# taz.de -- Immobilienkrise in Irland: Wohnraum immer unerschwinglicher | |
> Die Mieten in der irischen Hauptstadt Dublin können sich viele Menschen | |
> nicht mehr leisten. Das Wohnproblem ist lange bekannt, getan hat sich | |
> nichts. | |
Bild: In Dublin wird fleißig gebaut, aber oft das Falsche | |
Die Iren haben Erfahrung mit Vertreibung von Haus und Hof. [1][Während der | |
Hungersnot] Mitte des 19. Jahrhunderts waren vor allem die ländlichen | |
Gegenden betroffen, heute ist es Dublin. Damals wie heute war die Geldgier | |
der Land- und Immobilienbesitzer schuld. Damals konnten die Menschen die | |
Pacht für ihre Parzellen nicht mehr zahlen, heute sind die Mieten in der | |
Hauptstadt für viele unerschwinglich. Im Gegensatz zu früher gehen die | |
Vertreibungen heute geräuschlos und ohne Polizeigewalt vonstatten. | |
Das Problem ist seit vielen Jahren bekannt, aber getan hat sich nichts. Am | |
Dienstag sollte endlich die „bahnbrechende Wohnungspolitik“ der Regierung | |
vorgestellt werden. „Housing for All“, so der optimistische Titel, musste | |
jedoch verschoben werden. Der Plan sei ambitioniert, sagte die Sprecherin | |
des Wohnungsbauministers, Darragh O’Brien: Er umfasse nicht nur die | |
Bekämpfung der [2][Obdachlosigkeit], die in Dublin mehr als 10.000 Menschen | |
betrifft, sondern auch die Bereitstellung von Sozialbauwohnungen sowie eine | |
Reform des Mietrechts. | |
„Die Arbeit an dem Plan geht weiter“, sagte sie. „Der Plan erstreckt sich | |
über viele Jahre, er geht bis 2030, und über die Finanzierung wird mit den | |
beteiligten Ministerien während des gesamten Monats August gesprochen.“ | |
Anfang September soll es dann so weit sein. Die drei Regierungsparteien | |
haben die Quittung für ihre bisherige Untätigkeit bekommen. | |
Bei einer Nachwahl im Süden Dublins Anfang des Monats gewann die Labour | |
Party, die seit zehn Jahren kein Bein auf die Erde bekommen hatte, den Sitz | |
mit großem Vorsprung. „Wir haben einen Wohnungsnotstand, und die Regierung | |
unternimmt nichts“, sagte Ivana Bacik nach ihrem Wahlsieg. „Wir müssen | |
endlich für mehr bezahlbaren Wohnraum sorgen und die Bodenspekulation | |
beenden.“ | |
## Hauspreise um 13 Prozent gestiegen | |
Ihren Wahlerfolg schreibt Bacik deshalb vor allem der Wohnungskrise zu. | |
Bisher war der Wahlkreis eine Hochburg der rechtskonservativen Fine Gael. | |
Deren ebenso konservativer Koalitionspartner Fianna Fáil, der das Land | |
lange Zeit wie ein Familienunternehmen regiert hatte, kam nicht mal auf 5 | |
Prozent. Und die Grünen, die für eine Regierungsbeteiligung auch mit dem | |
Teufel ins Bett gehen würden, rangierten unter ferner liefen. | |
Die Hauspreise in Dublin lagen im Mai um 13 Prozent höher als zwölf Monate | |
zuvor. Selbst für ein kleines Reihenhaus sind mindestens 400.000 Euro | |
fällig, denn Häuser sind knapp. Die Bauindustrie lag während der Pandemie | |
lange Zeit brach, und viele scheuten sich, ihre Häuser zu verkaufen, weil | |
sie keine Fremden zu Hausbesichtigungen hineinlassen wollten. So waren | |
voriges Jahr 40 Prozent weniger Häuser auf dem Markt als in normalen | |
Zeiten. Gleichzeitig ist die Nachfrage gestiegen, denn viele Auswanderer | |
sind [3][wegen des Brexits] nach Hause zurückgekehrt. | |
## Hohe Lebenshaltungskosten | |
Die Preise sind fast wieder auf dem Niveau von 2007, kurz bevor die | |
Immobilienblase platzte und Irland unter den EU-Rettungsschirm schlüpfen | |
musste. Während des Booms warfen die Banken der Kundschaft die Kredite | |
nach, heute sind sie vorsichtiger und rücken höchstens das Dreieinhalbfache | |
des Jahreseinkommens heraus. Dafür bekommt man als Durchschnittsverdiener | |
in Dublin nur eine Hundehütte, man muss schon das Neunfache anlegen, um ein | |
Haus zu bekommen. | |
Das durchschnittliche Einkommen pro Kopf lag 2020 bei 55.000 Euro im Jahr, | |
also um rund 14.000 Euro höher als in Deutschland. Aber auch die | |
Lebenshaltungskosten sind um gut ein Viertel höher. Damit liegt Irland an | |
zweiter Stelle in der EU, gleichauf mit Luxemburg. Dabei spielen die Haus- | |
und Mietpreise eine Rolle. | |
