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# taz.de -- Ethnische Spannungen in Äthiopien: Die Angst regiert wieder
> In Äthiopien ist die einstige Aufbruchstimmung dahin. Aus dem
> Reformpremier Abiy Ahmed ist ein Kriegspremier geworden.
Bild: Vorerst besiegt: Soldaten der äthiopischen Regierung in Tigrays Hauptsta…
Addis Abeba taz | „Abiy Ahmed ist so etwas wie Jesus Christ Superstar“,
jubelte in Mai 2018 ein junger Autohändler laut auf der Terrasse einer
Kaffeestube in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Das war kurz nach
dem Antritt des neuen Premierministers Abiy Ahmed. Vorige Woche flüsterte
derselbe junge Mann, während er um sich schaut, ob jemand mithört, in einer
Ecke eines fast leeren Restaurants: „Er hat es halt nicht leicht und
versucht sein Bestes.“ Wie beinahe jeder in Äthiopien, der mit Medien
spricht, will er anonym bleiben.
In Addis Abeba herrscht eine trübe Stimmung, seit Äthiopiens Armee sich
Ende Juni [1][nach fast acht Monaten Krieg in der Tigray-Region zurückzog]
und die Hauptstadt Mekelle kampflos den [2][Rebellen der TPLF]
(Tigray-Volksbefreiungsfront von Tigray) überließ. Premierminister Abiy
Ahmed hat einen einseitigen Waffenstillstand erklärt, sagt aber, der
Rückzug bedeute nicht, dass die Regierung den Krieg um Tigray verloren
habe.
Im Parlament kündigte er nun die Mobilmachung neuer Soldaten und
Milizionäre an und sagte, die nationale Armee sei immer noch kampffähig,
betonte jedoch auch, dass es Frieden geben müsse, damit sich Äthiopien
entwickeln könne. Auf die TPLF-Forderung, dass die äthiopischen Truppen
sich aus ganz Tigray zurückziehen, als Bedingung für einen
Waffenstillstand, ging Abiy nicht ein. Zugleich berichten Medien in Addis
Abeba von Festnahmen von Tigrayern in der Hauptstadt.
## Es brodelte unter Abiy Ahmed
Äthiopien hat sich dramatisch verändert in den vergangenen drei Jahren. Ab
April 2018 herrschte Euphorie im Land über den neuen jungen
Premierminister, der in schwindelerregendem Tempo Reformen durchführte. Er
ließ Tausende politische Gefangene frei, hob Beschränkungen für unabhängige
Medien auf und lud verbotene Oppositionsgruppen aus dem Exil zurück ins
Land.
Der Westen war ebenfalls begeistert, begierig auf eine glanzvolle
Erfolgsgeschichte in Afrika. Ende 2019 [3][erhielt Abiy den
Friedensnobelpreis], weil er das beinahe 20 Jahre alte Friedensabkommen mit
Eritrea endlich umsetzte.
Es gab aber auch schon 2018 Menschen, die vorsichtig waren und sich
[4][nicht mitschleppen ließen im Abiy-Rausch]. Atnaf Berhane von „Zone 9“,
einem Kollektiv von Bloggern und Menschenrechtsaktivisten, hatte wie viele
andere im Gefängnis gesessen, weil er seine Meinung geäußert hatte. Er
sagte nach seiner Freilassung damals: „Erst sehen, dann glauben.“
Denn während Abiy durch Äthiopien reiste und davon sprach, das
multiethnische Land zu einen, entluden sich schwelende Spannungen, die
während der autoritären Herrschaft seiner Vorgänger unter dem Deckel
gehalten worden waren. Im ganzen Land kam es zu ethnischen Zusammenstößen
und Angriffen mit Tausenden Toten. Im Friedensnobelpreisjahr 2019 waren
fast zwei Millionen Menschen in Äthiopien aus ihrer Heimat geflohen. Der
ethnische Geist war aus der Flasche.
Es war vor drei Jahren schon deutlich, wie groß der Hass gegen die TPLF
war, die Partei der kleinen Tigray-Ethnie, die 1991 als Guerilla Addis
Abeba erobert und seitdem Äthiopiens Regierung dominiert hatte. Vor allem
unter den Oromo und Amhara, die zwei größten Bevölkerungsgruppen im Land,
war die Abneigung gegen die Dominanz der TPLF groß. Mit Abiy, der eine
Amhara-Mutter und einen Oromo-Vater hat, dachten beide Ethnien, dass sie
jetzt an der Macht sein.
## Frust unter Tigrayern
Nicht nur war ihre Freude groß, dass die TPLF ihr politisches Übergewicht
verloren hatte, sondern es machte vielen Spaß, sich hemmungslos und
verächtlich über die tigrayische Bevölkerungsgruppe zu äußern. So schimpfte
damals ein Taxifahrer über einen vom Aussehen her als Tigrayer erkennbaren
Automobilisten, der ein dummes Fahrmanöver begangen hatte: „Die denken
immer noch, dass sie sich alles erlauben können.“ Dann lachte er laut: „Ich
kann das sagen, ohne Angst zu haben.“ Der mutmaßliche Tigrayer war ganz
bestimmt kein Politiker, zu urteilen nach seinem kleinen alten Auto.
