# taz.de -- Rettung aus Afghanistan: In der Hölle | |
> Tausende Menschen in Afghanistan haben gehofft, ausfliegen zu können. | |
> Viele von ihnen haben für Deutschland gearbeitet, jetzt sitzen sie fest. | |
> Vier Protokolle. | |
## „Ich hab uns noch nicht aufgegeben“ | |
Die Explosion am Donnerstag konnte ich bis in mein Versteck im Keller | |
hören. Wir sind in einem Haus, vier Kilometer vom Flughafen in Kabul | |
entfernt. Meine Familie versteckt mich hier, weil ich einen deutschen Pass | |
habe. Falls die Taliban mich finden, wäre das mein Ende. | |
Ich versuche seit sieben Tagen, jemanden beim Auswärtigen Amt zu erreichen. | |
Als Antwort bekomme ich nur eine automatisch generierte Mail. Darin steht, | |
dass die Lage am Flughafen sehr unübersichtlich ist und dass sie alles tun, | |
um uns Deutschen zu helfen. | |
[1][Ich bin in Kabul geboren]. Mit elf Jahren kam ich mit meiner Mutter | |
nach Deutschland. Nach meiner mittleren Reife in Euskirchen habe ich dort | |
eine Baufirma gegründet und bekam die deutsche Staatsangehörigkeit. Nachdem | |
die Taliban in Afghanistan gestürzt wurden, gründete mein Vater in Kabul | |
eine Firma und bat mich um Hilfe. Deshalb bin ich nach Afghanistan. Hier | |
habe ich meine Frau kennengelernt, wir haben drei kleine Töchter. | |
Ich habe mich nicht getraut, zum Flughafen zu gehen. Ich hätte ja nach | |
Deutschland fliegen können, aber was wäre dann mit meinen Töchtern und | |
meiner Frau? Die haben einen afghanischen Pass und hätten nicht an Bord | |
gedurft. Alles war voll von Taliban, überall kontrollierten sie. Wenn wir | |
ohne Visum in dieses Chaos gegangen wären, hätten wir sterben können. | |
Ich bin in einem demokratischen Land aufgewachsen. Ich will, dass meine | |
Töchter Folgendes lernen: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Unter den | |
Taliban ist das nicht möglich, da sind Frauen nur Menschen zweiter Klasse. | |
Ich bin auch nach Afghanistan gekommen, um etwas zurückzugeben. Die Leute | |
sollen auch hier wissen, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Wir | |
Deutschen mit afghanischen Wurzeln haben eine Verantwortung, wir sollten | |
hier im Land helfen. Aber plötzlich wurde hier alles zerstört, was man in | |
20 Jahren aufgebaut hat. | |
Dass die Taliban so schnell an die Macht kommen, überraschte mich. Ich | |
hatte das Gefühl, in einem sicheren Schwimmbad zu schwimmen. Auf einmal | |
wirft jemand einen Hai in das Becken. Wenn Deutschland uns bis zum 31. | |
August nicht rausholen kann, dann muss die Bundesregierung wenigstens | |
meiner Familie und mir ein Onlinevisum für Pakistan besorgen, damit wir | |
irgendwie hier wegkommen. Auch wenn das gerade unmöglich scheint. | |
Ich habe uns noch nicht aufgegeben. Noch geht es uns gut. Hier unten bin | |
ich sicher. Wir können uns zwar draußen nicht frei bewegen, aber wir haben | |
Essen und Trinken, Handys und Strom. Ich hoffe, dass die Taliban uns nicht | |
abhören. Noch haben wir Internet. Das freut mich, ich kann Bundesliga | |
schauen. Ich bin großer Fan des FC Bayern München. Um mein eigenes Leben | |
habe ich keine Angst. Aber meine Töchter sollen in Frieden aufwachsen. Sie | |
können nicht hier bleiben. Ich muss sie hier irgendwie rauskriegen. | |
Sekandar Noor, 41 Jahre | |
## „Ich weiß nicht, ob ich das Glück nennen soll“ | |
Am 13. August bin ich aus Afghanistan nach Deutschland geflogen. Ich weiß | |
nicht, ob ich das Glück nennen soll. Seit ich 2016 nach Deuschland floh, | |
wohne ich in Bonn. Davor habe ich im Medienzentrum in Masar-i-Scharif | |
gearbeitet, das auch von der Bundeswehr finanziert wurde. | |
Fast meine ganze Familie hat irgendwas für die Bundeswehr oder die | |
deutschen NGOs gemacht: meine Mutter seit 2014 bei der GIZ als Köchin. | |
Einer meiner Brüder hat bei der Bundeswehr als Dolmetscher gearbeitet. Mein | |
Vater war bis vor kurzem in der afghanischen Armee. Jetzt sitzen meine | |
Eltern und Geschwister zu fünft in einem kleinen Zimmer in Kabul fest. Alle | |
meine Gedanken sind dort, ich rufe zehn Mal am Tag an, schreibe Mails ans | |
Auswärtige Amt, an die GIZ, und erreiche nichts. | |
