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# taz.de -- Von der Touristin zur Aktivistin: In der ersten Reihe
> Rebecca Sprößer reist zum Salsatanzen nach Kolumbien. Wenige Wochen
> später steht sie an vorderster Front der Protestbewegung. Wie kam es
> dazu?
Bild: Mai 2021: Demonstrierende bei Protesten in Cali, Kolumbien
Die Stimme des Priesters hallt durch die Kirche, die bis zum letzten Platz
gefüllt ist. „Wir denken an unsere Familien, die – gerade in Pandemiezeiten
– so weit weg sind“, predigt er auf Spanisch. Die Sonntagsmesse der
spanischsprachigen katholischen Gemeinde in Frankfurt ist vor allem von
Exil-Lateinamerikaner*innen besucht. In der ersten Reihe sitzt eine Frau
mit hellen blonden Locken und hellblauen Augen. Der Priester verliest die
Namen von Angehörigen, die in letzter Zeit gestorben sind. Beim Namen Jhoan
Sebastián Bonilla Bermúdez kommen der Frau die Tränen.
Knapp zwei Monate vorher geht eine Nachricht durch die kolumbianischen
Medien: „Kolumbien weist Deutsche aus, die die ‚Primera Linea‘ in Cali
unterstützte“, schreibt die Zeitung El Colombiano. Die Deutsche sei als
Touristin nach Kolumbien gekommen, habe sich dann aber einer militanten
Gruppe von Protestierenden, der „Primera Linea“ – der „Ersten Reihe“ …
angeschlossen. Es wurde auf sie und ihren Freund geschossen. Er starb; sie
wurde abgeschoben. Ihr Name: Rebecca Sprößer.
In ihren Posts auf Facebook und Instagram wirkt Sprößer nicht wie eine
überzeugte Radikale, eher ein bisschen naiv. „Ich bin ein friedlicher
Mensch, Hass ist etwas für schwache Menschen und schadet am Ende nur dir
selbst – ich hab es immer bevorzugt, zu lieben und Freude zu versprühen“,
schreibt sie auf Spanisch. Auf den Fotos in ihrer Timeline malt sie
Herzchen in die Selfies mit Vermummten. In ihren Videos hastet sie durch
Menschenmassen auf Demos und kommentiert mit hoher Stimme das Geschehen.
Wer ist die Frau, die sich in Kolumbien radikalen Gruppen anschloss und
innerhalb von wenigen Wochen zur Aktivistin wurde? Wie kam es dazu?
Der Versuch einer Rekonstruktion führt nach Frankfurt in die Kirche der
spanischsprachigen Gemeinde. Nach der Messe ist das Make-up auf Sprößers
Gesicht von den Tränen verwischt. „Ich muss jetzt erst mal durchatmen“,
sagt sie. Sie trägt ein Lederjäckchen über einem T-Shirt, auf dem „Gott und
Primera Linea“ steht. Sprößer ist 34, in echt wirkt sie älter als auf ihren
Videos. Sie sieht etwas müde aus, trotz ihrer sorgsam geschminkten Augen.
Auf dem Weg zu ihrem geparkten Auto spricht sie fast ununterbrochen, die
Geschichten aus Kolumbien sprudeln aus ihr heraus. Obwohl es um Gewalt,
Liebe und den Tod des Freundes geht, wirkt sie manchmal fast kühl,
kontrolliert. „Meine Psychologin sagt, dass ich noch gar nicht in der Phase
bin, wo man verarbeitet. Ich bin noch in der Schockphase“, sagt sie.
Bis zum April 2021 ist Rebecca Sprößers Leben ziemlich normal. Sie wächst
in einer eher konservativen Familie in Hanau auf. Ihre Eltern betreiben
einen Fleischerladen in Frankfurt. Schon mit 16 Jahren zieht sie von zu
Hause aus, das Verhältnis zu ihrer Familie ist kühl. Nach dem Abitur macht
Sprößer eine Ausbildung und fängt ihren heutigen Job an. Was sie arbeitet,
möchte sie nicht öffentlich machen. Außerdem reist sie viel und zunehmend
zieht es sie weg aus Deutschland, nach Lateinamerika.
Ein Jahr lebt sie in Mexiko und arbeitet von dort aus. Parallel macht sie
ein Praktikum in einer Videoproduktionsfirma, die für den deutschen
Medienmarkt produziert. „Immer wenn ich nach Frankfurt zurück musste, habe
ich Lateinamerika so vermisst“, erzählt Sprößer im Auto, während draußen
die Skyline vorbeizieht.
