| # taz.de -- 40 Jahre MTV: Pop und Trash für die Jugend | |
| > Erst war MTV Plattform der Musikindustrie, später Sender kreativer | |
| > Realityshows. Dann kam das Internet. Erinnerungen an die globale | |
| > Popkulturmaschine. | |
| Bild: Das Jackass-Team bei einem vergleichsweise harmlosen Stunt für das Intro… | |
| Am 1. August 1981 ging ein Spartensender im US-amerikanischen | |
| Kabelfernsehen auf Sendung, also genau vor 40 Jahren. Die Besonderheit von | |
| „MTV – Music Television“: Dort wurden ausschließlich Musikvideos gezeigt, | |
| rund um die Uhr. | |
| Das neue Medium kam so gut beim jungen Publikum an, dass [1][MTV schnell zu | |
| der wichtigsten Plattform der Musikindustrie] aufstieg. Plötzlich wurden | |
| Musikvideos extra für die Ausstrahlung auf MTV produziert. Weltstars wie | |
| Madonna oder Michael Jackson wurden durch den Sender berühmt. In den 1990er | |
| Jahren entwickelte sich das Programm weg von der Musik: Es wurden | |
| subversive Zeichentricksendungen wie „Beavis and Butthead“ gezeigt oder das | |
| „Celebrity Deathmatch“, eine Show, in der Knetfigurversionen von | |
| Prominenten sich gegenseitig die Eingeweide herausreißen – Formate, die | |
| heute als Kultklassiker gelten. Die frühen 2000er Jahre waren die Ära der | |
| MTV-Realityshows. Noch heute kann man in Dutzenden Ländern regionale | |
| Ableger von MTV empfangen. | |
| MTV Germany gründete sich 1997 und machte damit dem Musiksender Viva | |
| Konkurrenz. Als der deutsche Ableger ins Pay-TV verlegt wurde, | |
| protestierten Fans in sozialen Medien. Mit dem Aufstieg von | |
| Internet-Videoportalen wie Youtube hat MTV Stück für Stück seine Bedeutung | |
| verloren. Auch nach der Rückkehr des deutschen Senders ins Free-TV sanken | |
| die Quoten deutlich. Trotzdem lebt MTV in der kollektiven Erinnerung | |
| weiter. Als der Sender, der quasi im Alleingang eine globale Popkultur | |
| erschaffen hat – bevor es das Internet gab. | |
| Emeli Glaser | |
| ## Für-alle-Pop wie dicker Magerquark aufs Brot | |
| Es muss etwa im Jahr 2002 gewesen sein, als ich endlich das Fernseherchen | |
| in mein Jugendzimmer gestellt bekam. Es war kaum breiter als ein Fuß lang. | |
| Das ist mein Moment in der Popgeschichte, ab dem ich Musikstücke mit | |
| bewegten Bildern assoziiere. [2][Ich empfing vier Musiksender] – und einen | |
| davon starrte ich immer an. Deswegen kommen mir bis heute Bilder, wenn ich | |
| einen der Songs der frühen 2000er im Radio oder im Club höre. Es beginnt | |
| mit Kellys und Nellys Vorortschnulze „Dilemma“, mit Ben und Gims | |
| tiefsinnigem „Engel“ (Steadycam) und Grönemeyers „Mensch“ (Eisbär). | |
| Damit ich den kleinen Röhrenfernseher bekam, musste einiges passieren. | |
| Erstens musste ein Kabel von der Satellitenschüssel bis zu meinem Zimmer an | |
| der ganzen Hauswand entlang gelegt werden. Zweitens musste meine Familie | |
| sich vom Gedanken, meinen Medienkonsum kontrollieren zu können, | |
| verabschieden. Für mehrere Jahre verschwand ich in die absolute Passivität | |
| des Linear-Fernseh-Guckers. Ohne richtige Interessen, ohne wirklichen | |
| Geschmack – höchstens mal träge auf einen anderen Sender umschaltend, wenn | |
| „Behind Blue Eyes“ von Limp Bizkit kam. Den Rest der Zeit ließ ich mir den | |
| Für-alle-Pop wie dicken Magerquark aufs Brot schmieren, bis ich | |
| Bauchschmerzen hatte, ohne satt zu sein. | |
| Zum Glück ging das nicht lange so. Mitten in die Dekade platzte Youtube und | |
| damit die Möglichkeit, wieder auszusuchen, zu entdecken, ein | |
| Spezialinteresse zu entwickeln. Ungefähr zur selben Zeit bekam das | |
| Fernsehkabel an der Hauswand einen Schaden und der kleine Fernseher musste | |
| gehen. Ich hab nicht für ihn gekämpft. Was er wohl heute macht? | |
| Peter Weissenburger | |
