| # taz.de -- Afghanischer Journalist über Flucht: „Habe über Extremisten ber… | |
| > Jawid Sadeqi wohnt seit fünf Jahren in Nienburg. Heute sorgt er sich um | |
| > die Menschen, die sich für Demokratie in Afghanistan eingesetzt haben. | |
| Bild: Sorgt sich um Menschen, die sich für die Demokratie engagiert haben: Jaw… | |
| taz: Herr Sadeqi, wie weit weg fühlt sich hier in Nienburg gerade Ihr | |
| Herkunftsland Afghanistan für Sie an? | |
| Jawid Sadeqi: Es ist nicht einfach, wenn man 25 Jahre in einem Land gelebt | |
| hat, zehn Jahre aktiv war und [1][dort so ein großes Chaos] ist. Ich weine | |
| normalerweise nicht viel und versuche, irgendwie eine Lösung zu finden, | |
| aber in den letzten drei Wochen war das anders. Nicht nur wegen meiner | |
| Familie, sondern wegen der Frauen, mit denen wir zusammengearbeitet haben. | |
| Sie sind perfekte Menschen, aber nur weil sie Frauen sind, werden sie nun | |
| diskriminiert. Ich habe auch geweint, weil ich hier in Sicherheit bin, aber | |
| meine Kolleginnen und Kollegen, die vor drei Wochen noch das Land | |
| aufbauten, auf einmal bei Null stehen. | |
| Wie sind Sie nach Nienburg gekommen? | |
| Zusammen mit meiner Frau bin ich vor ungefähr fünfeinhalb Jahren aus | |
| Afghanistan nach Deutschland geflüchtet. Ich hatte in meiner alten Heimat | |
| Lehramt studiert, aber als Journalist gearbeitet. Jetzt studiere ich | |
| Englisch, Sozialwissenschaften und Politik auf Lehramt an der Uni | |
| Oldenburg. Neben dem Studium mache ich Filmprojekte über Demokratie, | |
| Freiheit und Migration. Ich unterstütze als Sprachmittler einige Familien. | |
| Auf meinen Youtube-Kanal erzähle ich über meine Erfahrungen in Deutschland | |
| und über die Politik in Afghanistan. Außerdem schreibe ich Artikel über | |
| Kultur und Politik. | |
| Und das alles im beschaulichen Nienburg. | |
| Am Anfang, als ich nach Deutschland kam, war Nienburg richtig klein für | |
| mich. Ich hatte davor in einer großen Stadt gewohnt. Wir hatten dort | |
| Medienanstalten. Mehrmals pro Woche hatte ich Live-Sendungen. Auf einmal | |
| war ich in Nienburg. Ich hatte keine Kontakte, keine Freunde. Heute ist das | |
| anders, das Heimweh ist sehr viel kleiner als früher. Hier ist jetzt mein | |
| Zuhause. | |
| Wo haben sie davor in Afghanistan gewohnt? | |
| In Herat. Das ist die zweitgrößte Stadt nach der Hauptstadt Kabul. Dort bin | |
| ich geboren und aufgewachsen. Vor meiner Flucht war ich dort politisch | |
| aktiv. | |
| Warum mussten Sie dort weg? | |
| Ich habe Sendungen produziert, die politisch und kritisch waren. Besonders | |
| über Frauenrechte und über Extremisten. Ich habe über Korruption berichtet. | |
| Dann bekam ich Probleme und hatte deswegen Ende 2015 entschieden, mein Land | |
| leider zu verlassen. | |
| Wie war die Reaktion auf Ihre Sendungen? | |
| Normale Menschen fanden meine Sendungen richtig gut. Ich habe immer Lob | |
| bekommen. Aber abgesehen davon gab es fast jede Woche auch andere | |
| Telefonanrufe. Drohungen, Beleidigungen und sie haben immer gesagt: Wir | |
| werden dich bald töten. Manchmal wurde auch mein Chef angerufen und | |
| bedroht. Als ich einmal unterwegs war, wurde auf mich geschossen. | |
| Wurden Sie verletzt? | |
| Die Kugel hat mich nicht getroffen. Ich war auf der Straße, auf dem Weg | |
| nach Hause. Lustig fand ich daran, dass das vielleicht in 300 Meter | |
| Entfernung von einer Polizeistation war. Die haben mir danach gesagt: Wir | |
| passen auf, aber du musst deine Routine ändern. Ein paar Tage, nachdem ich | |
| in Deutschland angekommen war, ist mein Chef in Kabul dann ermordet worden. | |
| Mit welcher Hoffnung sind Sie geflüchtet? | |
| Als ich am Anfang nach Deutschland kam, dachte ich: In Afghanistan wird es | |
| in ein paar Jahren besser sein. Ich dachte, ich würde vielleicht etwas | |
| bleiben, studieren und dann wieder nach Hause. Ich kann in Afghanistan | |
| aktiver sein als hier, weil ich Erfahrung und Kontakte habe. Dann hat es | |
| sich nicht verbessert und ich habe angefangen, hier mit Medien zu arbeiten. | |
| Mein Plan ist nun, über Afghanistan zu berichten, damit die Europäer, | |
| besonders die Politiker, ein klareres Bild von Afghanistan haben. | |
| Was ist falsch an dem Bild von Afghanistan? | |
| Man bekommt hier nicht genug und nicht die wichtigsten Aspekte mit. Viele | |