Sie sucht Anschluss an die lateinamerikanische Community und findet ihn
beim Salsatanzen. Hier erzählen ihr Tanzpartner von einer renommierten
Salsaschule in Kolumbien. Also schmiedet sie einen Plan: Ihren normalen Job
kann sie wegen Corona eh nicht machen, sie bezieht Kurzarbeitergeld. Für
zwei Wochen will sie an die Tanzschule in Kolumbien und dann weiter nach
Mexiko.
Im März 2021 fliegt Sprößer nach Cali, eine Millionenstadt, in der es immer
heiß und laut ist. Ständig dröhnt Musik aus den Lautsprechern der Nachbarn,
Straßenverkäufer preisen Früchte an, der Verkehr ist chaotisch. Für die
Tanzschule macht Sprößer Öffentlichkeitsarbeit und erhält im Tausch
Gratistanzstunden. Es gefällt ihr so gut, dass sie noch länger bleiben
will.
Doch dann ändert sich die Pandemielage, und Cali geht in den Lockdown. Die
Tanzschule muss schließen. Die Besitzerin hat Schulden und fliegt aus der
Wohnung, erzählt Sprößer. „Die war mittlerweile eine gute Freundin von mir,
ich habe da so mitgelitten.“ Noch heute klingt Sprößer empört, wenn sie
davon erzählt. „Ich dachte, das geht gar nicht. Natürlich verstehe ich
Corona. Aber die Regierung muss helfen. Sie kann nicht einfach alles
zumachen und sagen, ihr müsst gucken, wie ihr klar kommt.“ Die
Coronamaßnahmen bringen viele Menschen in Cali in Existenznot. Kaum jemand
kann seiner Arbeit nachgehen, fast niemand hat Rücklagen. Unterstützung vom
Staat gibt es so gut wie keine. Eltern, die ihre Kinder nicht mehr
versorgen können, laufen durch die Straßen und bitten an den Türen um etwas
Reis oder ein paar Bohnen.
Mitte April 2021 finden in Cali die ersten Demonstrationen gegen die
Regierung statt. Freunde aus der Tanzschule fragen Sprößer, ob sie
mitkommt. Es ist die erste Demo in ihrem Leben. Vorher habe sie sich eher
nicht für Politik interessiert, sagt sie. Doch als ihre Bekannten aus der
Tanzschule in Not gerieten, habe sie sie unterstützen wollen.
Als Präsident Iván Duque mitten in der Coronakrise mit einer Steuerreform
vor allem die untere Mittelschicht stärker belasten will, um die leere
Staatskasse zu füllen, mobilisieren Gewerkschaften und soziale Bewegungen
zu einem Generalstreik. Am 28. April beginnen die größten Proteste in
Kolumbien seit mehr als 50 Jahren. Rebecca Sprößer ist mittendrin.
Auch dann, als die Polizei die Demos mit Tränengas und Gummigeschossen
angreift. Für Sprößer ist das so neu wie schockierend. Die Polizeigewalt
spielt eine wichtige Rolle bei der Politisierung der Frankfurterin. „Ich
hatte vorher noch nie Polizeigewalt in meinem Leben gesehen. Ich dachte
immer, wir sind friedlich, uns wird ja nichts passieren.“ Der
Tränengasangriff im überfüllten Zentrum sorgt für Panik unter den
Demonstrierenden. „Da habe ich das erste Mal gemerkt: Oh Mann, das ist echt
ernst hier.“
Sie geht trotzdem – oder gerade deswegen – weiter zu den Demos. Jemand von
einer Hilfsorganisation habe sie gefragt, ob sie nicht helfen wolle,
medizinische Versorgungspakete an den Streikpunkten zu verteilen, erzählt
sie. So lernt sie mehr Menschen auf den Demos kennen, aber noch sind es
flüchtige Kontakte. Sprößer beginnt auch zu filmen. Früher hat sie auf
ihrem Instagram-Account von ihren Reisen berichtet, nun sind die Proteste
ihr Erlebnis. Doch außerhalb ihres Freundeskreises schaut kaum jemand ihre
Videos.
