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# taz.de -- US-Debatte über Afghanistan: Krasse Fehleinschätzungen
> Joe Biden ist der Präsident des US-Abzugs aus Afghanistan, auch wenn
> Vorgänger Donald Trump ihn vorbereitet hat. Biden hadert mit der
> Verantwortung.
Bild: Kundgebung gegen die Taliban vor dem Weißen Haus in Washington, D. C. am…
Berlin taz | Es sind Sätze, von denen US-Präsident Joe Biden derzeit
vermutlich wünschte, er hätte sie nie gesagt. Sie sind gerade mal gut einen
Monat alt. „Unter keinen Umständen werden Sie es erleben, dass Menschen
eiligst vom Dach einer Botschaft ausgeflogen werden“, sagte Biden bei einem
Pressetermin zu seiner Entscheidung, die letzten noch verbliebenen 2.500
US-Soldaten aus Afghanistan abzuziehen. Die 300.000 afghanischen
Regierungssoldaten seien gut ausgerüstet, die Taliban nur 75.000, und „die
Wahrscheinlichkeit, dass die Taliban alles überrennen und das ganze Land
beherrschen, ist sehr gering“.
Es sind diese eklatanten Fehleinschätzungen, die Biden jetzt voll für die
Situation verantwortlich machen.
In einer [1][Stellungnahme des Weißen Hauses] vom Samstag, als der Fall
Kabuls bereits unmittelbar bevorstand, versuchte Biden noch, die
Verantwortung seinem Vorgänger Donald Trump zuzuschieben. Der hatte die
Truppenstärke auf 2.500 reduziert und im Februar 2020 unter Ausschluss der
afghanischen Regierung mit den Taliban einen US-Abzug bis zum 1. Mai diesen
Jahres [2][vereinbart].
„Als ich Präsident wurde,“ schreibt Biden, „hatte ich die Wahl, den Deal
umzusetzen, […] oder unsere Präsenz wieder massiv auszubauen und mehr
amerikanische Truppen zu schicken, um erneut im Bürgerkrieg eines anderen
Landes zu kämpfen. Ich war der vierte Präsident, der über amerikanische
Truppen in Afghanistan den Oberbefehl hatte – zwei Republikaner und zwei
Demokraten. Ich wollte und werde diesen Krieg nicht einem fünften
übergeben.“
## Der eigenen Propaganda aufgesessen?
Seither haben die Taliban die [3][Kontrolle über das Land übernommen] – und
von Biden ist nichts mehr zu hören. Seine Sprecherin Jen Psaki ist im
Urlaub, und so blieb es an Außenminister Antony Blinken, in den
[4][Sonntagmorgenshows] der Nachrichtensender die Lage zu erklären. Ob es
nicht ein fataler Fehler gewesen sei, erst die 2.500 Soldaten abzuziehen,
nur um jetzt rund 5.000 Soldaten wieder loszuschicken, die das US-Personal
rausholen sollen, wurde er gefragt. Nein, antwortete Blinken, das sei der
Plan gewesen, wenn die Situation sich schlecht entwickeln sollte.
Tatsächlich war der Abzug der US-Truppen, das Ende des längsten in Übersee
geführten US-Krieges aller Zeiten, ein recht breiter Konsens über
Parteigrenzen hinweg. Joe Biden selbst hatte schon für den Abzug
geworben, als er noch als Barack Obamas Vizepräsident mit ansehen musste,
wie Obama die Truppen stattdessen aufstockte.
Dass aber die Geschwindigkeit des Taliban-Vormarsches und die Kampfkraft
und -willigkeit der afghanischen Regierungstruppen so falsch eingeschätzt
wurden, könnte mit einem Phänomen zu tun haben, dass die Washington Post
nach langer Recherche schon im Dezember 2019 beschrieb: Eine jahrelange
[5][bewusste öffentliche Falschdarstellung] angeblicher Erfolge in
Afghanistan durch nahezu alle involvierten US-Behörden.
Vermutlich, um die Milliardenbeträge zu rechtfertigen, die nicht nur in die
eigene Truppenpräsenz, sondern auch in die Ausrüstung und Ausbildung der
afghanischen Armee und Regierungsbehörden investierten, wurden in der
Öffentlichkeit beständig Fortschritte in allen Bereichen gemeldet – und das
nach den Recherchen der Washington Post, obwohl alle Beteiligten wussten,
dass das nicht stimmte. Möglich, dass die jetzige Fehleinschätzung des
Taliban-Vormarschs auch dem Hereinfallen auf die eigenen Lügen geschuldet
ist.
## Afghanistan-Veteranen: Stolz auf was?
Im Ergebnis steht nun ein dreifaches Scheitern: Die Bilder aus Kabul
erinnern fatal an die US-Niederlage in Vietnam, bis zu 88.000 Afghan*innen,
die mit den USA zusammengearbeitet haben, sind in akuter Lebensgefahr, und
keinem der Zehntausenden US-Afghanistan-Veteranen ist noch schlüssig zu
erklären, warum sie dort eigentlich ihr Leben riskiert haben.
Außenminister Blinken sagte am Sonntag, die US-Soldat*innen könnten
stolz auf sich sein, denn das ursprüngliche Ziel des Einsatzes, zu
verhindern, dass von Afghanistan aus noch einmal Terroranschläge wie die
vom 11. September 2001 ausgehen könnten, sei eindeutig erreicht worden.
Dem allerdings widersprechen andere Analyst*innen vehement. Die
Wiedereroberung Afghanistans durch die Taliban sei im Gegenteil der größte
Motivationsschub, den sich der terroristische Islamismus weltweit überhaupt
nur hätte vorstellen können, sagen sie. Noch in dieser Woche will sich Joe
Biden per TV-Ansprache zur Lage äußern: der schwerste Moment seiner
Amtszeit bisher.
16 Aug 2021
## LINKS
[1] https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2021/08/14/sta…
[2] /Frieden-fuer-Afghanistan-in-Sicht/!5663138
[3] /Praesident-Ghani-hat-Afghanistan-verlassen/!5793771
[4] https://www.nbcnews.com/meet-the-press/video/full-blinken-interview-inabili…
[5] /Nach-18-Jahren-US-Krieg-in-Afghanistan/!5648568
## AUTOREN
Bernd Pickert
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