| Medien und auch meine deutschen Freunde konzentrieren sich [2][gerade auf | |
| den Flughafen in Kabul]. Dort ist die Situation ja auch sehr schwierig, | |
| aber keiner spricht über andere Aspekte. | |
| Welche? | |
| Etwa die Lage von Journalistinnen und Aktivistinnen. Sie sind jetzt in | |
| Gefahr, haben sich versteckt. Und was wird mit Frauen, die Professorinnen | |
| sind? Denen wurde gesagt: Ihr könnt erst mal abwarten, bis wir entscheiden, | |
| was für ein System wir für Frauen planen. Oder: Was wird mit dieser | |
| Generation passieren, die gar nicht mit der Taliban-Ideologie leben kann? | |
| Die hat Angst. Letzte Woche wollten etwa die Taliban die Hände zweier | |
| Männer abhacken, weil sie etwas geklaut hatten. Ein Journalist, ein Freund | |
| von mir, war mit der Kamera dabei und wollte fotografieren. Die haben ihn | |
| geschlagen und ihm gesagt: Wir machen das nicht in der Öffentlichkeit. | |
| Wie halten Sie Kontakt zu Menschen in Afghanistan? | |
| Wir haben Kontakt über soziale Medien: Facebook, Youtube, Whatsapp und | |
| E-Mail. Einige schreiben mir Nachrichten und erklären die Lage. Dann | |
| löschen sie einfach die Nachricht. Sie sagen, es ist gefährlich zu | |
| schreiben. | |
| Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie? | |
| Ja, meine Eltern und mein Bruder sind dort. Es geht ihnen nicht so gut. | |
| Mehr als zehn Jahre lang habe ich mehrmals pro Woche Live-Sendungen gehabt, | |
| das ist eine Gefahr für sie. Deswegen ist es nicht einfach und es geht | |
| ihnen nicht so gut, wie es sollte. Ich schreibe jetzt auch, bin aktiv, aber | |
| muss auch ihretwegen richtig aufpassen. | |
| Wie viele Leute sind auf Seiten der Taliban? | |
| Es ist [3][schwierig, über Zahlen zu sprechen], denn es gibt keine Studien. | |
| Du findest Orte, da sind 80 Prozent für die Taliban. Andernorts sind 80 | |
| Prozent gegen sie. In großen Städten wie Kabul, Herat oder Masar-e Sharif | |
| ist klar: Dort sind sie großteils gegen die Taliban. Es gibt eine Spaltung | |
| zwischen Stadt und Land. Ich bin ehrlich gesagt nicht optimistisch, dass | |
| die in Zukunft besser wird. | |
| Wie denken Sie über das Konzept, Demokratie zu „exportieren“? | |
| Wir brauchen Demokratie in unserem Land, aber alles ging zu schnell. Das | |
| war das Problem. Dabei ist Demokratie perfekt für unser Land, aber nicht | |
| genau die gleiche Demokratie wie in Europa. Wir hatten bereits echte | |
| Demokratie in Afghanistan, im Jahr 1960. | |
| Wie kommt man an so einen Punkt? | |
| Es muss viel Geld in die Ausbildung der Menschen investiert werden. Schulen | |
| sind das Wichtigste für unser Land, damit sich die Gedanken der Menschen | |
| ändern. Wenn wir das machen, dann könnten wir eine einfache Revolution | |
| haben. Wir dürfen keine großen Erwartungen haben, dass das schnell geht. | |
| Aber es wird sich ändern. | |
| Und was kann man tun – jetzt, unmittelbar, hier? | |
| Wir sollten demonstrieren und unsere Meinung äußern. Die Taliban wollen das | |
| nicht. Man muss daran arbeiten, dass die Politik ihren Blick auf | |
| Afghanistan und die Menschen richtet, die in Gefahr sind. Demonstrationen | |
| und Aktivitäten, die die Politik aufwecken, das ist nötig. | |
| Wie erleben Sie die Reaktion auf die Lage hier bei Demonstrationen und im | |
| Alltag? | |
| Viele wissen nicht, was sie machen können. Wer unterstützen will, sollte | |
| bei Protesten von Menschen mit Fluchthintergrund dabei sein. Wir sollten | |
| nicht alleine auf der Straße sein. Es ist nicht so sinnvoll, wenn nur ich – | |
| auf Persisch – auf der Straße schreie. | |
| Wie denken Sie über eine Luftbrücke und die viel diskutierten Ortskräfte? | |
| Ich frage mich, warum es hier [4][nur eine Diskussion über Ortskräfte] | |
| gibt. Was wird mit meinen Freunden passieren, die 20 Jahre für die | |
| Demokratie gearbeitet haben? Wie wird es Frauen ergehen? Es geht nicht nur | |
| um ein Land, es geht um die Welt. Wenn Afghanistan nicht sicher ist, dann | |
| ist Europa nicht sicher. Weil Terrorismus und Extremismus auch exportiert | |
| werden. Es sollte nicht einfach wieder viel Geld in die Hände von | |
| Politikern gegeben werden. Man muss sich mehr auf die Bildung | |
| konzentrieren. Das ist das Wichtigste. | |
| 30 Aug 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Michael Trammer | |
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