Viele Tigrayer verloren ihre Positionen in den Bundesbehörden. Die TPLF zog
sich verärgert und frustriert in ihre Tigray-Region zurück. Andere
Tigrayer, eingeschüchtert von dem öffentlichen Hass gegen ihre Ethnie,
folgten. Die Beziehungen zwischen Abiy und der TPLF verschlechterten sich
rapide. Als die TPLF dann vergangenes Jahr auf eigene Faust Regionalwahlen
abhielt und gewann, während die von Abiy geplanten freien Wahlen in ganz
Äthiopien aufgrund der Coronapandemie verschoben werden mussten, war die
Lunte zum Krieg gelegt, der im November 2020 ausbrach.
Abiys Popularität litt auch in seiner eigenen Oromo-Volksgruppe. Die hatte
sich immer marginalisiert gefühlt. Oromo-Jugendliche bildeten das Rückgrat
der jahrelangen Protesten, die die Hegemonie der TPLF zerstörten und Abiy
an die Macht brachten. „Jetzt sind wir endlich an der Reihe“, bemerkte
damals ein Markthändler in Adama, ein Städtchen in der Region Oromia.
Aber es gibt historische Rivalitäten zwischen Oromo und Amhara. In der
neuen Wohlstandspartei (PP), die Abiy als seine eigene Regierungspartei
gegründet hat, ist der Amhara-Flügel sehr mächtig. Viele Oromo fanden, dass
Abiy nicht genug für sie tue. Es entstanden neue Oromo-Oppositionsparteien,
so der Oromo Federal Congress (OFC) von Jawar Mohammed, ein ehemaliger
Verbündeter von Abiy. Er sitzt jetzt im Gefängnis, beschuldigt des
Terrorismus.
## Verschwörungstheorien um Hachalu Hundessa
Die Abwärtsspirale drehte sich weiter, als am 29. Juni 2020 der populäre
[5][Oromo-Sänger Hachalu Hundessa in Addis Abeba ermordet wurde], mit nur
34 Jahren. Seine Lieder über Romantik und Freiheit hatten ihn einst ins
Gefängnis gebracht. Mehr als 150 Menschen starben bei Unruhen nach seiner
Ermordung.
Ein Jahr nach seinem Tod gibt es nicht einmal eine Gedenkfeier für den
Liebling der Oromo-Jugend. Aber überall in Addis Abeba sind riesige Poster
mit Hachalus Gesicht zu sehen. Ein Fan, der unter seiner Lederjacke ein
Hachalu-Sweatshirt trägt, meint: „Die Lage ist nicht gut für eine
Gedenkfeier. Es gibt zu viele Spannungen in Äthiopien und keiner will mehr
Tote als voriges Jahr. Man weiß auch nicht, wie die Behörden reagieren
würden.“
Es gibt zahlreiche Verschwörungstheorien über den Mord an Hachalu. Laut
Staatsanwaltschaft haben zwei festgenommene Männer gestanden, den Sänger
auf Befehl eines Splitterflügels der ehemaligen Rebellengruppe OLF
(Oromo-Befreiungsfront) getötet zu haben, um ethnische Spannungen zu
schüren und die Regierung zu stürzen. Sie lieferte keine Beweise, und die
OLF verneint.
## Die Angst ist zurück
Der Analyst Rashid Abdi warnte schon vor einem Jahr: „Die Strategie, die
TPLF zu dämonisieren, lenke einen Teil der Wut der Oromo ab. Sie riskiere
jedoch, das Gefühl der Belagerung und der Opferrolle in der Region Tigray
zu vertiefen und möglicherweise neue bewaffnete Konflikte zu schüren.“ Als
der Krieg ausbrach und diese Befürchtung Wahrheit wurde, war auch Schluss
mit den bejubelten Reformen von 2018 in Äthiopien insgesamt. Viele
Freiheiten wurden wieder zurückgenommen, zahlreiche Verhaftungen
schüchterten die Bevölkerung ein.
Äthiopier fielen erneut zurück auf Selbstzensur – wie früher. Vor drei
Jahren teilten Menschen gern ihre Meinung über positive wie auch negative
Entwicklungen. Heute stößt man auf eine Mauer des Schweigens, selbst wenn
man über so banale Dinge wie die Wasserversorgung in der Hauptstadt
sprechen will. Die Angst ist wieder vollkommen zurück.
2018 beschwerte sich ein Buchhalter aus Tigray in Addis Abeba öffentlich,
wie er wegen seiner Ethnie von seinen Kollegen gemieden wurde. Jetzt
berichtet er mit tonloser Stimme, wie seine Schwester in Tigray
vergewaltigt wurde. „Aber ich schwöre, dass niemand erfährt, dass ich es
dir erzählt habe.“
6 Jul 2021
## LINKS
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[3] /Friedensnobelpreis-fuer-Abiy-Ahmed/!5629022
[4] /Unruhen-in-Aethiopien/!5633392
[5] /Protestsaenger-in-Aethiopien-erschossen/!5697795
## AUTOREN
Ilona Eveleens
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