| # taz.de -- Gewalttätiger Konflikt in Äthiopien: Die Nacht der Brandstifter | |
| > Früher lebten die Leute in Ataye friedlich zusammen. Jetzt ist der Ort | |
| > zerstört. Wie ein lokaler Konflikt die Ethnien Äthiopiens | |
| > auseinandertreibt. | |
| Ataye ist ein typisches äthiopisches Städtchen im Hochgebirge mit einer | |
| Kirche in der Nähe einer Moschee, Grund- und Oberschulen und einem | |
| Krankenhaus. Die Durchgangsstraße, die Ataye durchschneidet, kommt aus | |
| Äthiopiens 300 Kilometer südlich gelegener Hauptstadt Addis Abeba und | |
| schlängelt sich mit unzähligen Kurven nach Norden in Richtung der | |
| [1][Bürgerkriegsprovinz Tigray]. Autos teilen sich die Fahrbahn mit Frauen, | |
| die zu Fuß gehen und schwere Lasten auf dem Rücken tragen, Männern zu Pferd | |
| und Herden von Schafen und Kühen. | |
| In Ataye selbst sind derzeit aber kaum Menschen oder Tiere auf der Straße | |
| zu sehen und es ist ungewöhnlich still, wie in einer Geisterstadt. Die | |
| Straße wird hier auf beiden Seiten von ausgebrannten Häusern und Geschäften | |
| flankiert. Von einigen steht noch eine Mauer, von anderen nur noch das | |
| Fundament mit einer dicken Ascheschicht. Überall stapeln sich | |
| Wellblechhaufen, die einst Dächer waren. Nur die Kirche, die Moschee, die | |
| Schulen und das Krankenhaus sind den Flammen entkommen. | |
| Ataye ist ein Beispiel dafür, wie bewaffnete Konflikte sich inzwischen | |
| [2][in immer mehr Landesteilen Äthiopiens ausbreiten]. Die internationale | |
| Aufmerksamkeit konzentriert sich auf Tigray, wo Äthiopiens Armee seit | |
| November 2020 gegen die dort herrschende TPLF (Volksbefreiungsfront Tigray) | |
| kämpft und vor wenigen Wochen geschlagen abziehen musste. Aber im Schatten | |
| dieses Konflikts brechen auch die anderen Konfliktlinien des Landes mit | |
| Gewalt auf. | |
| Yeshamie Destage wird die Nacht des 16. April in Ataye nie vergessen. Die | |
| 60-Jährige aus der Volksgruppe der Amhara war gerade zu Bett gegangen, als | |
| sie Schüsse hörte. „Ich wusste, was das bedeutete, weil im März schon ein | |
| nahe gelegenes Amhara-Dorf angegriffen worden war“, sagt sie. „Ich zog mich | |
| schnell an und floh mit anderen Richtung Norden, denn das ist die einzige | |
| Straße, die nicht durch Oromo-Dörfer führt.“ | |
| ## Die meisten Einwohner sind geflohen | |
| Ataye ist ethnisch gemischt. Sowohl Amhara als auch Oromo leben hier – die | |
| beiden größten Ethnien Äthiopiens, das als Bundesrepublik in ethnisch | |
| definierte Regionen gegliedert ist. Die Stadt liegt in der Amhara-Region, | |
| jedoch innerhalb einer abgegrenzten Sonderzone, in der überwiegend Oromo | |
| leben. In Ataye selbst leben beide Volksgruppen. | |
| In der besagten Nacht im April kamen laut Augenzeugen Hunderte bewaffnete | |
| Männer von drei Seiten nach Ataye hinein. Ziel des Angriffs, erzählen | |
| Einwohner, waren die Amhara der Stadt. Zuvor hatten Sicherheitskräfte der | |
| Amhara einen Oromo-Ladenbesitzer getötet. Am Ende waren etwa 200 Menschen | |
| tot und mindestens 1.500 Gebäude in Brand gesteckt. Die meisten der 55.000 | |
| Einwohner flohen und sind bis heute nicht zurückgekehrt. | |
| Yeshamie lief in der Aprilnacht 17 Kilometer zu Fuß nach Ber Gibi, wo die | |
| schwächsten Flüchtlinge in der Grundschule Aufnahme fanden – andere mussten | |
| weiterziehen. Die Witwe ist inzwischen nach Ataye zurückgekehrt, aber nicht | |
| in ihr Haus. „Davon ist nichts mehr übrig“, sagt sie mit zitternder Stimme. | |
| Sie hatte das Haus vom Staat gemietet, für umgerechnet 1,5 Eurocent. „Ich | |
| war arm, deshalb durfte ich so ein Haus mieten, aber jetzt habe ich gar | |