Cali ist das Zentrum des sozialen Aufstands. Streikende errichten
Barrikaden, die sie gegen die Polizei verteidigen. Dabei nehmen die Leute
der Primera Linea, der „ersten Reihe“, eine wichtige Rolle ein. Sie
versuchen, die Demonstrationen gegen die Polizei zu schützen. Mit
selbstgebauten Blechschildern gegen Gummigeschosse, Gasmasken oder
Schwimmbrillen gegen Tränengas. Für die Regierung sind die Vermummten
Kriminelle. Im Laufe der Proteste werden alle Gruppen, die sich als Teil
der Primera Linea ausgeben, als terroristische Vereinigungen eingestuft.
Die Protestierenden besetzen Straßenzüge und errichten dort Camps. Eines
davon ist „Puerto Resistencia“ – „Hafen des Widerstands“, wie ihn die
Rebellierenden nennen. Rolando Quintero, den sie in Puerto Resistencia
liebevoll „El Profe“ („Prof“) nennen, war von Anfang an dabei. Über
Whatsapp beschreibt er der taz die Gruppe: „Wir aus der Primera Linea sind
eigentlich die Letzten. Wir stehen ganz hinten in der Schlange für ein
würdevolles und glückliches Leben.“ Er selbst habe studiert, aber das gelte
sonst für kaum jemanden in Puerto Resistencia; die Mehrheit der Jungs komme
gerade so zurecht, für sie mache die Gesellschaft kaum Angebote. Dafür gebe
es in ihrem Umfeld viel Gewalt: Gangs, rivalisierende Ultragruppen zweier
Fußballvereine aus Cali und der Drogenhandel. „Viele verlieren ihr Leben
auf der Straße“, sagt Quintero.
Auch in Puerto Resistencia soll Rebecca Sprößer medizinische
Versorgungsmittel vorbeibringen. Das improvisierte bunte Camp hinter den
Barrikaden habe sie überrascht, erzählt Sprößer. Eine Band macht Musik, es
wird getanzt. Kleine Kinder spielen auf der Straße, während Mütter in
großen Töpfen für die Gemeinschaft kochen. Es wird dunkel, aber Sprößer
will nicht gehen, so wohl fühlt sie sich. Als die Leute zu ihr sagen, dass
es nachts gefährlich werde, gibt es schon kein Taxi mehr, mit dem sie nach
Hause fahren könnte. Also bleibt sie. Einer Freundin schreibt sie: „Mach
dir keine Sorgen, die Jungs von der Primera Linea sind so süß und passen
auf mich auf.“
Während sie erzählt, sucht Rebecca Sprößer einen Parkplatz im Frankfurter
Vorort. „Mein Nachbar ist immer sauer auf mich, weil ich ihm den Parkplatz
wegnehme. Typisch deutsch“, sagt sie genervt. Dann kommt sie wieder auf die
erste Nacht in Puerto Resistencia zu sprechen. „Die Jungs haben mein Leben
mehr beschützt als ihres, das war so unglaublich.“
Gefiel Sprößer ihre Rolle bei den Jugendlichen im Widerstand? Gefiel es
ihr, im Mittelpunkt zu stehen? Die einzige Deutsche zu sein, die sich
hierher traut?
Einige in Puerto Resistencia sehen Sprößer anfangs misstrauisch. Auch
Rolando Quintero: „Ich dachte: Was macht diese Deutsche hier? Und was ist
ihre Motivation?“ In der Primera Linea sind sie ständig auf der Hut vor
Menschen, die die Polizei versucht in die Gruppen einzuschleusen, um
Informationen zu erhalten.
Sprößer findet den Ort aufregend und die Jugendlichen sympathisch. Deren
Euphorie und Tatendrang hätten sie angesteckt, erzählt sie. Sie kommt in
den nächsten Tagen wieder und gewinnt zunehmend das Vertrauen der Gruppe.
„Sie war respektvoll und sensibel. Und irgendwann hat sie hier praktisch
gelebt“, berichtet Quintero. Jhoan Sebastián Bonilla Bermúdez, der
26-jährige Anführer der Gruppe in Puerto Resistencia, fällt Sprößer
besonders auf. Er hat das Wappen des lokalen Fußballvereins auf die Brust
tätowiert. „Ich habe noch nie einen Menschen mit so einer Aura
kennengelernt“, sagt sie. „Er war so fokussiert und professionell. Alle
hatten viel Respekt vor ihm.“
Je näher Sprößer den Menschen im Camp kommt, umso mehr sieht sie auch die
Gewalt, der sie ausgesetzt sind. Mehr als 40 Menschen werden in den ersten
drei Wochen des Streiks getötet. Sprößers Videos fangen die Brutalität ein.
