# taz.de -- Ulmer Wohnungspolitik: Konsens statt Enteignung | |
> Ulm hat die Kontrolle über die Grundstückspreise in einem Drittel der | |
> Stadt erlangt. Dank „Ulmer Modell“ sind auch die Mieten niedriger als | |
> anderswo. | |
Bild: Hier sollen 900 Wohnungen entstehen: Quartier Am Weinberg in Ulm | |
Ulm taz | Bagger wirbeln Staub auf, die Kräne kreisen hoch über Ulm. Am | |
Weinberg, unterhalb der Universität, entsteht ein neues Wohnviertel. Blick | |
über die Stadt, viel Grün drumherum, acht Minuten mit der Straßenbahn zum | |
Hauptbahnhof. Acht Hektar wertvolles Bauland also, das die Stadt da vom | |
Bund zurückbekommen hat, als die Hindenburg-Kaserne der Bundeswehr | |
geschlossen wurde. In anderen Städten hätte man ein solches Areal an | |
höchstbietende Baulöwen versteigert, für Luxuswohnungen, vielleicht mit ein | |
paar Auflagen zur Quartiersentwicklung. | |
Anders in Ulm. Hier hat die Stadt ein Wohnkonzept erarbeitet, das einen | |
sozialen Mix und klimagerechte Energieversorgung garantiert. Die vier | |
Unternehmen, die den Zuschlag erhalten haben, die städtische Ulmer | |
Wohnungsbaugesellschaft UWS und die Genossenschaft Ulmer Heimstätte sowie | |
zwei private Bauträger, sind die Sieger in einem anonymen Wettbewerb. Jetzt | |
entstehen 900 Wohnungen, bei 30 Prozent von ihnen werden die Mieten | |
gefördert. Dazu Dachbegrünung, Solarstrom und Heizung mit Fernwärme. | |
„Hier war es für die Stadt relativ einfach“, sagt Ulrich Soldner und blickt | |
auf die entstehenden Neubauten. Schließlich habe die Stadt das | |
Kasernengelände komplett besessen. Soldner ist im Ulmer Rathaus der Mann | |
für Grundstücke. | |
Jahrelang war er Chef des Liegenschaftsamts, jetzt ist er im Stab des | |
Bürgermeisters weiter für das verantwortlich, was hier stolz das „Ulmer | |
Modell“ genannt wird. Andere Bauprojekte brauchen mehr Geduld, weiß Soldner | |
aus seiner langen Erfahrung. Oft dauert es Jahrzehnte, bis die Stadt | |
alleinige Eigentümerin eines baureifen Neubau-Areals ist. Nur dann weist | |
sie ein Gelände als Bauland aus. | |
## Unbebaut an Dritte weiterverkaufen verboten | |
Baugrundbevorratung, das ist das Zauberwort für das Ulmer Modell und zwar | |
schon seit über 100 Jahren. Es bedeutet, dass die Stadt systematisch | |
Baugrund zu einem festgelegten Preis kauft und nur als Ganzes bebauen | |
lässt. Um Bodenspekulation zu vermeiden, darf ein von der Stadt erworbenes | |
Grundstück nie unbebaut an Dritte weiterverkauft werden. | |
Wird nicht gebaut, muss es zum gleichen Preis an die Stadt zurückgehen. Die | |
Stadt behält somit die Kontrolle über den Preis und darüber, was und wie | |
gebaut wird. 16 Millionen Euro hat Ulm in jedem Haushaltsjahr für | |
Grundstücksankäufe im Haushalt vorgesehen. Gewinn aus Baugrundverkäufen | |
fließen nicht in den allgemeinen Stadtsäckel, sondern stehen dem | |
Liegenschaftsamt für neue Käufe zur Verfügung. | |
Mit dieser Strategie hat die Stadt Kontrolle über die Grundstückspreise in | |
etwa einem Drittel des Stadtgebiets erlangt. Mehr hat im deutschsprachigen | |
Raum nur [1][Wien] – mit einem ähnlichen Konzept. Ulm ist es gelungen, | |
Baupreise und Mieten günstig zu halten, während sie anderswo | |
[2][explodieren]. Grundstückspreise seien in den letzten zehn Jahren um | |
höchstens 30 Prozent gestiegen, schätzt Soldner. Damit liegen sie heute in | |