| nichts mehr. Ich kann nur hoffen, dass die Regierung neue Häuser bauen | |
| wird.“ | |
| Nun lebt die Yeshamie mit Dutzenden Frauen, Kindern und Babys in großen | |
| Zelten des UN-Kinderhilfswerks Unicef auf dem Fußballplatz der Oberschule | |
| in Ataye. In den Zelten ist es tagsüber heiß und nachts kalt. Die meisten | |
| Zeltbewohner haben nicht mehr als eine Matratze, eine Decke und eine | |
| Plastiktüte mit gespendeter Kleidung. Sie sind auf die | |
| Lebensmittelversorgung der lokalen Regierung angewiesen und klagen, dass | |
| diese nicht ausreicht. Manche bekommen Essen von der Familie geschickt, | |
| aber Yeshamie, die drei Kinder hat, bekommt nichts extra. Ihre Töchter | |
| leben weit weg und sind ebenfalls arm. | |
| Besser dran ist Abraham Kagnaw. Seine fünf Geschwister und seine Mutter, | |
| die in anderen Teilen der Amhara-Region leben, schicken gelegentlich Essen. | |
| „Ich war nach Ataye gekommen, weil meine Frau von hier ist“, sagt der | |
| 26-Jährige und läuft zum zweistöckigen steinernen Schulgebäude, wo er mit | |
| anderen Männern in den Klassenzimmern lebt – die Frauen müssen draußen in | |
| den Zelten bleiben, auch seine eigene Ehefrau. | |
| Vor dem Angriff hatte Abraham einen Kiosk für gebrauchte Kleidung. Das | |
| brachte wenig ein, aber genug zum Leben. Nun ist nichts mehr übrig, sein | |
| Lagerbestand ist in Flammen aufgegangen und auch ihr gemietetes Zimmer | |
| liegt in Schutt und Asche. Abraham holt seinen Reisepass aus der | |
| Hosentasche. „Ich habe ihn mir schnell geschnappt, bevor ich geflohen bin“, | |
| erzählt er. „Vielleicht schaffe ich es, ins Ausland zu gehen, um Arbeit zu | |
| finden. In einer leeren Stadt kann man schließlich nichts verkaufen.“ | |
| Verantwortlich für das Flüchtlingslager ist der Gemeindebeamte Oumer | |
| Endris. „Es wird höchste Zeit, dass wir Äthiopier werden und aufhören, an | |
| unserem ethnischen Hintergrund festzuhalten“, sagt er. „Hier waren Oromo | |
| die Täter und Amhara die Opfer. An anderen Orten waren die Rollen umgekehrt | |
| verteilt. Die wahren Schuldigen sind die Politiker, die aus persönlichen | |
| Gründen junge Männer zu Gewalt gegen Rivalen aufstacheln.“ | |
| Die Hauptursachen der ethnischen Konflikte in Äthiopien sind lokale | |
| Meinungsverschiedenheiten über den Besitz oder die Nutzung von Land und | |
| Wasser sowie über den Zugang zu staatlichen Ressourcen. Oft wollen | |
| Angehörige einer Ethnie die anderen von knappen Ressourcen ausschließen. | |
| Schließlich lebt ein Drittel der über 110 Millionen Äthiopier von weniger | |
| als einem Euro am Tag, und vor allem auf dem Land ist die Armut groß. | |
| ## Die Konflikte lodern heftiger auf als zuvor | |
| Äthiopiens [3][Premierminister Abiy Ahmed], Sohn einer Amhara-Mutter und | |
| eines Oromo-Vaters, hatte nach seinem Amtsantritt 2018 versprochen, | |
| ethnische Konflikte in Äthiopien zu beenden und alle Bevölkerungsgruppen | |
| gleichzubehandeln. Aber bisher ohne großen Erfolg: Die Konflikte lodern | |
| heftiger als zuvor auf, denn jetzt nehmen überall Scharfmacher die | |
| vermeintliche Verteidigung ihrer Ethnie selbst in die Hand. | |
| Da jede Region ihre eigene, ethnisch rekrutierte Regionalarmee hat, können | |
| daraus leicht größere bewaffnete Konflikte werden. In Grenzgebieten | |
| zwischen zwei Regionen geht es oft darum, eine ethnische Gruppe ganz zu | |
| vertreiben, damit die andere das Gebiet übernehmen kann. Das scheint auch | |
| die Absicht in Ataye gewesen zu sein. | |
| An lokalen Gemeindeführern wie Oumer liegt es nun, diese Feuer wieder zu | |
| löschen – aber sie werden dabei alleingelassen. In Ataye haben lokale | |
| Behörden, Geistliche und Dorfälteste ein Friedenstreffen organisiert. | |
