# taz.de -- Designgeschichte der DDR: Alles lässt sich auswechseln | |
> Eine Ausstellung in Chemnitz würdigt den Gestalter Karl Clauss Dietel. | |
> Sein Spielraum in der DDR war oft beschnitten. | |
Bild: Karl Clauss Dietel, Skizze für Simson 1969, Ausschnitt | |
Horch, Wanderer, DKW und die Auto-Union: Die Namen stehen für eine | |
europäische Automobilgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts, die bis zur | |
deutschen Teilung [1][in der sächsischen Industrieregion um Chemnitz | |
lokalisiert] war. Mit rund 400 Betrieben war sie zur leistungsfähigen | |
Hochburg rund um das zwei- und vierrädrige Fahrzeug avanciert. DKW etwa war | |
1928 der weltweit größte Motorradhersteller. Klar, dass nach der | |
Abwanderung vieler Firmen in den Westen und der Zwangsverstaatlichung | |
verbliebener Produktionsanlagen eine neue Fahrzeugindustrie in der DDR | |
nur mühsam an den Weltmarkt aufschließen konnte. | |
Umso mehr befremdet, mit welch ideologischer Verbohrtheit wegweisende | |
Entwicklungen einer eigenständigen, innovativen und vor allem international | |
konkurrenzfähigen Fahrzeugkultur immer wieder vereitelt wurden. | |
Davon weiß der wohl bekannteste Formgestalter der DDR, Karl Clauss Dietel, | |
eine Menge zu erzählen. 1934 geboren, lernte er Maschinenschlosser und | |
besuchte die Ingenieurschule für Kraftfahrzeugbau Zwickau, Schwerpunkt | |
Karosseriebau. Ab 1956 folgte ein Studium der Formgestaltung an [2][der | |
Hochschule für angewandte Kunst in Berlin-Weißensee], 1961 Diplom mit | |
Auszeichnung. | |
Sein Abschlussentwurf galt einem „sozialistischen Auto“ der unteren | |
Mittelklasse: langer Radstand, familienfreundlich großes Nutzvolumen bei | |
möglichst kleiner Standfläche, keine Chromzier, gute Rundumsicht, | |
Frontantrieb und leichte Bedienbarkeit. Der Clou war eine französisch | |
inspirierte, durch Sitzhaltung und Fahrgefühl begründete Voll- bis | |
Steilheckkarosse, in Formvarianten aerodynamisch ausgetüftelt und | |
fotografisch dokumentiert. | |
## Entwürfe für „die Abstellräume“ | |
Ein wenig antizipierte sie den 1965 herausgebrachten, wenngleich | |
eleganteren und prompt von der internationalen Motorpresse zum „Auto des | |
Jahres“ gekürten Renault 16 mit seiner markanten Heckklappe. Der Pkw-Bau | |
der DDR jedoch beharrte fast bis zum bitteren Ende auf dem biederen | |
Stufenheck – und dem Umweltfrevel Zweitaktmotor. | |
In einer kollektiven Aufbruchstimmung der frühen 1960er Jahre entschied | |
sich Dietel 1963 für die Freiberuflichkeit, meist mit seinem Kollegen aus | |
Studienzeiten, Lutz Rudolph (1936–2011). Lang wurde die Liste ihrer | |
Entwürfe „für die Abstellräume“, so Dietel einmal sarkastisch. Mit der | |
Niederschlagung des Prager Frühlings drehte 1968 die politische | |
Großwetterlage der DDR – im kulturellen Sektor wie auch im Fahrzeugbau. | |
Weit gediehene Entwicklungsarbeiten für Nachfolgemodelle des Trabant wurden | |
abgebrochen. | |
Ironischerweise wurde 1989 die seit 1958 fast unverändert produzierte | |
„Rennpappe“ Trabant zum Symbol des friedlichen Untergangs der DDR, oder wie | |
Dietel es sagt: Sie ist die Metapher für ihr Scheitern. In keiner anderen | |
künstlerischen Disziplin sei eine staatliche Eingrenzung so stark zu | |
empfinden gewesen wie im Bereich der Produktgestaltung, nirgends habe es | |
derartige Abwanderungen in den Westen gegeben, aber auch Verzweiflung bis | |
zum Suizid, so Dietel. | |
Er war ab 1974 Vizepräsident im Verband Bildender Künstler VBK, trat 1981 | |
nach Repressalien durch das Amt für industrielle Formgestaltung, das | |
Freiberufler gerne eliminiert gesehen hätte, zurück. 2014 erhält er als | |
erster Gestalter aus der DDR den Designpreis der Bundesrepublik Deutschland | |
für sein Lebenswerk. | |
## Mit der Schreibmaschine „Erika“ im Westen erfolgreich | |
Die Kunstsammlungen Chemnitz widmen Dietel derzeit einen ersten Überblick | |
über sein mehr als 60-jähriges Schaffen. Politisch beäugt bis offen | |
angegriffen, hat er sein individuelles Werk zusammengehalten und 2019 den | |
Sammlungen seiner Heimatstadt 8.800 Positionen als Vorlass übergeben: | |
Skizzen, Werkpläne, Fotografien, Form- und Funktionsmodelle. | |
2020 wurde der Fundus gemeinsam erschlossen: Für Dietel war es überraschend | |
zu rekapitulieren, was er neben Fahrzeugen, Schreibmaschinen, wie der in | |
den Westen exportierten „Erika“, oder Geräten für den halbprivaten | |
Hersteller Heliradio noch gemacht hatte: Stadtgestaltung, Bauplastik, auch | |
das Grabmal der Bauhäuslerin Marianne Brandt. | |
Sein Credo forderte für ein Gebrauchsobjekt, dass es langlebig, leicht und | |
handlich, kurz: lebensfreundlich sein solle. Das bedeutete auch: anders als | |
die Wegwerfkonsumgüter des Westens und gut zu reparieren. Sein daraus | |
entwickeltes „Offenes Prinzip“ bewährt sich bis heute in einem seiner | |
erfolgreichsten Entwürfe, dem Simson-Mokick, das 1974 in Serie ging. Alles | |
lässt sich auswechseln, es gibt Motoren und Ersatzteile, mittlerweile aus | |
chinesischer Produktion, sodass Grundrahmen mit Typenschild ausreichen, um | |
immer wieder ein zulassungsfähiges Fahrzeug neu aufzubauen. So sind aktuell | |
wohl mehr Simsons in Betrieb als zur Wende, meint Dietel. | |
Er verortet sich in einer nationalen Tradition des Werkbundes und des | |
Bauhauses, fortgeführt an der Hochschule Weißensee. In diesem Sinne hat er | |
an der Burg Giebichenstein in Halle unterrichtet, die Fachschule für | |
angewandte Kunst in Schneeberg geleitet. Seinen kulturellen Anspruch an | |
eine Formgestaltung sieht Karl Clauss Dietel als wesentlichen Unterschied | |
zu „modischen“ Designs, besonders im Fahrzeugbau: „Ich war, bin und bleibe | |
ein deutscher Gestalter“. | |
1 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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