Noch vor 30 Jahren waren 80 Prozent der Iren Eigentümer ihrer vier Wände, | |
mehr als in jedem anderen EU-Land, aber heute sind es nur noch 67,6 | |
Prozent. Der EU-Durchschnitt liegt bei 69,2 Prozent. Wer von den Banken | |
keine Hypothek bekommt, muss stattdessen mieten, doch als Mieter genießt | |
man wenig Schutz. | |
## Mietern droht Altersarmut | |
Außerdem sind die Mieten in kaum einer Hauptstadt in der EU so hoch wie in | |
Dublin. Eine Dreizimmerwohnung von 70 Quadratmetern in Innenstadtnähe für | |
2.000 Euro im Monat gilt inzwischen als Schnäppchen. Im Schnitt müssen | |
Mieter 36 Prozent ihres Einkommens aufwenden, in manchen Dubliner Vierteln | |
sind es bis zu zwei Drittel. Eine Hypothek wäre preisgünstiger, aber die | |
bekommt man eben nicht mehr so leicht. Die Hausbesitzer nutzen das aus. Als | |
Eigentümer hat man die Hypothek normalerweise bis zur Pensionierung | |
abgezahlt. Als Mieter droht einem Altersarmut. | |
Für Investoren ist Dublin ein lukratives Pflaster, das hat sich auch im | |
Ausland herumgesprochen. Ausländische Investorengruppen haben in den | |
vergangenen drei Jahren 3,7 Milliarden Euro investiert. Round Hill Capitals | |
aus London hat zum Beispiel Hunderte von Wohnungen in zwei Wohnsiedlungen | |
gekauft, noch bevor sie fertiggestellt waren. Dadurch sind sie für Käufer | |
vom Markt, sie werden vermietet. | |
## Der Bauindustrie gebeugt? | |
Wegen der Proteste hat die Regierung im Eilverfahren ein Gesetz | |
verabschiedet: Wer mehr als zehn Häuser binnen einem Jahr kauft, muss eine | |
erhöhte Grunderwerbsteuer zahlen. Es gibt freilich Ausnahmen: Wenn die | |
Investoren 10 Prozent der Häuser an die Bezirksverwaltungen vermieten, | |
entfällt die höhere Steuer. Die Oppositionsparteien warfen der Regierung | |
vor, sich wieder einmal der Bauindustrie gebeugt zu haben. Premierminister | |
Micheál Martin von Fianna Fáil verteidigte die Maßnahme hingegen: „Wenn wir | |
den Hahn jetzt zudrehen, gehen Familien auf der Warteliste für eine | |
Sozialbauwohnung leer aus.“ | |
Diese Deals, die immer mehr um sich greifen, sind aber nur für die | |
Investoren ein gutes Geschäft. Über die Laufzeit von 25 Jahren kostet das | |
den Staat nämlich rund 425.000 Euro, also praktisch den Wert des Hauses. | |
Aber danach gehört das Haus immer noch den Investoren. Die irischen | |
Regierungen haben in den vergangenen 30 Jahren keine Sozialbauhäuser | |
gebaut, dafür aber einen Großteil des staatlichen Bestands den Bewohnern | |
verkauft. | |
## Sozialer Wohnungsbau fehlt | |
So müssten in den kommenden zehn Jahren 350.000 Häuser gebaut werden, um | |
aus der akuten Krise zu kommen. Das würde rund 120 Milliarden Euro kosten, | |
mehr als die Finanzkrise von 2008 und die Pandemie zusammen. Voriges Jahr | |
sind aber gerade mal 21.000 Sozialbauhäuser entstanden, und in diesem Jahr | |
werden es auch nicht mehr sein. Die [4][linke Initiative Social Justice | |
Ireland] sagt, dass die Zahl der Haushalte, die eine Sozialbauwohnung | |
beantragt haben, seit 2016 um ein Drittel gestiegen sei. Colette Bennett, | |
die Analystin der Organisation, sagt: „Es gibt derzeit 170.000 | |
Wohneinheiten im sozialen Wohnungsbau. Das muss verdoppelt werden, damit | |
wir unserem Ziel von 20 Prozent Sozialbauwohnungen näher kommen.“ | |
Sie verlangt von der Regierung, dass der Staat kein Land mehr verkauft, | |
sondern es für den sozialen Wohnungsbau verwendet. Ein frommer Wunsch. | |
Bisher haben sich viele Bezirksverordnete kräftig schmieren lassen, wenn | |
sie Agrarland billig an Bauunternehmen verkauften und es dann in Bauland | |
umwidmeten. Darauf werden sie kaum verzichten. So werden weiterhin viele | |
Dubliner ihrer Stadt den Rücken kehren und aufs Land oder ins Ausland | |
ziehen müssen. | |
28 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Der-grosse-Hunger-in-Irland/!1471622/ | |
[2] /Ex-Obdachlose-ueber-Leben-auf-der-Strasse/!5752263 | |
[3] /Was-Briten-nach-dem-Brexit-blueht/!5740556 | |
[4] https://www.socialjustice.ie/ | |
## AUTOREN | |
Ralf Sotscheck | |
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Kolumne Die Wahrheit | |
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