Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Solidarität mit Menschen in Afghanistan: Aus Schmerz wird Mut
> Wie Menschen in Hamburg darum kämpfen, dass den Festsitzenden in
> Afghanistan geholfen wird – der Ehefrau, dem Bruder und den Unbekannten.
Bild: Shayesta Wahdat kam vor 30 Jahren nach Deutschland. Sie denkt an ihre sch…
Hamburg taz | Für die älteste Tochter von Familie Rashmatian war der
Einmarsch der Taliban ein Glücksfall, auch wenn das makaber klingt. „Aber
weil sie 18 Jahre alt ist“, erklärt ihr Deutsch sprechender Cousin Masoud
Rashmatian, „hätte sie sonst allein in Afghanistan bleiben müssen.“ Die
Familie stand schon seit Monaten auf einer Liste für ausreiseberechtigte
Ortskräfte – aber ohne die Tochter.
Volljährige Kinder sollten von der Aufnahme in Deutschland ausgeschlossen
bleiben. Als die Taliban aber innerhalb weniger Tage die Kontrolle über das
ganze Land übernahmen, änderte das Auswärtige Amt seine Auffassung. Nun
durfte die Tochter doch mit. Drei Tage hätten sie am Kabuler Flughafen
gewartet, in der Hitze, ohne Essen und Toiletten. Irgendwann schafften sie
es an den Soldaten vorbei.
Wie genau – das sagen sie nicht, das sagt niemand, der es geschafft hat.
„Sie sind gerannt“, übersetzt der seit 2015 in Deutschland lebende
Rashmatian, der aus Dresden nach Hamburg gekommen ist, um seine Verwandten
zu begrüßen.
Hier steht nun die sechsköpfige Familie – zwei Töchter, zwei Söhne – mit…
in einem kahlen Industriegebiet im Hamburger Norden. Es nieselt, der Himmel
ist grau, und niemand weiß, wie es weitergehen wird.
„Was können Sie für unsere Familie tun?“, erkundigt sich die Mutter, die
wie die ältere Tochter ein akkurat sitzendes Kopftuch und ein langes,
dunkles Gewand trägt, mittels des übersetzenden Cousins. Nichts, leider,
muss die Reporterin gestehen. Okay, ein Nicken.
## Erst mal Kleidung gegen die Kälte besorgen
Die ältere Tochter umklammert mit beiden Händen eine goldbesetzte
Handtasche, um den Hals trägt sie eine lange goldene Kette. Ihr schwarzes
Kleid mit bunten Stickereien fällt elegant bis auf die Knöchel. „Ihnen ist
kalt“, übersetzt der Cousin. „Wir wollen Kleider kaufen.“
Das Gittertor der Notunterkunft für die Flüchtlinge, die in den letzten
Tagen aus Afghanistan evakuiert wurden, ist mit einer Plane bedeckt. Ein
Zaun umgibt das Gelände, dahinter stapeln sich beigefarbene Container in
der kargen Betonlandschaft.
Über 15 Jahre hat der Vater von Familie Rashmatian als Wachmann im Konsulat
in Herat für die Deutschen gearbeitet. Ein Anstecker an seinem alten, viel
zu großen schwarzen Jackett scheint das beweisen zu wollen: Eine deutsche
und eine afghanische Flagge stecken klein, aber unübersehbar an seiner
Brust. Er lächelt, faltet die Hände, bedankt sich mit Gesten für das
Gespräch und eilt zum Auto, einkaufen fahren.
## Rund 40.000 Afghan*innen leben in Hamburg
Hamburg ist der größte Ballungsraum für Exilafghan*innen in ganz Europa.
Rund 40.000 Afghan*innen leben hier. Sie wanderten in drei Wellen ein:
Zwischen 1950 und 1960 siedelten sich Kaufleute, vor allem Teppichhändler,
in den Lagerhäusern der Speicherstadt an, viele von ihnen und ihre
Nachkommen sind noch immer dort. 1978 begann mit der Machtübernahme der
Kommunisten in Afghanistan und der sowjetischen Besatzung eine große
Fluchtbewegung. Vor allem westlich orientierte Menschen und wohlhabende
Kaufleute verließen das Land. Mit dem Aufstieg der Taliban Anfang der
1990er flohen erneut viele Afghanen. Im Sommer der Migration 2015 kam
schließlich die vorläufig letzte große Fluchtbewegung.