| ## Raus aus dem Schulalltag, hinein ins US-Trash-TV | |
| Vier Stunden am Stück „Spongebob Schwammkopf“, so sieht das fast tägliche | |
| Abendprogramm von MTV Deutschland aktuell aus. Ich möchte weinen. Wo sind | |
| Heidi und Spencer, Tila Tequila und Flavor Flav, Ozzy Osbourne und Paris | |
| Hilton? Ersetzt durch einen gelben sprechenden Schwamm. | |
| Zu meiner Teenagerzeit sah das anders aus, da war das nachmittägliche und | |
| abendliche MTV-Gucken eine willkommene Ablenkung. Raus aus dem langweiligen | |
| Schulalltag, hinein ins US-amerikanische Trash-TV. Meine Lieblinge waren | |
| die Datingshows, das Angebot hier war enorm: Die erste bisexuelle | |
| Datingshow („A Shot at Love with Tila Tequila“) oder eine Show, in der | |
| Eltern eine neue Partner:in suchen, weil sie den oder die aktuelle nicht | |
| mögen („Parental Control“) oder eine, in der Ex-Partner:innen wieder | |
| miteinander anbandeln, während sie von ihren aktuellen Partner:innen | |
| beobachtet werden („X-Effect“). Shows, in denen entweder die Mutter („Date | |
| my Mom“), zwei Frauen oder Männer gleichzeitig („Dismissed“) oder fünf | |
| Personen direkt hintereinander („Next“) gedatet wurden. | |
| Mit jeder neu aufkommenden Show wurde das Konzept noch abstruser und | |
| dadurch unterhaltsamer – die Maßstäbe, was und wie Dating-Reality-TV sein | |
| kann, hat MTV auf jeden Fall hoch angesetzt. Und ganz nebenbei habe ich | |
| vermutlich mehr Englisch gelernt als im Schulunterricht. | |
| Dass mittlerweile auf dem deutschen Kanal stattdessen eine | |
| Zeichentrickserie läuft, ist vielleicht auch egal. In Zeiten von Youtube, | |
| Netflix und sich weiter entwickelndem [3][deutschen Privatfernsehen] ist | |
| MTV zumindest in Hinsicht auf trashige Datingshows obsolet geworden. | |
| Carolina Schwarz | |
| ## „Jackass“: Sich trotz aller Alternativlosigkeit spüren | |
| Wieso lässt sich jemand die Arschbacken zusammenpiercen? Oder eine | |
| Billardkugel aus mehreren Metern Höhe auf den Genitalbereich fallen? Oder | |
| von aufgebrachten Stieren niederrennen? Oder von einem Babykrokodil in die | |
| Brustwarzen beißen? Warum stellt sich jemand in ein volles Dixiklo, während | |
| dieses kopfüber ausgeleert wird? | |
| „Poo Cocktail“ heißt diese letzte Übung und konnte im Jahr 2000 in der | |
| ersten Folge der MTV-Show „Jackass“ bewundert werden. Auch alle anderen | |
| Übungen kündigen Johnny Knoxville und seine Freunde immer in | |
| masochistisch-angstlustvollem Ton an, bevor das Unheil folgt. Die | |
| Stuntmänner, damals in ihren Zwanzigern, leuchten die Grenzen der | |
| Schmerzempfindlichkeit und des Ekels aus, wobei es um soziale Konvention | |
| oder moralische Standards schon längst nicht mehr geht, sondern darum, wie | |
| viel sie und ihre Zuschauer:innen ertragen können. Am Ende waren es drei | |
| Staffeln mit insgesamt 25 Episoden und vier Filme. | |
| Die Leute haben sich das also angeschaut, womit wir zum anfänglichen Warum | |
| kommen, [4][wobei das Motiv der Konsument:innen] noch interessanter | |
| erscheint als das der Macher. Beide sind zwischen Margaret Thatchers Diktum | |
| „There is no alternative“ und den einstürzenden Twin Towers aufgewachsen. | |
| Neben der Langeweile einer Dorf- oder gesättigten Mittelschichtsjugend, in | |
| der man für nichts mehr kämpfen kann, könnte also der fantasielose und | |
| verstopfte politische Zeitgeist Quelle dieser popkulturellen Barbarei | |
| gewesen sein. Ein willkommenes Angebot, sich trotz aller | |
| Alternativlosigkeit wenigstens einmal zu spüren. | |
| Volkan Ağar | |
| 1 Aug 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Emeli Glaser | |
| Carolina Schwarz | |
| Peter Weissenburger | |
| Volkan Ağar | |
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