Ich bin Mitte Juli [2][nach Masar-i-Scharif gereist], um meine Familie zu | |
besuchen. Die Lage war noch nicht so schlimm, und ich wollte bei ihnen sein | |
und helfen. | |
Was ich in dem Monat erlebt habe, wünsche ich niemandem. Wir haben die | |
Uniformen meines Vaters und die Dokumente verbrannt. In einer Nacht wurden | |
elf Raketen abgeschossen. Wir sind vor Angst durch die Zimmer gerannt. | |
Sowas kannte ich nur aus Filmen. Meine kleine Schwester weinte die ganze | |
Zeit, sie ist 14. Wir haben es dann geschafft, Flugtickets nach Kabul zu | |
kaufen. Ich hatte von dort meinen normalen Rückflug, für die anderen ging | |
es nicht weiter. | |
Die GIZ hat meiner Mutter mitgeteilt, dass sie Teil der Ortskräfte ist und | |
da bleiben soll, wo sie ist, bis klar ist, wann sie evakuiert werden kann. | |
Danach hat sie nichts mehr gehört. Lassen sie sie im Stich? Nachbarn aus | |
Masar-i-Scharif haben gesagt, die Taliban seien schon zweimal in unserem | |
Haus gewesen. | |
Mein Bruder hat vor zwei Monaten ein Visum bekommen und ein Flugticket für | |
den 16. August nach Nürnberg. Aber das war der Montag mit dem großen Chaos | |
am Flughafen. Er ist vor Angst wieder nach Hause gegangen. Er wurde | |
mehrmals von der Bundeswehr angerufen, aber er hat es nicht in den | |
Flughafen geschafft, obwohl er es jeden Tag versucht hat. Er hatte dort | |
drinnen keinen Ansprechpartner. Er wurde auf den Kopf geschlagen, hat | |
Pfefferspray in die Augen bekommen, die Taliban haben ihm bei einer | |
Kontrolle auch das Handy abgenommen. Gott sei Dank war er beim Anschlag | |
nicht in der Nähe des Flughafens. Jetzt stehen sie dort alle unter Schock. | |
Ich weiß nicht, was ich noch tun soll. Ich habe seit Wochen nicht richtig | |
geschlafen, mein Kopf explodiert. Ich bekomme nur automatische Antworten | |
auf meine E-Mails, dass es zu viele Anfragen gibt. Bei den Hotlines habe | |
ich 1.000 Mal anrufen. Ich sehe jeden Tag die Nachrichten vom Termin für | |
den Abzug, vom Ende der Flüge und meine Familie sieht sie auch. Das macht | |
mich einfach verrückt. Qais Z., 27 Jahre | |
## „Als Mann kann ich tagsüber nicht raus“ | |
Mit meiner Frau und meinen drei Kindern habe ich mich in einem Haus im | |
Norden von Kabul versteckt. Acht Jahre lang habe ich für die deutsche | |
Bundeswehr in Masar-i-Scharif als Übersetzer gearbeitet, erst bei den | |
Feldjägern, später für die Objektschutztruppe. Bei der Bundeswehr | |
angestellt war ich von 2007 bis 2015. | |
Damit entspricht meine Familie den Kriterien für Ortskräfte, die die | |
deutsche Regierung retten wollte. Aber wir werden immer wieder abgewiesen. | |
Ein Mitarbeiter der Bundeswehr sagte mir am Telefon, ich stehe nicht auf | |
der Liste der Ausreiseberechtigten. Ich solle im Iran oder in Pakistan Asyl | |
beantragen. Aber das geht nicht, die Grenzen sind dicht. Deutschland hat | |
uns versprochen zu helfen. Nichts passiert. Ich verstehe das nicht. | |
Vor drei Wochen haben Männer der Taliban nachts an unsere Tür in | |
Masar-i-Scharif geklopft. Ich habe meine Frau und meine Kinder in einen Bus | |
nach Kabul gesetzt und bin zurück ins Haus, wo ich vom Fernseher bis zu | |
meinen Hausschuhen alles eingesammelt und auf dem Markt verkauft habe. Von | |
diesem Geld leben wir jetzt, es reicht nicht mehr lange. Ich bin dann nach | |
Kabul und mit meiner Familie in einem Safe House des Patenschaftsnetzwerks | |
Afghanische Ortskräfte untergekommen. Nach 22 Tagen wurde es aus | |
Sicherheitsgründen aufgelöst. Wir mussten ein neues Versteck suchen. | |
Als Mann kann ich tagsüber nicht raus, es ist zu gefährlich. Die Taliban | |
kontrollieren vor allem Männer. Sie suchen deren Smartphones, um | |
Informationen über sie zu bekommen. Meine 11-jährige Tochter und mein | |
8-jähriger Sohn kaufen ein. Als Kinder sind sie unauffällig für die | |
Taliban, ich habe trotzdem Angst um sie. Ich habe ihnen gesagt, dass sie | |
mit niemandem sprechen dürfen, nur zum Laden und zurück. Noch gibt es die | |
meisten Lebensmittel, aber sie sind teuer. | |
Wir sind zuletzt in der Nacht auf Donnerstag zum Flughafen. Das Gate, an | |
