# taz.de -- Aktivistin über Proteste in Kolumbien: „Gegen ein ganzes System�… | |
> Für den Nationalfeiertag sind in Kolumbien neue Massenproteste | |
> angekündigt. Aktivistin Milena Acevedo über Wege zu echter Mitbestimmung. | |
Bild: Wegen Polizeigewalt und sozialer Ungleichheit wird protestiert | |
taz: Frau Acevedo, bei der Nationalen Volksversammlung diskutieren derzeit | |
3.000 Menschen über die Zukunft Kolumbiens. Warum haben Sie die Versammlung | |
mit ins Leben gerufen? | |
Milena Acevedo: Wir müssen uns organisieren. Seit 28. April [1][gehen in | |
Kolumbien Menschen auf die Straße]. Darunter sind viele junge Leute ohne | |
Zugang zu Bildung und Menschen ohne Arbeit. Sie gehören keiner politischen | |
oder sozialen Bewegung an – wollen aber unbedingt das Land verändern. Von | |
dem Nationalen Streikkomitee (das Gespräche mit der Regierung abgebrochen | |
hat und ebenfalls für den 20. Juli zu Protesten aufruft; Anm. d. R.) fühlen | |
sie sich nicht vertreten. Bei der Nationalen Volksversammlung diskutieren | |
wir in Arbeitsgruppen, wie wir das Land verändern wollen. Es geht dabei zum | |
Beispiel um Menschenrechte, Gleichberechtigung, Bildung, Gesundheit, | |
Umwelt, Landrechte. | |
Wie können 3.000 Menschen eine Verhandlungsgrundlage entwickeln? | |
Uns ist wichtig, alle Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Das klingt | |
absurd, langatmig und unpraktisch. Aber wir werden nicht erlauben, dass | |
andere Menschen ohne Rücksprache und ohne unsere Mitbestimmung über unser | |
Leben entscheiden. Die Mehrheit muss sich einig sein. Wenn eine Minderheit | |
nicht einverstanden ist, öffnen wir einen Raum, wo sie ihre Gründe erklären | |
können. Daraus bilden wir gemeinsame politische Forderungen, für die wir | |
künftig mobilisieren werden. | |
Die Regierung kann aber kaum mit 3.000 Menschen verhandeln. | |
Die Idee ist, dass jede Gruppe Vertreter*innen schickt – zum Beispiel | |
Indigene, Studierende, Frauen, Bauern, LGBTIQ. Diese Vertreter*innen | |
sollen immer wieder mit ihren Organisationen und Gemeinschaften Rücksprache | |
halten, sodass die Menschen permanent eingebunden werden. Teilhabende | |
Demokratie endet nicht mit einem Kreuzchen auf dem Wahlzettel. Wir sind ein | |
diverses Land. Afrogemeinschaften haben andere Formen der Teilhabe als | |
Indigene oder Menschen in den Städten. Wir wollen in den Differenzen unsere | |
Gemeinsamkeiten finden und unsere Zukunft in die Hand nehmen. | |
Ihr habt kürzlich die Universidad del Valle besetzt. Warum? | |
Nach der ersten Nationalen Volksversammlung im Juni in der Hauptstadt | |
Bogotá, sollte die zweite in Cali stattfinden. Wir hatten einige Wochen | |
vorher im Rathaus, bei der Regionalregierung und an der Uni wegen | |
Veranstaltungsorten angefragt, wurden aber abgewiesen oder vertröstet. Also | |
haben wir die Uni besetzt. Sie ist öffentlich, hat Platz für die | |
Gemeinschaftsküchen und die Zelte der Teilnehmer*innen. | |
Und die Leitung hat keine Polizei geschickt? | |
Nein. Bei der Besetzung im April, kurz vor Beginn der nationalen Proteste, | |
hat sie das getan. Das widerspricht aber der universitären Autonomie, denn | |
in öffentliche Unis dürfen Polizei und Armee nicht hinein. Wir forderten | |
deshalb den Rücktritt des Rektors und der Gouverneurin der Region. Das | |
haben wir nicht erreicht, sie entschuldigten sich aber und gaben uns | |
Garantien, dass das nicht wieder passieren wird. | |
Von der Regionalregierung gibt es dennoch Widerstand. | |
Die [2][Gouverneurin der Region Valle del Cauca, Clara Luz Roldán], hat per | |
Dekret die Grenzen des Verwaltungsgebiets seit Freitag geschlossen, um die | |
Menschen an der Teilnahme an den Protesten und dem Volkskongress zu | |
hindern. Als wir davon erfuhren, haben wir die ganze Nacht Briefe an | |
Menschenrechtsorganisationen und die Vereinten Nationen geschrieben. Wir | |
gehen auch juristisch dagegen vor, da es gegen das Recht auf Freizügigkeit, | |
Versammlungsfreiheit und Protest verstößt. | |
Wie ist die Lage [3][in Cali, wo die Proteste besonders eskalierten]? | |
Alle Blockaden wurden mit Militärgewalt aufgelöst. Die Demos sind vorbei. | |
Aber der Protest geht weiter in Form einer permanenten Versammlung. Jeden | |
Dienstag treffen sich die Leute zum Diskutieren. Und am Nationalfeiertag am | |
Dienstag werden sie wieder auf die Straßen gehen. Auch danach wird es nicht | |
aufhören. Nächstes Jahr sind Präsidentschaftswahlen. Die Mehrheit der | |
Kolumbianer*innen ist sich einig, dass wir den Uribismus (rechte | |
Bewegung der Anhänger*innen von Expräsident Álvaro Uribe, zu der auch | |
der aktuelle Präsident Iván Duque zählt; Anm. d. R.) abschaffen müssen. | |
Wie geht es Ihnen in diesen turbulenten Tagen? | |
Auch wenn das angesichts der Gewalt komisch klingt, bin ich seit dem 28. | |
April glücklich. Erst protestierten die Menschen [4][gegen eine | |
Steuerreform], dann gegen die Regierung und jetzt gegen ein ganzes System. | |
Es ist für mich so schön, all die unterschiedlichen Menschen zu sehen. | |
Bauern aus dem Catatumbo, einer vom Drogenhandel gebeutelten Region, | |
Menschen aus dem Magdalena, wo der Paramilitarismus so stark ist und die | |
Studierendenbewegung zum Schweigen gebracht wurde. Es sind Menschen aus | |
Bogotá nach Cali gereist, die nicht mehr so ein zentralisiertes Land | |
wollen. Wir veranstalten auch eine Kinderversammlung, denn Kinder haben | |
viel zu sagen. Sie werden zum Aufbau des Landes beitragen und die | |
Konsequenzen unserer Entscheidungen erleben. | |
20 Jul 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Proteste-gegen-die-Regierung-Duque/!5774858 | |
[2] https://www.semana.com/nacion/articulo/no-pude-cerrar-cali-porque-jorge-iva… | |
[3] /Proteste-gegen-Kolumbiens-Regierung/!5770706 | |
[4] /Protestwelle-in-Kolumbien/!5769364 | |
## AUTOREN | |
Katharina Wojczenko | |
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