„Als es immer krasser wurde, habe ich gedacht: Ich muss das an die Presse
schicken.“ Aus ihrer Zeit bei der Videoproduktion in Mexiko hat sie
Kontakte in deutsche Redaktionen, die sie anschreibt. Doch das Interesse
ist begrenzt. Bis ihr ein Journalist einen Tipp gegeben habe: Sie solle
selbst ins Bild. „Ich wollte niemals vor die Kamera, das ist echt nicht
meins. Aber dann hab ich mich dazu gezwungen, und das haben die dann alle
gern genommen. Boah, eine Deutsche, eine Weiße ist da, wo geschossen wird.
Das ließ sich dann verkaufen“, erzählt Sprößer.
Auf den Videos wirkt es, als gefalle ihr die neue Rolle. Sie stellt sich
auf den Demos als „deutsche Journalistin“ vor. Später sagt sie in einem
Interview mit dem kolumbianischen Radiosender W-Radio, dass Journalismus
ihr Traumberuf gewesen sei. Mit einem weißen Pressehelm, auf den sie eine
Deutschlandfahne klebt, dreht sie Live-Videos und stellt sie auf Facebook
und Instagram. In Deutschland greifen die Frankfurter Rundschau und der WDR
ihre Berichte auf.
Die Deutsche wirkt so naiv wie entschlossen: In einem Video geht sie auf
eine Gruppe von Polizisten zu und fragt sie vor laufender Handykamera,
warum die Polizei auf Demonstrierende schießt. Die Polizisten sagen, sie
würden sich nur gegen gewalttätige Randalierer verteidigen. Neun Minuten
diskutieren sie. Sprößer geht wieder zu den Demonstrierenden, kurz darauf
wird es unübersichtlich. Tränengasgranaten fliegen durch eine Wohnsiedlung.
Sprößer ist immer noch live, sie ist selbst vermummt und trägt eine
Schwimmbrille. Sie rennt, die verwackelten Bilder werden begleitet von
Schreien. Sprößers hohe Stimme sticht heraus: „Kinder, hier sind Kinder und
kleine Babys!“, schreit sie. „Sie greifen die Leute aus dem Viertel an.“
Und: „Wir haben hier nichts, nichts, keine Waffen, nichts.“ Einige Babys
hätten nach den Tränengasattacken wiederbelebt werden müssen, erzählt
Sprößer.
Das Video geht im Anschluss viral. Sie erhält auf Facebook nun 100
Freundschaftsanfragen pro Minute, wie sie erzählt. Auf einmal ist sie
Influencerin in Kolumbien. Die einen feiern sie in den Kommentaren, weil
sie auch dann mit der Handykamera draufhält, wenn keine Presse vor Ort ist.
Die Regierungsunterstützer verachten sie: „Geh doch in deinem Land Chaos
stiften, hau ab und vergiss Kolumbien“, kommentiert ein Nutzer ein Foto auf
Instagram. Auch von Drohanrufen auf ihr Handy berichtet Sprößer.
Während andere aus der Primera Linea versuchen, ihre Anonymität zu waren,
gibt Sprößer Interviews. Bald kennt man „die Deutsche aus der Primera
Linea“ im ganzen Land. Ihre Reichweite wird so groß, dass sich ihr sowohl
linke als auch rechte Kräfte annähern. Die einen, wie der
Präsidentschaftskandidat Gustavo Petro, unterstützen sie auch noch, nachdem
sie bereits wieder in Deutschland ist. Die anderen versuchen, den Hass
gegen sie zu befeuern. Wie der rechte regierungsnahe Radiomoderator Luis
Carlos Vélez, der sie als Unterstützerin der gewalttätigen Proteste sieht.
In einem Interview fragt er sie: „Was passiert in Deutschland, wenn man
einen Polizisten schlägt?“ Sprößer gerät ins Schwimmen. Vélez sagt: „E…
sehr schlimm, dass Leute wie du in mein Land kommen und hier machen, was
sie in ihrem Land nicht machen können.“
Sprößer wird vereinnahmt und angefeindet. Gleichzeitig lernt sie, die
Aufmerksamkeit für die Primera Linea zu nutzen. Dachte sie anfangs noch,
dass sie Journalistin sein könnte, macht sie jetzt die Pressearbeit in
Puerto Resistencia. Medienanfragen laufen über sie; das bestätigen
Mitglieder der Gruppe der taz. Auch Quintero, der sie anfangs noch kritisch
gesehen hat, sagt heute über Sprößer: „Sie ist voll und ganz Primera
Linea.“ Einige aber vertrauen Sprößer bis zum Ende nicht und möchten, dass
sie bei wichtigen Treffen nicht dabei ist.