dem die Deutschen vorher standen, war zu, keine Soldaten mehr da. Wir haben | |
bis nachmittags gewartet, dann sind wir zurück in unser Versteck gefahren. | |
Da sitzen wir jetzt und wissen nicht, wie es weitergeht. | |
Es geht uns schlecht, wir sind traumatisiert. Ich kann nicht schlafen, die | |
Gedanken rasen in meinem Kopf. Meine Kinder haben Angst. Meine älteste | |
Tochter hofft, dass ein Schutzengel kommt und uns rettet. Ich weiß nicht, | |
was ich ihr sagen soll. Mein 8-jähriger Sohn liebt Sport, er macht | |
Gymnastik und ist sehr gut. Er will Profisportler werden. Ich habe Angst, | |
dass er, wenn wir hier bleiben, Terrorist wird, sich dem IS anschließt. | |
Ich möchte so schnell wie möglich raus, egal wohin. Ich will ein sicheres | |
Zuhause und einen Job, mit dem ich meine Familie ernähren kann. Meine | |
Kinder sollen zur Schule gehen können und eine Zukunft haben. Masoud Azami, | |
50 Jahre. | |
## „Ich habe Angst“ | |
Gerade hab ich gehört, dass zwei meiner Cousinen von den Taliban entführt | |
wurden. Deswegen habe ich Angst, hier meinen vollen Namen zu sagen. Seit | |
Kabul von den Taliban eingenommen wurde, verstecken wir uns zu Hause. | |
Meine Familie wohnt am Rand von Kabul, weit weg vom Flughafen. Wir können | |
im Moment nicht nach draußen gehen. Wir haben Angst, weil wir so schlechte | |
Erinnerungen an die letzte Herrschaft der Taliban haben. Wir wissen, wie | |
diese Menschen sind und wie sie sich gegenüber Frauen und Mädchen in | |
Afghanistan verhalten. Nur mein Vater kann nach draußen gehen und uns etwas | |
zu Essen kaufen. | |
Aber selbst das ist sehr gefährlich. Wir gehören zu den Hasara, einer | |
ethnischen Gruppe, die von den Taliban abgelehnt wird. Mein Vater versucht | |
gerade für meine Mutter, meine Schwester und mich, irgendwoher Burkas zu | |
bekommen. Von meinen Nachbarn und Freunden habe ich gehört, dass die | |
Taliban die Mädchen mitnehmen, die keinen Hidschab oder keine Burka tragen. | |
Die Taliban haben viele Menschen aus dem Volk der Hasara getötet, vor allem | |
Hasara-Männer. Ich habe Angst, wenn mein Vater nach draußen geht. Denn wenn | |
sie herausfinden, dass er Hasara ist, wird es sehr schlimm. Aber | |
irgendjemand muss uns ja Essen besorgen. Bald haben wir ein neues Problem: | |
Unser Geld ist fast aufgebraucht. Alles in Kabul hat geschlossen, die | |
Verwaltung, die Büros und auch die Banken. Wir wissen nicht, wie wir an | |
unser Geld kommen sollen. | |
Ich habe einen Bachelor-Abschluss in Jura, ich habe an der American | |
University of Afghanistan studiert. Nebenbei habe ich angefangen, mit | |
einigen NGOs wie dem Human Rights Network zu arbeiten. Wir setzen uns vor | |
allem für die Rechte von Frauen ein. Dann habe ich für eine NGO gearbeitet, | |
die von einer Deutsch-Afghanin gegründet wurde. Dort habe ich eine Umfrage | |
zur Präsidentschaftswahl 2019 durchgeführt und die Bevölkerung über | |
Demokratie aufgeklärt. Seit die Taliban in Kabul eingefallen sind, bin ich | |
eingesperrt. Niemand weiß, ob die NGOs jemals wieder arbeiten können. | |
Alle meine Kontakte sagen, dass sich die Taliban nicht geändert haben. Das | |
sind Terroristen. Erst gestern wurde hier in unserer Straße ein Mädchen von | |
den Taliban verprügelt, weil sie die falschen Klamotten trug. Ich glaube, | |
dass die Taliban nur darauf warten, dass die ausländischen Truppen das Land | |
verlassen. Dann werden sie beginnen, sich an der Bevölkerung zu rächen. Vor | |
allem an den Mädchen und Frauen, die für NGOs gearbeitet haben und sich für | |
die Rechte der Frauen einsetzen. | |
Ich habe einige Ausreiseformulare online ausgefüllt, zum Beispiel für | |
Kanada und Deutschland, aber bis jetzt keine einzige Antwort erhalten. Zum | |
Flughafen fahren wir nicht. Das ist viel zu gefährlich. | |
Die pakistanische Grenze ist überfüllt. Die Taliban schicken wohl gerade | |
viele Truppen dahin. Ich dachte, das wäre vielleicht ein Weg. Aber auch der | |
scheint hoffnungslos. Zahra J., 26 Jahre | |
27 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Anne Fromm | |
Niko Kappel | |
Luise Strothmann | |
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