| # taz.de -- Tsedale Lemma über den Äthiopienkrieg: „Äthiopien droht zu zer… | |
| > Regierungschef Abiy Ahmed erhielt den Nobelpreis. Nun führt er Krieg, um | |
| > seine Macht auszubauen, sagt die bekannte Journalistin Tsedale Lemma. | |
| Bild: Menschen, die wegen der Kämpfe aus Tigray flüchteten, stehen in einem s… | |
| Lesen Sie die englische Version des Interviews [1][hier]. | |
| taz: Ms. Lemma, die Telefon- und Internetverbindungen nach Tigray sind | |
| abgeschnitten. Was wissen Sie über die Lage dort? | |
| Tsedale Lemma: Die meisten Berichte kommen von | |
| Menschenrechtsorganisationen, Hilfswerken und internationalen Journalisten, | |
| die von den 43.000 Flüchtlingen aus Tigray im Sudan berichten. Demnach ist | |
| die Lage schlimm. [2][Es gab in Mai-Kadra ein Massaker], das über 600 | |
| zivile Tote forderte, und es gibt zwei Versionen darüber, wer dieses | |
| Verbrechen verübte. | |
| Als Regierungschef Abiy Ahmed im April 2018 an die Macht kam, herrschten | |
| Freude und Optimismus, der Begriff „Abiymania“ wurde geprägt … | |
| Ja, sogar wir kritischen Journalisten waren vorsichtig optimistisch. | |
| Zugleich hatten wir Bedenken, weil es Anzeichen einer Entwicklung in | |
| Richtung eines Ein-Mann-Autoritarismus gab | |
| Wann änderte sich Ihr „vorsichtiger Optimismus“? | |
| Der hielt nur ein paar Monate. Abiy spielte die Rufe nach einem klaren | |
| Reformplan immer herunter. Er öffnete politische Freiräume, aber es gab | |
| keine Rechtsstaatlichkeit. Es gab keine ernsthaften Gespräche mit der | |
| Opposition. Wir sagten immer: Wir müssen darüber reden, wie Wahlen | |
| stattfinden sollen in dieser angespannten Lage, denn wenn man nach 27 | |
| Jahren Härte plötzlich politische Freiheiten zulässt, muss man Ordnung | |
| wahren. Das war der Punkt, wo viele Äthiopier merkten, dass Abiy den | |
| falschen Weg geht. Er tat mehr, um Addis Abeba zu verschönern, als die | |
| Sicherheitslage zu verbessern. | |
| [3][2019 erhielt er den Friedensnobelpreis] für seinen Friedensschluss mit | |
| Eritrea nach zwei Jahrzehnten Feindschaft. | |
| Wir haben nie erfahren, was diese Friedensverträge beinhalten. Wir | |
| kritischen Journalisten haben gesagt, dass das äthiopische Volk es erfahren | |
| sollte und der Vertrag institutionalisiert werden muss. Aber das geschah | |
| nicht. Das äthiopische Parlament hat nie irgendwas gebilligt, Abiy umging | |
| auch das Außenministerium, es war eine persönliche Sache zwischen Abiy und | |
| Eritreas Präsident. | |
| Abiy versprach nationale Einheit. War das naiv? | |
| Ja. Äthiopien hat eine multinationale, föderale Verfassung. Aber Abiys Buch | |
| „Medemer“, in dem er seine Zukunftsvision entwirft, ist das Gegenteil. Der | |
| Ministerpräsident bekennt sich immer wieder zur multinationalen Föderation | |
| Äthiopien, aber seine Vision des Staatsaufbaus steht dem entgegen. Es gibt | |
| keine autonome Region, deren Regionalpräsident nicht von Abiy berufen wurde | |
| – außer Tigray. Stellen Sie sich vor, Angela Merkel bestellt den | |
| bayerischen Ministerpräsidenten ins Kanzleramt und sagt ihm: Dein Kabinett | |
| muss sofort zurücktreten. Es sieht danach aus, dass Abiy eine | |
| zentralisierte Regierung will, in der sein Einfluss unbeschränkt ist, und | |
| das widerspricht dem äthiopischen Staatswesen, wie es in der Verfassung von | |
| 1995 festgelegt wurde. | |
| Drei Jahrzehnte hat die Regierungskoalition EPRDF regiert, sie gewann | |
| Wahlen mit über 90 Prozent und die TPLF aus Tigray hatte darin großen | |
| Einfluss, obwohl Tigray nur 6 Prozent der Bevölkerung stellt. War Abiys | |
| Ziel nicht einfach eine repräsentativere Führung? | |
| Sie müssen eines verstehen: Die EPRDF war verhasst. Sie war von innen | |
| heraus verfault. Sie war korrupt, autoritär und brutal. Es war nötig, sich | |
| vom Erbe der EPRDF zu lösen, und daher wollte Abiy sie zerschlagen. Das ist | |
| verständlich, aber auch problematisch. | |
| Problematisch wieso? | |
| Im Dezember 2017, bevor Abiy an die Macht kam, setzten sich die Führer | |
| aller vier Parteien in der EPRDF 17 Tage lang zusammen. Sie listeten auf, | |
| was zu tun wäre, um die EPRDF zu retten: politische Gefangene freilassen, | |
| die Politik demokratisieren, die Justiz reformieren, den Sicherheitssektor | |
| reformieren. Abiy wurde als Ministerpräsident eingesetzt, um diese | |
| Reformagenda umzusetzen und das Land zu freien Wahlen zu führen. | |
| Stattdessen entschied er sich für die abrupte Zerschlagung der autoritären | |
| Partei, die das Land mit eiserner Hand regiert hatte. Er zerstörte die | |
