Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Krieg in Äthiopien: Hungerblockade gegen Tigray
> Der Krieg zwischen Äthiopien und den Rebellen in Tigray wird immer
> brutaler. Hilfswerke warnen vor einer dramatischen Hungersnot in Tigray.
Bild: Genet Mehari, 5 Jahre alt, im Ayder Hospital in Tigrays Hauptstadt Mekelle
Berlin taz | Es ist ein Krieg fast ohne Öffentlichkeit, geprägt von
äußerster Brutalität und massiver Propaganda. Seit Äthiopiens Regierung von
Ministerpräsident Abiy Ahmed Anfang November 2020 den langjährigen
Machthabern der nordäthiopischen Region Tigray den Krieg erklärte, nachdem
diese sich von der äthiopischen Regierungskoalition losgesagt und ihre
Regionaltruppen sich dem äthiopischen Kommando entzogen hatten, hat sich
der Konflikt immer weiter zugespitzt. Und er wird auf dem Rücken der
Zivilbevölkerung ausgetragen.
UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet wirft den äthiopischen
Truppen „Massenverhaftungen, Mord, systematische Plünderungen und sexuelle
Gewalt“ vor: „Das Leid der Bevölkerung ist universell, Straflosigkeit
allgegenwärtig.“ Äthiopiens Regierung bezeichnet die Tigray-Rebellen der
TPLF (Tigray-Volksbefreiungsfront), die vor dem Krieg die offizielle
Regionalarmee der Provinz Tigray unter dem Namen TDF (Tigray Defence
Forces) waren, als „terroristische Gruppe“ und wirft jedem, der auf das
Leid der Menschen in Tigray hinweist, Kumpanei mit Terroristen vor.
Äthiopiens Regierung ist militärisch und politisch in der Defensive. Zu
Beginn des Krieges hatte die äthiopische Armee, verstärkt durch Truppen aus
Eritrea sowie Regionalmilizen der Nachbarregion Amhara, noch leichtes Spiel
gehabt: Am 28. November 2020 besetzte sie kampflos Tigrays Hauptstadt
[1][Mekelle] und erklärte den Krieg für gewonnen. Die TPLF tauchte ab,
ebenso zahlreiche Zivilisten. Doch die äthiopischen Truppen konnten die
zerklüfteten Bergregionen, in denen die TPLF jahrzehntelange
Guerillaerfahrung aus früheren Zeiten hat, nicht halten.
Am 28. Juni 2021 marschierte die TPLF wieder [2][siegreich] in Mekelle ein,
nahm 7.000 äthiopische Soldaten gefangen und eroberte danach weitere Städte
ihrer Provinz zurück. Äthiopiens Armee floh, Eritrea zog seine Soldaten ab.
Nur die Amhara-Milizen blieben im Tiefland im Westen von Tigray entlang der
Grenze zu Sudan stationiert.
In den Folgemonaten stießen TPLF-Truppen [3][tief nach Amhara] vor, in
Richtung der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Sie besetzten auch Teile
der Region Afar. Als Reaktion darauf mobilisierte Äthiopiens Armee Milizen
in Amhara und Afar und trommelte mit ethnischer Propaganda. Seit einigen
Wochen wechseln sich die beiden Seiten mit zunehmend brutalen Angriffen auf
Zivilisten ab: Mal 125 Tote hier, mal 200 dort – meist Opfer von
Artilleriebeschuss auf zivile Einrichtungen.
Vor einer Woche blies Äthiopiens Armee zur erneuten Großoffensive und
scheiterte kläglich: es wurden hohe Verluste gemeldet, zahlreiche Menschen
flohen aus den Kampfgebieten Amharas in von der Regierung gehaltene Städte.
Am Montag flog die äthiopische Luftwaffe erstmals seit Kriegsbeginn
Luftangriffe auf Mekelle. Es gab drei Tote bei den Angriffen, die Äthiopien
erst dementierte und dann als ausschließlich „militärischen Zielen“ gelte…
beschrieb.
