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# taz.de -- Flüchtende auf Samos: Hinter Stacheldraht
> Die EU lässt ein gefängnisartiges Lager auf der griechischen Insel Samos
> errichten. Flüchtende fürchten, zu Gefangenen zu werden.
Bild: Das neu errichtete Flüchtlingslager auf Samos gleicht einem Hochsicherhe…
Während Sie diesen Text lesen, werden auf der griechischen Insel Samos
Menschen in [1][ein neues Lager für Asylsuchende] gebracht. Viele von ihnen
gegen ihren Willen. Dieses gefängnisähnliche Lager liegt sehr abgelegen an
einem Ort namens Zervou, ist mit Stacheldraht umzäunt und einem modernen
Überwachungssystem ausgestattet. Millionen Euro wurden für den Bau des
Lagers ausgegeben.
All das, um Menschen festzuhalten, deren einziges Verbrechen darin besteht,
in der Europäischen Union Schutz und Stabilität zu suchen. Menschen, die
auf diese Weise stattdessen nur weiter erniedrigt und ausgegrenzt werden.
Genau wie die massenweise Ablehnung von Asylanträgen wird dieses neue Lager
so zum Symbol für die völlige Ablehnung von Geflüchteten und ihrem Recht,
Asyl zu suchen. Seit Monaten schon haben unsere Patient*innen auf Samos
Angst davor, in dem neuen Lager eingesperrt zu werden.
Sie fühlen sich hilflos und völlig auf sich allein gestellt. Für Menschen,
die Folter durchlebt haben, bedeuten die strengen Kontrollen im Lager nicht
nur einen Verlust von Freiheit. Sie können die Menschen auch
retraumatisieren. Die meisten unserer Patient*innen haben Symptome von
Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen.
Rund zwei Drittel der Patient*innen, die von April bis August zum ersten
Mal in unsere Klinik für psychische Gesundheit kamen, brachten
Selbstmordgedanken zum Ausdruck. 14 Prozent waren akut suizidgefährdet. Das
sind schockierende Zahlen. Diese Menschen leiden unmittelbar unter der sich
immer weiter verschärfenden europäischen Migrationspolitik. Als
Psychologinnen erleben wir täglich mit, wie sich ihr psychischer und
physischer Zustand immer weiter verschlechtert.
Die Eröffnung des neuen Lagers macht etwas mit der kollektiven Identität
der Geflüchteten, mit ihrem Selbstwertgefühl und ihrer Würde: Europa bricht
diese Menschen. Was sollen wir einem jungen Mann sagen, der, obwohl er nie
ein Verbrechen begangen hat, in einem gefängnisähnlichen Lager eingesperrt
ist? Einer unserer Patienten ist ein 19-Jähriger aus Mali, der bereits seit
zwei Jahren auf Samos festsitzt. Vor einigen Jahren hat er seine Heimat
verlassen, weil er dort gefoltert wurde.
## Erst Geflüchteter – jetzt Gefangener
Er kam nach Europa mit der Hoffnung auf ein besseres Leben, auf Sicherheit.
Inzwischen ist er extrem verzweifelt und stellt seine Existenz in Frage.
Die Angst vor dem neuen Lager hat in ihm bereits eine Reihe von
psycho-emotionalen Reaktionen ausgelöst. Wie lange kann er sich noch
vorstellen, all diesen Schmerz und diese Frustration zu ertragen? Als wir
ihn fragen, was er sich wünscht, lautet seine Antwort: „Meine Freiheit. Bis
jetzt war ich ein Geflüchteter, jetzt werde ich ein Gefangener sein.“
Die Ungewissheit, der mangelnde Schutz und die völlige Missachtung
menschlichen Lebens werfen Fragen auf, auf die die griechischen und
europäischen Behörden keine Antwort geben, und dies nicht erst seit
gestern. Patient*innen auf den griechischen Inseln berichten uns seit
Jahren, wie sie unter der dauerhaften Belastung leiden. Sie leben unter
schwersten Bedingungen.