Die Gefahr für die Aktivist*innen geht von staatlichen und
paramilitärischen Kräften aus, die teils auch in zivil auftreten. An einer
Blockade sei ein Mann mit einer Pistole zu ihr gekommen, erzählt Sprößer.
Er habe gesagt, dass er sie umbringen werde, wenn sie nicht verschwinde.
Auch andere Mitglieder der Primera Linea berichten von Morddrohungen.
Ihre Eltern und Geschwister aus Deutschland versuchen Sprößer zu
überzeugen, dass sie zurückkommt. Doch Sprößer will nicht. „Ich dachte
damals noch, dass mir als Weiße nichts passieren wird“, sagt sie. Auch die
Aktivist*innen der Primera Linea scheinen sich mit ihr sicherer zu
fühlen. Auf Sprößers Videos rufen sie immer wieder der angreifenden Polizei
entgegen: „Hier ist deutsche Presse!“ Sprößer fühlt sich wohl in ihrer
Rolle: „Wenn ich es nicht mache, dann macht es keiner“, erzählt sie
rückblickend.
Dann seufzt sie, als hätte sie sich das alles nicht ausgesucht. Vor ihr
steht das Aufnahmegerät. Sprößer ist mittlerweile in ihrer kleinen Wohnung
in Frankfurt, in ihrem Wohnzimmer mit weißer Sofagarnitur und Souvenirs aus
Mexiko und Kolumbien. Sie fühle sich hier nicht zu Hause, sagt sie.
In Puerto Resistencia identifiziert sie sich immer mehr mit den
Jugendlichen, die gegen die Regierung kämpfen – bis ins Unheimliche. „Das
klingt vielleicht ein bisschen verrückt, aber ich habe nach der Bedrohung
mit dem Revolver zu meinen Compañeros gesagt: Wenn die so dumm sind und
eine Deutsche erschießen, dann habe ich für das ganze Land gewonnen. Dann
kommt die Veränderung, dann haben wir gewonnen.“
Es ist ein Satz, der viel über Sprößer sagt. Es wirkt, als habe sie
tatsächlich geglaubt, in dem Konflikt eine historische Rolle einzunehmen.
Die große Aufmerksamkeit in den sozialen Medien verstärkt diese
Wahrnehmung. Sprößers Geschichte hätte sich ohne Social Media so wohl nicht
ereignet – aber auch nicht ohne den Kontext vom Kolonialismus geprägter
Machtverhältnisse: Als Deutsche erhält sie in Kolumbien deutlich mehr
Reichweite als die Jugendlichen aus der Primera Linea.
Erlebte Sprößer in ihrer Helferinnenrolle eine so starke Selbsterfüllung,
dass sie dafür ihr Leben aufs Spiel setzte? Oder geht es ihr in erster
Linie um die Jugendlichen aus Cali?
Die meisten Tourist*innen verlassen in einer so angespannten politischen
Lage das Land. Journalist*innen und humanitäre Helfer*innen halten
aus Professionalität eine gewisse Distanz zu den Menschen. Und Rebecca
Sprößer? Lässt diese Barriere fallen. So sehr, dass sie sich als Teil einer
Gruppe fühlt, in der alle ihr Leben aufs Spiel setzen.
Es gibt noch einen Grund, warum Sprößer sich so verbunden fühlt: Jhoan
Bonilla, der Anführer der Gruppe. Sprößer erzählt diese Liebesgeschichte
heute mit viel Pathos. Wie genau ihre Beziehung zu Bonilla aussah, lässt
sich nicht nachprüfen. Bonillas Mutter bestätigt in einem Radiointerview
aber, dass es eine Anziehungskraft zwischen ihrem Sohn und Rebecca Sprößer
gegeben habe.
Sicher ist: Am 22. Juli 2021 treffen sich Bonilla und Sprößer. Sie erzählt
diesen Abend so: Es beginnt zu regnen, und Bonilla leiht ihr seine Jacke.