Ulm mit durchschnittlich 250 Euro pro Quadratmeter bei einem Drittel | |
vergleichbarer Städte. | |
In Ulm ist es deswegen politisch unumstritten, dass die Stadt den | |
Grundstücksmarkt reguliert. Der Konsens im Stadtrat reicht von der | |
Linkspartei bis zur AfD. FDP-Stadtrat Ralf Milde sitzt vor seinem Laden mit | |
Blick auf das Münster. Es braucht schon viel, bis wir uns im Stadtrat mal | |
über etwas streiten“, sagt er. Milde ist freier Künstler, hat früher als | |
Bühnenbildner mit Pina Bausch gearbeitet und dann in Ulm am Stadttheater. | |
## Patriarch mit Prinzipien | |
Heute platziert er Kunst im öffentlichen Raum. Eigentlich sei er kein ganz | |
typischer FDPler, sagt Milde selbst. Aber Anfang der 2000er-Jahre, als | |
Städte wie Dresden mit dem Verkauf der städtischen Sozialwohnungen ihre | |
Kassen sanierten, sei auch er als junger Stadtrat der Meinung gewesen, | |
Wohnungsbau solle man dem freien Spiel des Marktes überlassen. | |
Aber der damalige SPD-Oberbürgermeister Ivo Gönner, ein unangefochtener | |
Patriarch, der von über 80 Prozent der Ulmer gewählt worden war, machte da | |
nicht mit. „Gönner hatte Themen, da sagte er einfach ‚Nö‘“, erinnert … | |
Milde. Der Verkauf der städtischen Wohnungen war so eines. „Heute bin ich | |
froh, dass die Ulmer Wohnungsbaugesellschaft 7.000 Wohnungen hat.“ | |
Der liberale Denkfehler, das habe er mittlerweile erkannt, sei, „dass | |
Baugrund anders als andere Güter nicht beliebig vermehrbar ist“. Deshalb | |
müsse die Stadt da die Hand drauf halten. Und so lobt Milde heute den | |
Prozess der Bauentwicklung durch die Stadt und, dass die | |
Wohnungsbauunternehmen sich in einem „wirklich anonymen Wettbewerb“ um die | |
Aufträge bewerben müssen. Es sei Daseinsvorsorge im besten Sinn, findet der | |
Stadtrat. | |
Wenn Milde überhaupt Kritik an der Bodenpolitik hat, dann eher, weil die | |
Stadt Baugrund viel zu günstig an die Häuslebauer abgebe. Da würden nicht | |
mal die Erschließungskosten voll auf die Käufer umgelegt. Das sei | |
eigentlich eine Subvention für den gehobenen Mittelstand – und ja nicht der | |
Sinn, findet Milde. | |
## Ulm setzt weiterhin auf freiwillige Verkäufe | |
Natürlich steigen auch in Ulm die Kosten für Wohnraum, auch hier kostet | |
eine Eigentumswohnung um die 90 Quadratmeter schnell eine halbe Million. | |
Das liege aber im Moment vor allem an den explodierenden Kosten für | |
Baumaterial, erklärt Liegenschaftsexperte Soldner. In der Stadt, die bald | |
eine noch schnellere Anbindung an die Metropolen Stuttgart und München | |
erhält, warten 4.000 Familien auf einen Bauplatz. | |
Trotz des Drucks will die Stadt weiterhin auf freiwillige Verkäufe setzen. | |
Anders als in Tübingen soll Eigentümern unbebauter Grundstücke auch | |
weiterhin nicht mit Enteignung gedroht werden. Weder Zwangsverkäufe noch | |
Mietpreisbremsen, die es für Baugesellschaften unattraktiv machen, neue | |
Projekte anzugehen, hält Soldner für den richtigen Weg. Und er ist sich | |
nicht zu Schade, manche Besitzer über Jahre hinweg zu bearbeiten. Denn vor | |
allem zwei Dinge brauche es für das Ulmer Modell, da ist sich Soldner | |
sicher: Konsens und Geduld. | |
22 Aug 2021 | |
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## AUTOREN | |
Benno Stieber | |
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