Dazu gehören komplizierte Behördenvorgänge und Asylprozeduren, eine
andauernde Unsicherheit, Gewalt, die Trennung von Angehörigen und Kinder,
die nicht in die Schule gehen können sowie eine mangelnde
Gesundheitsversorgung. Felicite (Name geändert) ist seit Februar 2021
Patientin in unserer psychiatrischen Klinik. Sie hat weibliche
Genitalverstümmelung, eine Zwangsheirat im Alter von 14 Jahren und über
viele Jahre extreme sexualisierte und körperliche Gewalt durch ihren 30
Jahre älteren Ehemann überlebt.
## Schwere Traumata
Sie wurde Opfer von Menschenhändlern und befindet sich seit zwei Jahren auf
Samos. Ihr Antrag auf Anerkennung des Flüchtlingsstatus wurde bereits
zweimal abgelehnt. Das bedeutet, dass sie keinen Zugang zu den
grundlegenden Dienstleistungen im Lager hat, zum Beispiel zur
Nahrungsmittelversorgung. Seit vier Monaten wartet sie nun auf eine neue
Entscheidung ihres Asylantrags. „Werde ich verhungern?“ Diese Frage stellt
sie sich mit gutem Grund.
Für Menschen, die einer derart gewalttätigen Migrationspolitik ausgesetzt
sind, bedeutet die Eröffnung dieses neuen Lagers ein Ende: das Ende eines
Sinns zu leben, das Ende ihrer Geduld, das Ende der rudimentären Freiheit,
die sie hatten, das Ende jeder Möglichkeit, an Aktivitäten eines normalen
Lebens teilzunehmen, wie zum Beispiel mit ihren Kindern am Strand oder auf
dem Marktplatz spazieren zu gehen oder in dem Supermarkt in der Stadt
einzukaufen.
Wir schämen uns für Europa und die Werte, die es vorgibt zu haben, die für
unsere Patient*innen hier auf Samos aber nicht zu gelten scheinen. Wie
einfach wäre es, diese Situation zu ändern und dem Leben von Hunderten
Menschen, die in Europa internationalen Schutz suchen, einen neuen Sinn zu
geben? Es bräuchte den politischen Willen und die Achtung der
Menschenwürde. Europa und Griechenland müssten für menschenwürdige
Alternativen zu den Lagern sorgen.
Sie müssten den Zugang zu einem [2][fairen Asylverfahren] ermöglichen und
eine Gesundheitsversorgung sicherstellen, die auf die Bedürfnisse von
Menschen, die vor Gewalt, Konflikten und Traumata fliehen, zugeschnitten
ist. Dann könnten wir unseren Patient*innen auch wirklich helfen. Jeden
Tag vertrauen uns die Menschen hier ihre Geschichten an. Wir bewundern sie
für ihre Widerstandsfähigkeit. Wir sind da, um ihnen einen sicheren Ort zu
bieten.
[3][Wir sind da, damit sie sich bei uns anlehnen] und mit uns ihre Ängste
über vergangenes und befürchtetes Leid teilen können. Aber solange die
Politik, die dieses Leid verursacht hat, nicht aufhört, werden wir diesen
Menschen nicht wirklich helfen können. Wir werden einfach hier bleiben und
ihnen dabei helfen zu überleben. Nicht zu leben und zu heilen. Zu
überleben, mehr nicht.
12 Oct 2021
## LINKS
[1] /Gefluechtete-auf-griechischen-Inseln/!5802367
[2] /Europa-und-die-Fluechtlinge/!5669661
[3] https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/unsere-arbeit/aktuelles/weltfluechtlings…
## AUTOREN
Betty Siafaka
Eva Papaioannou
Eva Petraki
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
EU-Grenzpolitik
Samos
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Kolumne Grandios geglückt
Abschiebung
Griechenland
Schwerpunkt Flucht
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