## Rhetorische Grenzüberschreitungen
Von Frieden scheint derzeit keine Seite etwas wissen zu wollen. Nach einem
besonders blutigen Angriff in Amhara Anfang September mit über 200 Toten
entschuldigte sich TPLF-Sprecher Getachew Reda mit dem Satz: „Unsere
Streitkräfte versuchen, Massaker an Frauen und Kindern zu vermeiden, so gut
es geht.“
Wenig später sagte der äthiopische Regierungsberater Daniel Kibret [4][bei
einer Rede] vor Amhara-Offiziellen, Tigrayer „müssen ausgelöscht werden,
sie müssen aus dem Gedächtnis verschwinden“ und „sie müssen die Letzten
ihrer Spezies sein“. Als das bekannt wurde, behauptete er, bloß die TPLF
gemeint zu haben. Für einen möglichen Friedensprozess wäre auch das wenig
hilfreich.
Die humanitäre Situation ist besonders dramatisch, weil Tigray praktisch
von der Außenwelt abgeschnitten ist. Bei ihrem Debakel Ende Juni zog sich
Äthiopiens Armee nicht nur aus Tigray zurück, sondern sprengte auch die
wichtigste Straßenverbindung aus Amhara, stellte den Strom nach Tigray ab
und kappte die Telefonverbindungen.
Seitdem kommt in die abtrünnige Provinz auf kommerziellem Weg kein Essen
mehr, keine Medikamente, kein Geld, nichts. Von einer [5][„faktischen
Blockade“] sprach der humanitäre UN-Koordinator für Äthiopien, Grant
Leaity, Anfang September – einen Monat später wurde er mit anderen hohen
UN-Verantwortlichen des Landes verwiesen, wegen „Einmischung“.
## 90 Pozent der Bevölkerung auf Hilfe angewiesen
In Tigray sind [6][nach UN-Angaben] 5,2 Millionen Menschen – 90 Prozent der
Bevölkerung – zum Überleben auf humanitäre Hilfe angewiesen, in Amhara und
Afar weitere 2 Millionen. Äthiopien zählt insgesamt über 110 Millionen
Einwohner. 400.000 Menschen in Tigray leiden unter Hungersnot, heißt es bei
den UN weiter. Diese Zahlen beruhen auf Erhebungen aus der Zeit, bevor die
TPLF Mekelle zurückeroberte. Inzwischen soll sie auf 900.000 gestiegen
sein, mit weiteren 1,8 Millionen Menschen am Rande der Hungersnot. Der
Krieg hat Tigrays Landwirtschaft zusammenbrechen lassen, nun kommt die
Blockade dazu.
Um Tigray zu versorgen, müssten täglich 100 Lastwagen voller Lebensmittel
die Provinz erreichen, erklären UN-Helfer. Zwischen dem 12. Juli, als zwei
Wochen nach dem Fall Mekelles die ersten 29 Lastwagen des
UN-Welternährungsprogramms WFP aus Afar Tigray erreichten, und dem 7.
Oktober kamen gerade mal insgesamt 686 – der Bedarf einer Woche.
In der Woche [7][bis zum 14. Oktober] waren es immerhin 211, was hoffen
lässt. Doch um alle 5,2 Millionen Menschen wenigstens alle sechs Wochen zu
versorgen, müssten pro Woche 870.000 Menschen erreicht werden. Tatsächlich
waren es vergangene Woche 145.000, und das war ein Höchststand. Manche
bekommen bei so einer Lieferung zwei Kilo Linsen pro Person, für sechs
Wochen.
Die Hungerblockade erscheint systematisch. Helfer berichten: EU-Hilfsflüge
aus Dubai seien bei der Ankunft in Addis Abeba durchsucht und medizinische
Güter entfernt worden, bevor die Fracht weiter nach Mekelle durfte. Auch
auf UN-Flügen nach Tigray sind medizinische Güter verboten.
In Tigrays wichtigstem Krankenhaus, dem Ayder Hospital in Mekelle, gingen
schon vor Monaten die Medikamente aus. Dialysepatienten sterben,
Kleinkinder verhungern. Strom und fließendes Wasser gibt es nicht. Seit
Februar wurden in Tigray nach UN-Angaben 18.600 Kleinkinder mit schwerster
Unterernährung behandelt. Die WFP-Treibstoffvorräte in Mekelle gehen zur
Neige, Trinkwasser wird knapp.