[1][Damals], vor sechs Jahren kam auch Ismael Moradi. „Genau solche
Armreifen habe ich meiner Frau gekauft, sechs Stück“, sagt Moradi, 24 Jahre
alt, blaues T-Shirt und schwarze Kapuzenjacke, und zeigt auf eine Auslage
im Schaufenster. Filigran gearbeitete Goldreifen hängen dort auf schwarzem
Samt, daneben schwerere Armreifen, glitzernde Fingerringe und mehrteilige
Halsketten-Sets. Eine ganz ähnliche Kette habe er seiner Frau zur Hochzeit
geschenkt und einen Ring natürlich. Das war Anfang dieses Jahres auf einer
kurzen Besuchsreise in die alte Heimat, danach kehrte er nach Hamburg
zurück, sie aber blieb in Kabul und trägt heute ein Kind aus.
Außer dem Ring besitze sie jetzt nichts mehr, der Rest: verkauft. 4.500
Euro habe das Paar bezahlt, um Papiere für ein türkisches Visum zu
erhalten, sagt Moradi. Zwei Wochen bevor die Taliban Kabul eroberten,
reichten sie über einen Mittelsmann den Antrag beim türkischen Konsulat in
Kabul ein. Da liegt er nun, die Botschaft ist geschlossen. In der
afghanischen Hauptstadt harrt Moradis schwangere Frau aus, zusammen mit
seinen vier Geschwistern.
„Der [2][15. August] war der dunkelste Tag in meinem Leben“, sagt Moradi
mit Blick auf den an diesem Tag abgeschlossenen Einmarsch der Taliban in
Kabul, als er langsam den Steindamm im Hamburger Bahnhofsviertel St. Georg
entlanggeht. Die Straße gleicht keiner anderen in Hamburg – hier ist es
wuselig und laut, türkische und arabische Gemüseläden reihen sich an
indische Bekleidungsgeschäfte, kurdische Kulturvereine, Moscheen und
Kebab-Restaurants. Ismael Moradi befühlt eine Tadike-Melone, eine helle,
längliche Frucht tadschikischer Herkunft. „Hier schmecken sie nicht so
gut“, sagt er. „In Afghanistan sind sie sehr süß und weich.“
Moradi hat zwei Jobs in der Gastronomie, in der Küche. Zweimal am Tag
spricht er mit seiner Familie. Was berichten sie? „Alles schlimm“, sagt
Moradi. Er blickt zu Boden. Als ältestes Geschwister ist er verantwortlich
für die Jüngeren. Sein Vater ist schon seit elf Jahren tot. Die Taliban
hatten etwas dagegen, dass er Gemüse in der Stadt kaufte und es in seinem
Dorf wieder verkaufte, also brachten sie ihn um, berichtet der Sohn.
Moradis jüngster Bruder Mohammad Zia hat vor einigen Tagen noch versucht,
in den [3][Kabuler Flughafen] zu kommen. „Er hat ein Tattoo auf dem Arm,
die Taliban hassen Tattoos. Er hat große Angst“, sagt Moradi. Ein paar
Stunden habe sein Bruder versucht, an den Soldaten und der Menschenmenge
vorbeizukommen, er habe es nicht geschafft. Moradi schimpfte ihn am Telefon
aus: „Er steht auf keiner Liste und er hat kein Visum, wie kommt er darauf,
dass er es in ein Flugzeug schafft?“ Moradi schüttelt den Kopf. Sieben
Menschen sind am Tag der gescheiterten Flucht seines Bruders im Gedränge
vor den Toren des Flughafens gestorben. Sein Bruder habe geantwortet: „Du
bist in einem sicheren Land, du verstehst uns nicht.“
Im Sommer 2015, als Ismael Moradi zusammen mit vielen anderen
Afghan*innen und Syrier*innen am Hamburger Hauptbahnhof ankam, stand
dort schon Jawid Dostan in einer orangefarbenen Warnweste. Der junge
Landsmann organisierte die Schlafplätze, Weiterfahrten, kaufte Tickets,
hieß die Leute willkommen. Dostans Engagement ist seitdem nicht erlahmt. Er
ist ein Vollzeitaktivist, 25 Jahre alt und seit 2012 in Hamburg. Seine
Kopfschmerztablette kippt er mit einem Glas stillen Wassers herunter. Er
sitzt in einem Café am Hansaplatz, gleich um die Ecke von den afghanischen
Läden am Steindamm. Auch hier treffen sich viele seiner Landsleute. Dostan
zündet sich eine Zigarette an, obwohl er eigentlich mit dem Rauchen
aufgehört hatte. Seine erste paffte er wieder im Mai, nach einem
Sprengstoffanschlag auf die Schule in Kabul.
