hölle Moria“ in Schutt und Asche legte. Zuvor hatte Latifa | |
ihren Sohn Hamraz zur Welt gebracht. Die Familie Mirzadah durfte nach | |
Athen. In der griechischen Hauptstadt warten sie nun geduldig darauf, dass | |
über ihren Asylantrag entschieden wird. | |
Die Familie Mirzadah ist schon in Hellas, so wie Tausende ihrer Landsleute. | |
Nach dem Sieg der Taliban wurde vor einem Massenexodus aus Afghanistan | |
gewarnt – in Richtung Europa, vor allem nach Griechenland. Doch der | |
befürchtete Ansturm von Flüchtlingen und Migranten auf den EU-Außenposten | |
blieb aus. Bisher jedenfalls. | |
In Griechenland liegt die Zahl der neu ankommenden Geflüchteten und | |
Migrant:innen in den ersten acht Monaten des laufenden Jahres so niedrig | |
wie lange nicht. Gerade 5.406 Neuankömmlinge schafften es zwischen dem 1. | |
Januar und dem 31. August 2021, über die Festlandsgrenze zur Türkei sowie | |
die Seegrenze im östlichen Mittelmeer den EU-Außenposten Hellas zu | |
erreichen. | |
## Weniger schaffen es nach Griechenland | |
Das entspricht einem Rückgang von 53 Prozent im Vergleich zum | |
entsprechenden Vorjahreszeitraum. Damals hatten die griechischen Behörden | |
noch 11.497 Neuankömmlinge gezählt. Die Zahlen gab das Athener | |
Migrationsministerium offiziell bekannt. | |
Auch in den ersten Septembertagen dieses Jahres haben es nicht viele | |
Flüchtlinge und Migranten nach Griechenland geschafft. Jüngsten Angaben des | |
UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) zufolge seien 555 Menschen in den ersten | |
19 Tagen des Septembers in Griechenland angekommen. | |
Damit setzt sich der radikale Abwärtstrend in Sachen neu ankommender | |
Migrant:innen in Griechenland fort. Konkret: Im Gesamtjahr 2020 | |
registrierte Griechenland gerade 14.848 neue Geflüchtete und | |
Migrant:innen – 80 Prozent weniger als 2019. Im Jahr 2015 hatte das | |
UNHCR noch 861.630 Ankömmlinge registriert. | |
Gut 99 Prozent kamen damals über das Meer nach Griechenland. Ein | |
drastischer Rückgang ist im Jahresverlauf 2021 auch bei den auf den | |
griechischen Inseln in der Ostägäis ausharrenden Asylbewerbern | |
festzustellen. Ende August 2021 weilten in den fünf sogenannten Hotspots | |
auf den Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos sowie auf kleineren | |
Inseln nur noch 5.264 Asylbewerber, insgesamt wohlgemerkt. Im August 2020 | |
zählte man auf den griechischen Inseln in der Ostägäis noch 27.576 | |
Asylbewerber. | |
## Premier will wenige Migrant:innen | |
Nach Angaben des Athener Migrationsministeriums hielten sich am 31. August | |
2021 in ganz Griechenland genau 42.181 Asylbewerber auf – ein Drittel | |
weniger als zu Jahresbeginn. Auch hier gilt: Die Zahlen sinken bereits seit | |
Ende 2019 drastisch. | |
Die Gründe für den deutlichen Rückgang der Geflüchteten- und | |
Migrant:innenzahlen in Griechenland liegen vor allem in der | |
restriktiven [3][Politik der konservativen Regierung unter Premier Kyriakos | |
Mitsotakis]. Seit ihrem Amtsantritt am 8. Juli 2019 verfolgt sie das Ziel, | |
die Zahl neuer Asylbewerber so weit es geht zu drücken. Die Grundpfeiler | |
dafür waren schon zuvor gelegt: nämlich die Schließung der Balkanroute | |
Anfang 2016 und der EU-Türkei-Flüchtlingsdeal im März 2016. | |
Beide versperrten vielen Geflüchteten und Migrant:innen den Weg nach | |
Mittel- und Nordeuropa – Traumziel: Deutschland. Oberste Priorität der | |
Regierung Mitsotakis ist es zudem, die Festlands-und die Seegrenze zur | |
Türkei zu „versiegeln“, um nicht zuletzt Schleppern das Handwerk zu legen. | |
Griechenland soll eine Festung sein. Das hat Premier Mitsotakis zuletzt | |
noch einmal unverhohlen klargestellt. | |
Das ist mittlerweile erreicht: An der Festlandsgrenze zur Türkei wurden der | |
seit Sommer 2012 bestehende Grenzzaun am Fluss Evros verstärkt und um 27 | |
Kilometer verlängert, die Patrouillen verstärkt und modernste Geräte bei | |
der Suche nach Menschen eingesetzt, die die Grenze illegal überschreiten | |
wollten. Stichwort: Hightech-Festung Europa. Sogar Schallkanonen kommen zur | |
Abwehr von Neuankömmlingen zum Einsatz. Mit Lärmsalven werden Flüchtlinge | |
