# taz.de -- Afghanistan nach dem Machtwechsel: Last Exit Kabul Airport | |
> Nach der Machtübernahme der Taliban wollen Tausende Afghanistan | |
> verlassen. Ein US-Flugzeug rettete 640 Menschen – anders als die | |
> Bundeswehr. | |
Bild: Kabul am Montag: Viele kamen, um noch einen Flug zu erwischen | |
BERLIN/KABUL taz | „Meine Mutter ist sicher im #kabulairport angekommen! | |
Aber mir bricht dennoch das Herz. Sie hatte vier Kinder bei sich, die ihr | |
von verzweifelten Eltern anvertraut wurden, in der Hoffnung, dass sie mit | |
ihr ausreisen können. Aber sie wurden von den Soldaten nicht | |
durchgelassen.“ Das schreibt ein Deutschafghane am Dienstag bei Twitter. | |
Es seien US-Soldaten gewesen, erklärt er im weiteren Thread. | |
Seine Mutter hätte sich auf eigene Faust zum Flughafen durchgeschlagen, | |
eine Benachrichtigung oder gar Begleitung durch Sicherheitskräfte habe sie | |
nicht gehabt. Doch die Soldaten am Airport, die nur englisch sprachen, | |
hätten ihr gesagt, sie stünde auf keiner Liste. Auch anderen Bundesbürgern | |
und Niederländern soll es so ergangen sein. | |
„Auch unsere Eltern sind in #kabul. Sie sind deutsche Staatsbürger. Das | |
@Auswaertige Amt schickt eine automatisch generierte E-Mail. Wie sollen sie | |
zum #kabulairport? Werden sie uns helfen? Oder werden unsere Eltern in | |
#kabul sterben?“, fragt besorgt eine andere Nutzerin. | |
Derweil twittert der eingangs erwähnte Sohn bald darauf, er habe den | |
Eindruck, dass sich die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes bemühten. Später | |
berichtet er, das Handy seiner Mutter sei jetzt tot, jetzt könne er nur | |
noch hoffen und beten. Seit zwei Tagen habe es in Kabul keinen Strom mehr | |
gegeben. | |
## Menschen klettern auf ein rollendes Flugzeug | |
Ein Video am Montag zeigte ein Flugzeug, das wegen Überfüllung Kabul nicht | |
verlassen konnte, in einem anderen Fall liefen Hunderte Zivilisten neben | |
einer zur Startbahn rollenden US-Maschine her und kletterten zum Teil auf | |
das Fahrwerk, um sich dort festzuklammern. Später waren Bilder des | |
startenden Flugzeugs zu sehen, bei der aus großer Höhe etwas herabstürzte. | |
Es hieß, zwei Menschen seien auf Wohnhäuser gefallen. | |
Das Chaos des bereits am Wochenende vom US-Militär für den Zivilverkehr | |
gesperrten Flughafens führte dazu, dass dort am Montag zunächst weitere | |
Starts und Landungen ausgesetzt werden mussten. In Tumulten starben etwa | |
zehn Menschen, darunter zwei bewaffnete mutmaßliche Talibankämpfer, die | |
sich unter die Menge gemischt hatten und von US-Militärs erschossen wurden. | |
Um die Menschenmenge unter Kontrolle zu bekommen, gaben die etwa 3.000 bis | |
3.500 US-Soldaten auch Warnschüsse ab. Später konnten sie mit | |
Stacheldrahtrollen zumindest die Rollbahn sichern. | |
Erst gegen 2.35 Uhr am Dienstagmorgen wurde der Flugbetrieb wieder | |
aufgenommen. Unter den abfliegenden Maschinen befand sich auch ein | |
US-Transportflugzeug vom Typ C-17 Globemaster III, in das sich kurz vor | |
dem Start noch Dutzende Afghanen durch die geöffnete Heckklappe gedrängt | |
hatten. Die Crew entschied sich dennoch zum Start der überfüllten, aber | |
nicht überladenen Maschine. So wurden Hunderte Menschen auf dem Boden des | |
Flugzeugs kauernd ausgeflogen. Nach der Landung in Katar ergab eine Zählung | |
640 Personen. Eigentlich verfügt der Truppentransporter nur über 134 | |
Sitzplätze. | |
Doch auch Gegenteiliges geschah. Strikte Kontrollen bewirkten nach Angaben | |
der Bundesregierung, dass ein Transportflugzeug der Bundeswehr mit nur 7 | |
Evakuierten abflog. Mehr hätten nicht in der kurzen, vom US-Militär | |
bestimmten Zeit von maximal 30 Minuten vom zivilen Teil des abgesperrten | |
Airports geholt werden können. Zudem sei eine Anfahrt zum Flughafen während | |