Vor drei Jahren hatte ihm ein Freund ein Mädchen vorgestellt, sie hieß
Sharara, lebte in Kabul und war sieben Jahre alt. Dostan schrieb aus
Deutschland an ihre Eltern: „Wenn ihr garantiert, dass sie keine Teppiche
knüpft, sondern stattdessen zur Schule geht, schicke ich euch monatlich
hundert Euro.“ Die Eltern willigten ein, drei Jahre lang durfte Sharara
lernen, weil Dostan das Geld schickte. Dann detonierte am 8. Mai dieses
Jahres eine Bombe in der Schule. Sharara und etwa 30 andere Mädchen
starben.
„Ich weiß nicht, wie ich den Schmerz beschreiben soll“, sagt Jawid Dostan.
„Es gibt keine Worte dafür.“ Am dritten August wäre Sharara zehn Jahre alt
geworden. Dostan verkroch sich tagelang in seiner Wohnung, ging nicht ans
Telefon, machte die Tür nicht auf.
Seit die Taliban nach Kabul einmarschiert sind, isst Dostan nur noch ein
Mal am Tag. Die meiste Zeit telefoniere er, abends geht er bei Instagram
live und spricht über die Lage. Manche seiner Videos erreichen 150.000
Views. Dostan organisiert Demonstrationen, spricht mit Awält*innen und
Behörden, begleitet Jugendliche zur Asylanhörung, trifft sich mit ihnen zum
Kochen oder trinkt mit ihnen Tee.
## Solidarität und Hoffnungslosigkeit
Wie ist die Stimmung in der Community? „Es gibt viel Solidarität und viel
Hoffnungslosigkeit“, sagt Dostan. Viele fragten ihn: „Wie kommen wir nach
Afghanistan?“ Sie wollten vor Ort helfen. Er sage ihnen dann: „Wir brauchen
euch hier.“ Täglich kämen Menschen auf ihn zu, erklärten: „Mein Onkel ist
in Kabul, meine Mutter, meine Schwester, du musst ihnen helfen.“ Er leite
ihre Daten dann weiter an Friederike Stahlmann.
Stahlmann schreibt Gutachten über die Lage in Afghanistan, die auch das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und die Gerichte berücksichtigen.
Aber das geschieht zu normalen Zeiten. Kann sie auch in der aktuellen
Situation etwas tun? „Ich denke schon“, sagt Dostan. Er trägt eine
sportliche Jacke, aber er sieht viel älter als 25 aus. „Es gibt keine
andere Möglichkeit“, sagt er.
## Permanente Schlaflosigkeit nach dem Fall von Kabul
Es ist nicht so, dass die Afghan*innen in Hamburg alle mit einer Stimme
sprächen. Am vergangenen Wochenende gab es auf einer Demonstration Streit.
Der Aufmarsch war von Anhänger*innen der [4][Nordallianz] dominiert,
einer Widerstandsbewegung, die in den 1990er Jahren bewaffnet gegen die
Taliban vorgegangen ist. Warlords wie Ahmad Massoud, Abdul Raschid Dostum
oder Ismail Khan organisieren auch heute den Widerstand gegen die Taliban.
Aber Menschenrechtsorganisationen werfen ihnen schwere Kriegsverbrechen
vor.