und Migranten von der Überquerung der Grenze abgehalten. | |
## Mehr Gefängnis als Aufnahmelager | |
In der Ostägäis ist das ein ungleich schwereres Unterfangen. Hier müssen | |
offenkundig andere, rechtswidrige Methoden her, um den Flüchtlingsstrom | |
einzudämmen, nämlich die sogenannten Pushbacks. Das sind illegale | |
Zurückweisungen von Geflüchteten, denen so keine Chance geboten wird, | |
überhaupt einen Asylantrag zu stellen. Das scheint effektiv zu sein, | |
verstößt aber gegen das Völkerrecht und die EU-Grundrechtecharta. | |
Das ist zumindest der griechischen Regierung gleichgültig. Auch wer es doch | |
irgendwie nach Griechenland schafft, wird sich kaum wohlfühlen. Der Athener | |
Migrationsminister Notis Mitarakis weihte erst kürzlich das neue | |
geschlossene Flüchtlingslager auf der Insel Samos ein. Kritiker monieren, | |
es gleiche eher einem Hochsicherheitsgefängnis für Schwerverbrecher als | |
einem Aufnahmelager für Geflüchtete und Migrant:innen in Europa. Fest | |
steht: Es ist nicht überfüllt. | |
Das soll auch so bleiben. Das Prinzip Abschreckung gelte in allen Phasen im | |
Umgang mit den Geflüchteten in Griechenland, von der Ankunft bis zur | |
Integration, klagt Georgia Spyropoulou, eine Athener Anwältin von der | |
Griechischen Liga für Menschenrechte (Hellenic League for Human | |
Rights/HLHR). | |
„Die griechische Regierung hat mit einem am 7. Juni veröffentlichten | |
Ministerialbeschluss [4][die Türkei als sicheren Drittstaat für | |
Asylsuchende aus fünf Herkunftsländern] eingestuft: für Bürger aus | |
Afghanistan, Syrien, Somalia, Pakistan und Bangladesch. Der Punkt ist: | |
Aktuell sind 67 Prozent aller Asylsuchenden in Griechenland aus eben diesen | |
fünf Staaten“, betont Spyropoulou. | |
## Geflüchtete „hängen in der Luft“ | |
In der Praxis bedeute dies, dass der Asylantrag von Asylbewerber:innen | |
beispielsweise aus Afghanistan, die Griechenland über die Türkei erreicht | |
haben, erst gar nicht in der Sache geprüft werde, kritisiert Spyropoulou. | |
Ohne positiven Asylbescheid heißt dies aber: Sie müssen zurück in die | |
Türkei. | |
Der Haken dabei ist, dass die Türkei seit dem Ausbruch der Coronapandemie | |
im März 2020 keine Rückführungen aus Griechenland mehr zulasse. So würden | |
diese Menschen auf unabsehbare Zeit in Lagern wie auf Samos festgehalten, | |
so Spyropoulou. „Sie hängen in der Luft“, fügt sie hinzu. | |
Der Athener Migrationsminister Notis Mitarakis ist hingegen zufrieden. „Wir | |
haben unser juristisches Waffenarsenal verschärft, indem wir die Türkei zum | |
sicheren Drittstaat für Bürger aus fünf Staaten erklärt haben. Das stellt | |
eine Abschreckung auch für die Bürger Afghanistans dar, weil sie vorab | |
wissen, dass sie hier keinen positiven Asylbescheid erhalten werden, wenn | |
sie über die Türkei nach Griechenland gekommen sind.“ | |
Die Strategie der Regierung Mitsotakis in Sachen Flüchtlinge und Migration | |
lautet: Abschreckung, Abschreckung, Abschreckung. Die Ereignisse in | |
Afghanistan haben das noch befeuert. Unmittelbar nach der | |
Taliban-Machtübernahme in Kabul kam der oberste Verteidigungs- und | |
Sicherheitsrat (KYSEA) unter Beteiligung des Chefs der griechischen | |
Streitkräfte zu einer außerordentlichen Sitzung in Athen zusammen. | |
Das einzige Thema: Den befürchteten Flüchtlingsstrom aus Afghanistan zu | |
stoppen, falls nötig mit zusätzlichen Maßnahmen zur Grenzsicherung der See- | |
und Festlandsgrenze zur Türkei. Es ist amtlich: Die Griechen sehen | |
Migrant:innen als gefährliche Eindringlinge, die vom Erzfeind Türkei | |
unter Autokrat Recep Tayyip Erdoğan in einem Hybridkrieg gegen Griechenland | |
instrumentalisiert werden. | |
Migrationsminister Mitarakis nimmt kein Blatt vor den Mund: „Wir werden so | |
etwas wie im Jahr 2015 nicht wiedererleben. Griechenland kann und wird für | |
Schleuser nicht mehr das Einfallstor nach Europa sein. Die EU kann und darf | |
nicht der Zufluchtsort für all diejenigen sein, die illegal unsere Grenzen | |
zu überqueren versuchen.“ | |
30 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ferry Batzoglou | |
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