| Vertreter der Angreifer wie auch deren Opfern waren anwesend, erzählt | |
| Oumer. „Es wurde viel geredet, aber ich habe nicht den Eindruck, dass es | |
| eine Lösung gab. Wir wissen nicht mal genau, wer die Angreifer sind.“ | |
| Die Amhara-Bevölkerung glaubt, dass es eine Splittergruppe der ehemaligen | |
| Rebellenbewegung der Oromo (Oromo-Befreiungsfront) war, bekannt als | |
| OLF-Shane oder Oromo-Befreiungsarmee. Die OLF war jahrelang als angebliche | |
| Terrororganisation verboten aber wurde 2018 nach Abiys Amtsantritt wieder | |
| legalisiert. OLF-Shane sagt, sie würde mit der Waffe für die Rechte der | |
| Oromo kämpfen. Aber sie bestreitet die Verantwortung für den Angriff auf | |
| Ataye. | |
| „Mir ist die Politik egal, ich will nur Frieden“, sagt die 28-jährige Hiwot | |
| Workye und verjagt mit ihrer Hand die Fliegen vom Gesicht ihres vier Monate | |
| alten Babys. „Seit ich meine Tochter Tarikua habe, ist mir das wichtiger | |
| als alles andere.“ Die Mutter ist eine der wenigen im Lager, die oft | |
| lächelt, meistens wenn sie sich um ihr Kind bemüht. Der Angriff auf Ataye | |
| geschah kurz nach ihrer Entbindung im Krankenhaus. Auch sie musste fliehen, | |
| aber sie bekam einen Platz in einem Auto. | |
| Sie hofft nun, dass mehr geflohene Einwohner von Ataye bald zurückkommen. | |
| „Ich arbeitete in einem Restaurant und will das wieder tun, um für mich und | |
| Tarikua sorgen zu können“, sagt sie. „Solange es keine Kunden gibt, bleibt | |
| aber das Restaurant geschlossen.“ | |
| Ganz nah am Schulgelände steht das Krankenhaus von Ataye. Obwohl es nicht | |
| angezündet wurde, ist das kleine Gesundheitszentrum nebenan eine Ruine. | |
| Direktor Abel Gezhagu geht schweigend den Korridor auf und ab. Fast jeden | |
| Tag inspiziert er die verkohlten Mauern. In den Zimmern ist alles kaputt. | |
| „Die Angreifer haben nichts mitgenommen, sondern alles angezündet. Was | |
| nutzt das?“ | |
| Der Boden des Raumes, der als Apotheke diente, ist übersät mit zerbrochenen | |
| Flaschen, geschmolzenen Tablettenstreifen und verkohlten Scheren. In einem | |
| anderen Raum sind die Überreste von Tragen und Betten aufgestapelt. „Die | |
| Klinik war erst zehn Jahre alt und ist nicht mehr zu renovieren“, sagt | |
| Abel. „Ob und wann wir jemals Geld für eine neue bekommen, ist fraglich.“ | |
| Er ist aber froh, dass er zumindest zwei Räume im Krankenhaus als Ersatz | |
| nutzen kann. | |
| ## Der Kiosk steht noch | |
| Beim Spaziergang durch das weitgehend menschenleere Ataye hat nur eine | |
| einzige kleine Kaffeebude geöffnet. Kunden gibt es nicht. Die Eigentümerin | |
| öffnet aber jeden Tag und hat ab und zu Einwohner oder Menschen auf der | |
| Durchreise bedienen können. „Ich hatte Glück, dass mein Kiosk noch steht“, | |
| sagt sie. | |
| Weniger Glück hatte Freninet Teshages auf der anderen Seite der breiten | |
| Straße. Die Kinder der 30-Jährigen spielen in den Trümmern ihres Hauses, | |
| zwischen geschmolzenen Plastikbechern und Glasscherben. Nur die fröhlich | |
| gelb angestrichenen Wände des Hauses stehen noch. Heute lebt Freninet mit | |
| ihrem Mann und fünf Kindern in einem Zimmer im Nachbarhaus. „Wenn ich | |
| morgens die Tür öffne, sehe ich als Erstes mein abgebranntes Haus. Und | |
| jeden Tag tut es wieder weh und ich frage mich, wie es weitergehen soll.“ | |
| Ihr Mann ist Lkw-Fahrer und war während des Angriffs unterwegs. Gleich | |
| nachdem sie die ersten Schüsse hörte, rannte sie mir ihren Kindern los. | |
| „Ich habe vierjährige Zwillinge, die die ganze Zeit weinten und schnell | |
| müde waren“, erzählt Freninet. „Glücklicherweise gab es andere Menschen, | |