Auf der Demonstration am Hamburger Jungfernstieg gerieten
Anhänger*innen dieser Warlords mit ihren Gegner*innen aneinander.
Zwei Männer hätten einen Redner beiseitegeschubst und das Mikrofon
zerstört, sagt Dostan. Sie seien Anhänger von [5][Ashraf Ghani], des in die
Flucht geschlagenen Präsidenten, gewesen. Andere hatten zuvor „Tod dem
Präsidenten“ gerufen.
Dostan versteht sich als politisch links. Was die Warlords der Nordallianz
und der anderen Milizen in den vergangenen Jahrzehnten zu verantworten
haben, findet er nicht gut. „Aber was haben die westlichen Länder mit
unserem Land gemacht?“, fragt er. „Afghanistan ist kaputt.“ Dostan fragt,
obwohl es ihm niemand beantworten kann: „Wenn unsere Hoffnung nicht bei
ihnen liegt, bei wem dann?“
Shayesta Wahdat wird traurig, wenn das Gespräch auf Massoud, Dostum oder
Khan kommt. Die schlanke Frau mit den schwarzen Haaren und kleinen,
dezenten Perlenohrringen sitzt in einer Lagerhalle in der Speicherstadt
zwischen zehntausend Teppichen auf einem Kissen und trinkt Tee. An einer
Wand steht eine hüfthohe, kunstvoll angemalte antike Holzfigur, „Vorsicht,
ein Taliban“, hat Wahdat gescherzt, bevor sie zwischen den Teppichstapeln
hindurchlief in die kühle, hintere Ecke des Speichers. Ihr Schwager, dem
der Teppichhandel gehört, serviert Tee. „Dostum, Massoud, sie alle haben
das Land ausgenommen und im Stich gelassen“, sagt die 55-Jährige, die schon
seit dreißig Jahren in Deutschland lebt.
Als Wahdat 1991 mit ihrem Mann und zwei kleinen Töchtern nach Deutschland
kam, waren sie die Letzten aus ihrer Familie, der Rest war schon über die
ganze Welt verteilt – in den USA, Indien, Kanada, Australien, Neuseeland,
Europa. Ihr Schwager ist seit 45 Jahren hier. Das Geschäft laufe gut –
noch. 80 Prozent der Teppiche kommen aus Afghanistan und es ist unklar, ob
sie zukünftig noch kommen.
Seit zwei Wochen könne sie nicht schlafen, sagt Wahdat. Sie leide unter
Konzentrationsstörungen, sei schon länger krankgeschrieben und fühle sich
schuldig. „Mein Land hat mir alles gegeben: Sicherheit, Bildung, gutes
Essen, schöne Ausflüge mit meinen Freunden und Eltern.“ Aber sie sei
einfach gegangen, wie so viele andere Afghan*innen. „Afghanistan ist wie
eine verletzte Mutter“, sagt Wahdat, „die blutet und die Arme nach ihren
Kindern ausstreckt. Aber die Kinder haben sich abgewandt.“
Wenn Wahdat ihre Augen schließt, den Kopf in den Nacken legt und den Rücken
an einen großen Teppichstapel lehnt, sehe sie ein anderes Afghanistan, sagt
sie – das ihrer Kindheit. Mädchen laufen in Schuluniformen über
asphaltierte Straßen, tragen kurze schwarze Kleider, sportliche Schuhe und
ein weißes Tuch locker um die Schultern gelegt, nicht streng ums Gesicht
gezogen. Das Leben sei frei und unbeschwert gewesen, als sie in Kabul zur
Grundschule ging und König Mohammed Sahir Schah regierte. An den
Wochenenden hätte ihre Mutter oft Partys gegeben, alle hätten kurzärmelige
Kleidung getragen, viel gelacht, gegessen, getrunken und sich amüsiert. Aus
Pakistan seien die Menschen nach Kabul gereist, um Bikinis, kurze Röcke und
Alkohol zu kaufen – Dinge, die es im Nachbarland nicht gab.
Aber dann kamen zuerst die Russen, dann die Mudschaheddin, dann die
Taliban, der 11. September, die Amerikaner. Und jetzt wieder die Taliban.