| einzige politische Struktur, die das Land seit 27 Jahren hatte. Man muss so | |
| etwas sehr vorsichtig machen. | |
| Abiy löste die EPRDF auf und gründete eine neue Regierungspartei, die | |
| „Wohlstandspartei“ (PP). Was bezweckte er damit? | |
| Machtkonsolidierung. Die PP ist als Struktur gedacht, in der wenige Leute | |
| die Macht vom Zentrum heraus kontrollieren können. Die Äthiopier haben aber | |
| nicht gegen die Machtherrschaft der bisherigen Eliten gekämpft, um sie | |
| durch Eliten von Abiys eigener Volksgruppe der Oromo ersetzt zu sehen. | |
| Derweil warten die Oromo noch auf Antworten auf ihre Fragen nach | |
| Arbeitsplätzen, Selbstverwaltung, dem Recht auf ihre Sprache als | |
| Amtssprache, all das ist ungeklärt. | |
| Sollte die PP nicht eine fairere Repräsentation der verschiedenen | |
| äthiopischen Bevölkerungsgruppen ermöglichen? | |
| Ja, und bisher marginalisierte Regionen wie die Somali-Region wurden | |
| aufgenommen. Aber damit endete es. Es gab nie einen Gründungsparteitag der | |
| PP, es gibt keine kollektiven Beschlüsse. Alle Entscheidungen der Partei | |
| kommen aus Abiys Büro. | |
| Die TPLF machte bei der Gründung der PP nicht mit. Wie viel Unterstützung | |
| hat die TPLF in Tigray? | |
| Vor zweieinhalb Jahren hätte ich gesagt: Ihre Unterstützung schwindet. Die | |
| Tigrayer waren unzufrieden über die Art, wie die TPLF bis dahin die Bundes- | |
| und die Regionalregierung führte, die Regierung war autoritär, und Tigrayer | |
| waren ebenso unzufrieden wie der Rest Äthiopiens. Doch als Abiy an die | |
| Macht kam, begann er, die TPLF-Offiziellen zu verfolgen, während andere, | |
| die mindestens ebenso kriminell waren, unangetastet blieben. Die | |
| TPLF-Führung wurde zum Ziel der Antikorruptionsmaßnahmen und sagte, sie | |
| würde zum Sündenbock gemacht. Sie verließ Addis Abeba und ließ sich [4][in | |
| Tigrays Hauptstadt Mekelle] nieder. Das näherte sie dem Volk Tigrays an und | |
| vertiefte den Graben mit Abiy. Es war eine physische und nicht mehr nur | |
| eine politische Entfremdung. | |
| Wie konnte die Beziehung zwischen Abiy und der TPLF so schlecht werden? | |
| Es gibt eine lange Kette von Ereignissen. Mal ist eine Seite kriegerischer | |
| als die andere, mal sind beide Seiten kompromisslos. Und natürlich ist da | |
| die Rhetorik, der Krieg der Worte, die heftigen gegenseitigen Vorwürfe, | |
| all das hat die politische Stimmung vergiftet. Der Bruch kam mit der | |
| Auflösung der EPRDF und der Gründung der PP. Dann sagte Abiy wegen Corona | |
| die lang erwarteten Wahlen in Äthiopien ab, und die TPLF hielt in Tigray | |
| ihre eigenen Wahlen ab. Damit war der Punkt erreicht, wo es kein Zurück | |
| mehr gab. | |
| Jetzt gibt es Berichte über Verfolgung ethnischer Tigrayer in anderen | |
| Regionen … | |
| Ja, es gibt Hinweise auf staatlich sanktioniertes und gesellschaftliches | |
| „ethnisches Profiling“ von Tigrayern, nicht nur der TPLF. Wir hören von | |
| Tigraystämmigen in Addis Abeba und anderswo, bei denen nachts die Polizei | |
| auftaucht und die Häuser durchsucht. Es werden auch Bankkonten ohne | |
| offensichtlichen Grund geschlossen. | |
| Was muss jetzt passieren? | |
| Nötig ist eine sofortige Einstellung der Kampfhandlungen. Jeder weitere Tag | |
| verkompliziert den Konflikt und verschärft regionale Rivalitäten. Sudan, | |
| das an Tigray grenzt, ist ein Staat voller Söldner und Regierenden mit | |
| Waffen, die grenzüberschreitend tätig werden können. Eritrea unterstützt in | |
| Tigray die äthiopische Bundesregierung. Tigrays Regionalregierung meldet | |
| Drohnenangriffe, und das kann gut sein, denn die Arabischen Emirate haben | |
| eine Militärbasis in Eritrea, von der aus sie Drohnenangriffe gegen die | |
| Huthi-Rebellen in Jemen führen. Die TPLF hat im Gegenzug Eritrea | |
| beschossen. Der Krieg macht Äthiopien auch intern verwundbar. Der | |
| Zusammenhalt wird auseinandergerissen, Repression macht sich wieder | |
| bemerkbar. Wir hören von Massakern und bewaffneten Bewegungen in anderen | |
| Landesteilen wie dem Süden und Westen; die nationale Armee, die nach Norden | |
| verlegt wurde, hat ein Sicherheitsvakuum hinterlassen. Wenn das so | |
| weitergeht, wird die Föderation auseinanderfliegen. | |
| 29 Nov 2020 | |
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| [1] /Interview-on-the-Tigray-conflict/!5732070 | |
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| ## AUTOREN | |
| Benjamin Breitegger | |
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