der von den Taliban verhängten nächtlichen Ausgangssperre zu gefährlich | |
gewesen, hieß es am Dienstag vonseiten der Bundesregierung. Mit dem | |
Flieger, der nur mühsam habe landen können, seien deutsche Fallschirmjäger | |
nach Kabul gebracht worden, die deutschen Staatsbürgern und Ortskräften | |
künftig sicheres Geleit zum Flughafen bieten sollen. | |
Am Dienstagnachmittag traf eine zweite Bundeswehrmaschine ein, die nun mehr | |
als 120 Menschen nach Usbekistan ausflog. Von dort sollen sie später die | |
Bundesrepublik erreichen. | |
## Zufahrt von Taliban kontrolliert | |
Zwar kontrolliert das US-Militär mittlerweile den Flughafen Kabul samt | |
Terminal wie auch den afghanischen Luftraum, doch die Zufahrten zum fünf | |
Kilometer nördlich des Kabuler Zentrums gelegenen Airport befinden sich in | |
der Hand der Taliban. In Berichten auf Twitter heißt es, diese ließen zwar | |
ausländische Staatsbürger passieren, aber nicht unbedingt Afghanen. Für sie | |
kann es lebensgefährlich werden, wenn ihre Verbindungen zu ausländischen | |
Truppen, Entwicklungshilfeorganisationen, Medien oder Thinktanks an den | |
Checkpoints auffliegen. | |
So schreibt ein ehemaliger afghanischer Helfer der Bundeswehr an einen | |
deutschen Soldaten, der in Afghanistan gedient hatte, die Taliban | |
kontrollierten alle Zugänge zum Flughafen und würden die Leute durchsuchen. | |
„Das ist lebensbedrohend für uns alle“, schreibt er. Eine | |
afghanischstämmige Deutsche schreibt auf Twitter, dass die Taliban sie zwar | |
letztlich offenbar wegen ihres deutschen Passes durchgelassen hätten, aber | |
ihr zuvor sämtliche Wertsachen abnahmen. | |
Die USA rechnen damit, pro Tag 5.000 bis 9.000 Menschen aus Kabul | |
ausfliegen zu können, sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, | |
John Kirby. In den Vereinigten Staaten stünden drei Militärstützpunkte | |
bereit, um in den kommenden Wochen bis zu 22.000 afghanische Helfer | |
aufzunehmen. „Wir werden wirklich hart arbeiten in den kommenden Wochen, um | |
so viele von ihnen wie möglich aus dem Land zu schaffen“, sagte er. | |
US-Präsident Joe Biden hatte in einer [1][Rede] am Montag den Taliban damit | |
gedroht, jeder Angriff auf Menschen oder Abläufe am Flughafen würde sofort | |
mit voller Härte beantwortet. | |
Eine reibungslose Massenevakuierung, die auch im Interesse der | |
Taliban sein dürfte, setzt eine zumindest informelle Kooperation zwischen | |
den USA und den Gotteskriegern voraus. Der schnelle Zusammenbruch der | |
afghanischen Regierung und die heimliche Flucht von Staatspräsident | |
Aschraf Ghani hatte eine geordnete Machtübergabe und Evakuierung zunächst | |
unmöglich gemacht. | |
Nach Augenzeugenberichten sind am Dienstag am und um den Flughafen | |
wesentlich weniger Menschen unterwegs als zuvor. Ironischerweise wird sich | |
auch anhand eines reibungslosen Ablaufs der Evakuierungen zeigen, wie weit | |
die Taliban das Land jetzt wirklich kontrollieren oder aber, ob etwa | |
Splittergruppen oder mit dem „Islamischen Staat“ (IS) verbundene Kämpfer | |
dabei noch für Terror, Unruhe und weitere Opfer sorgen. | |
Mehrere Kommentatoren haben inzwischen die Piloten der US-Maschine mit den | |
640 Evakuierten für Auszeichnungen vorgeschlagen. Bei Twitter macht noch | |
eine anderes Beispiel für besondere Verdienste von sich reden. Einer nicht | |
überprüfbaren Information zufolge blieb der britische Diplomat Laurie | |
Bristow am Flughafen, nachdem alle seine Kollegen bereits abgeflogen waren, | |
und stellte dort „eigenhändig Visa aus, um so viele wie möglich aus Kabul | |
heraus zu bekommen“. | |
17 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/biden-rede-afghanistan-103.html | |
## AUTOREN | |
Sven Hansen | |
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