Was ist dieses Mal anders? „Zwei Dinge“, sagt Wahdat. „Erstens sind die
[6][Frauen in Afghanistan] nicht mehr die von vor 20 Jahren. Wir lassen uns
nicht mehr alles bieten.“ Zweitens habe damals noch niemand gewusst, wer
die Taliban eigentlich sind. Als die Islamisten 1991 in Kabul einmarschiert
seien, habe der damalige Präsident sich ins UN-Hauptquartier geflüchtet.
„Wir tun dir nichts“, hätten die Taliban ihm gesagt, erzählt Wahdat. Dann
hätten sie ihn getötet und seine Leiche aufgehängt. „Da wussten wir: Das
sind keine normalen Menschen. Sie sind grausam.“ Sie nimmt einen Schluck
von ihrem Tee.
Aber wenn auch die Warlords, die jetzt den Widerstand organisieren, keine
Hoffnung verheißen und die Kinder Afghanistans weit weg sind – was müsste
passieren, um das Land zu retten? Wie kann man die Taliban vertreiben? Und
wie einen neuen, funktionierenden Staat aufbauen? „Dafür braucht es die
Hilfe der ganzen Welt“, sagt Wahdat. Die Taliban müssten international
isoliert und entmachtet werden, die Warlords gehörten vor Gericht.
Ethnische Zugehörigkeiten dürften keine Rolle spielen, Religion möglichst
auch nicht. „Wenn ich wüsste, dass ich helfen könnte, würde ich
zurückgehen“, sagt sie, die das Land seit ihrer Flucht von 30 Jahren nicht
mehr betreten hat. Einerseits würde sie sich wünschen, dass die jungen,
gebildeten Afghan*innen aus aller Welt zurückkehrten. Andererseits – wer
wolle jetzt schon zurück. „Ich fühle mich hoffnungslos“, sagt Wahdat.
„Meine Psyche ist kaputt.“
Dabei gibt es durchaus Hoffnung, und die ist jung, pragmatisch, weiblich
und erfolgreich. Katrin Wahdat, Zamarin Wahdat, Hila Azadoy, Hila Latifi
und Hila Limar verkörpern diesen hellen Streifen am Horizont. Sie und
andere setzen seit zwei Wochen jeden Hebel in Bewegung, den es im digitalen
Raum gibt, um Afghan*innen aus Kabul zu retten. Sie schreiben Mails an
das Auswärtige Amt und an Minister Heiko Maas, sie starten [7][Petitionen]
für eine Luftbrücke, rufen über Instagram zu Spenden für Charterflüge auf,
sprechen mit Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen und
Abgeordneten des Europaparlaments.
## Die junge Generation von Frauen mischt sich ein
„Heute habe ich das schwierigste Gespräch meines Lebens geführt“, sagt
Katrin Wahdat. Die 31-Jährige sitzt auf einem niedrigen Stapel Teppiche
gegenüber ihrer Mutter. Ihre langen dunklen Haare sind zu einem lockeren
Zopf gebunden, der auf ihr kurzärmeliges Kleid fällt. Fast eine Stunde lang
habe sie auf einen Mann eingeredet, einem afghanischen Journalisten, der
noch in Kabul ist, sich also in Lebensgefahr befindet. Er stünde auf keiner
Liste, weil er nie für Ausländer gearbeitet hat, immer für lokale Medien,
für einen afghanischen Ableger der BBC. Zum Dank sitzt er nun fest. „Du
musst deine Frau und Kinder allein losschicken, sie müssen raus, bevor es
zu spät ist“, hat Wahdat insistiert. Eine NGO hatte ein Charterflugzeug für
Frauen und Kinder organisiert. Der Journalist ließ sie gehen. Ob sie es
schafften, weiß Wahdat noch nicht.