## „Kollektive Bestrafung“
In Mekelle drängeln sich mittlerweile eine Million Menschen, darunter viele
Kriegsvertriebene. Humanitäre Helfer warnen inzwischen in Tigray vor der
schlimmsten Hungersnot der Welt seit den 1980er Jahren und sprechen von
„kollektiver Bestrafung“. Äthiopiens Regierung kontert: „Es ist absurd,
ungehinderten Zufluss humanitärer Hilfe nach Tigray zu erwarten, während
die TPLF aktiv Nachbarregionen angreift und die Menschen provoziert.“
Kaum einer der WFP-Lastwagen, der Tigray erreicht, kommt wieder zurück.
Beschlagnahmt die TPLF UN-Fahrzeuge, um darin Truppen zu bewegen? Oder hält
Äthiopien sie auf und verhaftet die Fahrer als TPLF-Spione? Beide Versionen
kursieren, für keine gibt es Beweise.
Immer lauter wird nun in den USA und der EU über Sanktionen nachgedacht –
Äthiopien bezieht 40 Prozent seines Staatshaushaltes aus Entwicklungshilfe.
Dafür aber bräuchte es Einmütigkeit im UN-Sicherheitsrat. Die gibt es
nicht.
„Düster und aussichtslos“ nennt ein ehemals leitender UN-Angestellter in
Äthiopien die Lage und sagt, es seien nun „politische Schritte“ nötig: �…
Situation beeinflusst bereits die internationale Sicherheit. Das wird noch
ernster werden.“
19 Oct 2021
## LINKS
[1] /Abschied-vom-Friedensvertrag/!5732031
[2] /Krieg-in-Aethiopien/!5783434
[3] /Konflikt-in-Tigray/!5791978
[4] https://www.youtube.com/watch?v=8BxA8hJ-dy0
[5] https://reliefweb.int/report/ethiopia/statement-acting-humanitarian-coordin…
[6] https://reliefweb.int/country/eth
[7] https://reports.unocha.org/en/country/ethiopia/
## AUTOREN
Dominic Johnson
## TAGS
Äthiopien
Tigray
Abiy Ahmed
Hungersnot
GNS
Äthiopien
Äthiopien
Äthiopien
Äthiopien
Lesestück Recherche und Reportage
Äthiopien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Eskalation in Äthiopien: Das Scheitern des Abiy Ahmed
Der Friedensnobelpreisträger hat sich gründlich entzaubert. Er stützt sich
auf eine gewalttätige politische Kultur, um seine eigene Haut zu retten.
Krieg in Äthiopien: Addis Abeba im Visier der Rebellen
Äthiopiens Regierung verhängt Ausnahmezustand, Addis Abebas Bevölkerung ist
zur Verteidigung aufgerufen. Tigrays Rebellen drohen mit Einmarsch.
Krieg in Äthiopien: Es tobt die Entscheidungsschlacht
Die Tigray-Rebellen sind in die strategisch wichtige Stadt Dessie
eingerückt. Jetzt toben schwere Kämpfe mit Äthiopiens Armee.
Amnesty International über Tigray: Wo Vergewaltigung Kriegswaffe ist
Äthiopische und eritreische Kämpfer sollen Hunderte Frauen und Mädchen
„entmenschlicht“ haben, heißt es in einem Bericht. Das Ausmaß sei
schockierend.
Gewalttätiger Konflikt in Äthiopien: Die Nacht der Brandstifter
Früher lebten die Leute in Ataye friedlich zusammen. Jetzt ist der Ort
zerstört. Wie ein lokaler Konflikt die Ethnien Äthiopiens
auseinandertreibt.
Ethnische Spannungen in Äthiopien: Die Angst regiert wieder
In Äthiopien ist die einstige Aufbruchstimmung dahin. Aus dem Reformpremier
Abiy Ahmed ist ein Kriegspremier geworden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.