| darunter auch Oromo, die mir halfen. Wenn ich nicht hätte fliehen können, | |
| wären wir jetzt sicher tot.“ | |
| Was jetzt werden soll, weiß sie nicht – wie auch die anderen | |
| zurückgekehrten Amhara fühlt sie sich auch von der eigenen | |
| Amhara-Regionalregierung alleingelassen. „Das Schlimmste ist, dass hier | |
| seit April nicht einmal zusätzliche Sicherheitskräfte stationiert worden | |
| sind. Wir sind unserem Schicksal überlassen.“ | |
| Ihr jüngster Sohn umklammert ihr Bein und fängt ohne ersichtlichen Grund | |
| an, untröstlich zu weinen. Seit dem Angriff weint er viel und will nachts | |
| nicht schlafen. „Wir sind alle traumatisiert, aber er ist der Instabilste | |
| und erschreckt bei jedem Geräusch. Außerdem ist er übermüdet, wegen | |
| Schlafmangel“, sagt Freninet. „Vielleicht sollten wir von hier weg, weg von | |
| diesen Erinnerungen. Aber wohin?“ | |
| 27 Jul 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Krieg-in-Aethiopien/!5783562 | |
| [2] /Ethnische-Spannungen-in-Aethiopien/!5780615 | |
| [3] /Parlamentswahl-in-Aethiopien/!5784808 | |
| ## AUTOREN | |
| Ilona Eveleens | |
| ## TAGS | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Äthiopien | |
| Tigray | |
| Krieg | |
| Abiy Ahmed | |
| Addis Abeba | |
| GNS | |
| Äthiopien | |
| Äthiopien | |
| Äthiopien | |
| Äthiopien | |
| Äthiopien | |
| Äthiopien | |
| Äthiopien | |
| Äthiopien | |
| Äthiopien | |
| Äthiopien | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| UN-Menschenrechtsbericht zu Äthiopien: Erst Tigray, dann das ganze Land | |
| Die Experten des UN-Menschenrechtsrats werfen Äthiopien und Eritrea | |
| „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in Tigray vor. Es drohten weitere | |
| Greuel. | |
| Eskalation in Äthiopien: Das Scheitern des Abiy Ahmed | |
| Der Friedensnobelpreisträger hat sich gründlich entzaubert. Er stützt sich | |
| auf eine gewalttätige politische Kultur, um seine eigene Haut zu retten. | |
| Krieg in Äthiopien: Es tobt die Entscheidungsschlacht | |
| Die Tigray-Rebellen sind in die strategisch wichtige Stadt Dessie | |
| eingerückt. Jetzt toben schwere Kämpfe mit Äthiopiens Armee. | |
| Krieg in Äthiopien: Hungerblockade gegen Tigray | |
| Der Krieg zwischen Äthiopien und den Rebellen in Tigray wird immer | |
| brutaler. Hilfswerke warnen vor einer dramatischen Hungersnot in Tigray. | |
| Amnesty International über Tigray: Wo Vergewaltigung Kriegswaffe ist | |
| Äthiopische und eritreische Kämpfer sollen Hunderte Frauen und Mädchen | |
| „entmenschlicht“ haben, heißt es in einem Bericht. Das Ausmaß sei | |
| schockierend. | |
| Konflikt in Tigray: Rebellen nehmen Unesco-Stätte ein | |
| Kämpfer der Rebellenorganisation TPLF in Tigray sind in die benachbarte | |
| Region Amhara vorgedrungen. Dort kontrollieren sie nun die Felsenkirchen | |
| Lalibela. | |
| Äthiopische Kriegsregion Tigray: Dutzende Leichen in Fluss entdeckt | |
| Bei den Toten handelt es sich offenbar um Menschen, die aus Äthiopiens | |
| Kriegsregion Tigray fliehen wollten. Die Zentralregierung spricht von | |
| Propaganda. | |
| Parlamentswahl in Äthiopien: Abiy Ahmed siegt haushoch | |
| Die Regierungspartei von Abiy Ahmed erringt bei der Abstimmung 400 der 436 | |
| Sitze. Im Konflikt um die Region Tigray galt die Wahl als Stimmungstest. | |
| Ethnische Spannungen in Äthiopien: Die Angst regiert wieder | |
| In Äthiopien ist die einstige Aufbruchstimmung dahin. Aus dem Reformpremier | |
| Abiy Ahmed ist ein Kriegspremier geworden. | |
| Krieg in Äthiopien: Tigray will weiterkämpfen | |
| Nach ihrem Sieg über Äthiopiens Armee warnt Tigrays Regionalregierung, sie | |
| könne den Krieg ausweiten. Zugleich bittet sie um humanitäre Hilfe. |