Die jungen Frauen kennen sich zum Teil nicht persönlich, und manche können
sich nicht an Afghanistan erinnern. Katrin Wahdat war nicht einmal ein Jahr
alt, als ihre Familie Kabul verließ, seitdem war sie kein einziges Mal
dort. Aber die Architektin ist in der Welt herumgekommen, wie auch ihre
Schwester, die preisgekrönte Regisseurin Zamarin Wahdat. Hila Lima ist
Vorstandsvorsitzende des gemeinnützigen Vereins [8][Visions for Children],
Hila Azadzoy hat eine Petition gestartet, um Frauen sofort aus Afghanistan
zu evakuieren. Hila Latifi initiierte eine Petition, die von der Hamburger
Landesregierung fordert, mehr als nur die zugesagten 250 Afghan*innen
aufzunehmen.
Viele Afghan*innen wenden sich an die Eltern der jungen Aktivistinnen.
Sie leiten die Hilfeschreie an ihre Töchter weiter. „Wir versuchen unser
Bestes, meine Tochter kümmert sich“, sagen die Eltern denen, die in
Lebensgefahr sind. Und so werden die Listen, die die jungen Frauen neben
ihrem Alltagsstress abarbeiten, immer länger.
Die ältere Generation habe zwar viele Kontakte, aber nicht das Wissen,
diese auch zu nutzen, weil sie ohne IT aufgewachsen sei, sagt Wahdat. Man
dürfe nichts unversucht lassen, sie schreibe auch an Behörden in den USA,
Indien und England. Aber antworten die überhaupt? „Meistens nicht“, sagt
Wahdat. „Aber auch dann muss man weitermachen.“ Es mache sie manchmal
traurig, dass sie keine Verbindung zu den Bergen und den Weiten
Afghanistans spüre, jedenfalls nicht dieselbe, von der ihre Eltern
erzählten. Sie springt vom Teppichstapel auf, als wolle sie die Emotion
wegwischen. „Es gibt sehr viel zu tun von hier aus“, sagt sie. „Wenn man
pusht und pusht und pusht, wird man irgendwann irgendwo hinkommen.“
29 Aug 2021
## LINKS
[1] /Flucht/!5023840
[2] /Aktuelle-Nachrichten-zu-Afghanistan/!5793721
[3] /Afghanistan-nach-dem-Machtwechsel/!5789732
[4] /Widerstand-gegen-die-Taliban/!5791106
[5] /Afghanistans-desolate-Politik/!5670165
[6] /Ex-Vize-Aussenministerin-zu-Afghanistan/!5791175
[7] https://www.change.org/p/heikomaas-bmvg-bundeswehr-sch%C3%BCtzt-die-freihei…
[8] https://www.visions4children.org/
## AUTOREN
Katharina Schipkowski
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Afghanistan
Exil
Taliban
GNS
Schwerpunkt Afghanistan
Schwerpunkt Afghanistan
Schwerpunkt Afghanistan
Schwerpunkt Afghanistan
Schwerpunkt Afghanistan
## ARTIKEL ZUM THEMA
Abzug aus Afghanistan: Zivile Opfer auf den letzten Metern
Um ihren Rückzug zu sichern, haben die USA wohl Zivilisten getötet. Wer
waren sie? Indes äußern sich die Taliban zum Lehrplan an Universitäten.
Afghanischer Journalist über Flucht: „Habe über Extremisten berichtet“
Jawid Sadeqi wohnt seit fünf Jahren in Nienburg. Heute sorgt er sich um die
Menschen, die sich für Demokratie in Afghanistan eingesetzt haben.
Lage in Afghanistan verschärft sich: Kurz vor dem Kollaps
Die USA haben offenbar einen weiteren Anschlag in Kabul verhindert. Derweil
spitzt sich die wirtschaftliche Lage zu, vielen Afghanen droht Armut und
Hunger.
Rettung aus Afghanistan: In der Hölle
Tausende Menschen in Afghanistan haben gehofft, ausfliegen zu können. Viele
von ihnen haben für Deutschland gearbeitet, jetzt sitzen sie fest. Vier
Protokolle.
Untersuchungsausschuss zu Afghanistan: Das Desaster aufarbeiten
Grüne, FDP und Linke wollen den Bundeswehreinsatz aufklären. Ein
U-Ausschuss nach der Wahl ist fast sicher, der genaue Auftrag ist strittig.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.