Als es nur noch tröpfelt, laufen sie in Richtung eines kleinen Parks. Unter
einem großen Baum steht eine Bank, sie setzen sich. Bonilla sitzt rechts
von Sprößer. Sie sagt, plötzlich habe sie von schräg rechts vor sich den
Lauf einer Waffe gesehen. Ohne etwas zu sagen, schießt der Attentäter so,
dass die Kugeln in einer Linie zuerst Bonilla und dann Sprößer treffen. 13
Kugeln stoßen durch seinen Oberkörper und eine Tasche durch zu Sprößer, wo
sie nicht mehr genug Kraft haben, um sie ernsthaft zu verletzen. Abgesehen
von zwei Streifschüssen am Arm bleibt sie unverletzt. Jhoan Bonilla aber
ist in Lebensgefahr.
Das ist Rebecca Sprößers Version der Tat. Die kolumbianische Polizei
erklärt später in den Medien, es habe sich um einen Raubüberfall gehandelt.
Sprößer gibt an, dass der Täter nach den Schüssen geflohen sei und nichts
geklaut habe. Bis heute wurde kein Tatverdächtiger ermittelt.
Nach den Schüssen auf Jhoan Bonilla habe sich sein Zustand im Krankenhaus
zunächst stabilisiert. Doch drei Tage nach dem Attentat geht es ihm
schlechter. Aus Sicherheitsgründen habe ihr die Klinik verboten, weiter bei
ihm zu sein, erzählt Sprößer. Kurz darauf wird Sprößer festgenommen, da
sie sich an Aktivitäten beteiligt habe, die über den Zweck ihres
Tourismusvisums hinausgingen. Am 28. Juli 2021 steigt sie in Begleitung von
zwei Polizisten in einen Flieger nach Frankfurt. Im Flugzeug erhält sie die
Nachricht, dass Jhoan Bonilla im Krankenhaus gestorben ist.
Zwei Monate später trägt Sprößer in Frankfurt noch immer die Jacke bei
sich, die Bonilla ihr in der Nacht des Attentats geliehen hat. Sie sagt,
irgendwo in ihr sei da noch Hoffnung, dass Jhoan Bonilla wieder auftaucht.
Sie lebt nach wie vor im kolumbianischen Rhythmus, steht erst zur
Mittagszeit auf und ist nachts wach, wenn die Nachrichten aus Cali auf
ihrem Handy eintrudeln.
Sie will nicht, dass der Mord an Jhoan Bonilla einer von vielen
unaufgeklärten bleibt, und sie will seiner Familie helfen, indem sie eine
Spendenkampagne im Internet organisiert. Außerdem helfe sie ehemaligen
Mitstreiter*innen von der Primera Linea bei der Beantragung von Asyl,
erzählt sie. Sprößer erhält auch in Deutschland noch Drohungen auf ihr
Handy, sagt sie. Details möchte sie aber nicht nennen, so habe sie es mit
ihren Anwälten vereinbart.
Zu ihrer Familie hat Sprößer kaum Kontakt. Ihre Mutter habe kein
Verständnis dafür, dass sie sich so in Gefahr begeben hat.
Sprößer sagt, sie sehne sich zunehmend nach Ruhe. Ruhe von den Drohungen
und der Konfrontation. Deswegen kritisiere sie die kolumbianische Regierung
nicht mehr. Auch ihre Social-Media-Profile haben sich verändert. Sie hat
ihre Videos mit Polizeigewalt gelöscht. Die führten nur zu mehr Hass, sagt
sie. Auch auf Instagram ist sie inzwischen nicht mehr aktiv. Auf Facebook
schreibt sie immer wieder lange Posts über ihre Liebe zu Jhoan Bonilla.
Sprößers Erinnerungen kreisen zunehmend um ihren verlorenen Freund. Politik
will sie gerade nicht machen. Eine Einladung des linken
Präsidentschaftskandidaten Gustavo Petro, sich an seiner Kampagne zu
beteiligen, lehnte sie ab. „Ich bin ja gar nicht so links“, sagt sie.
War Sprößer einfach zur falschen Zeit am falschen Ort? Sie würde sagen, sie
war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. „Die Zeit in Cali war die
glücklichste meines Lebens.“ Euphorie und Schmerz trafen sich täglich. Sie
fühlte sich lebendig. Ausgerechnet im kolumbianischen Ausnahmezustand fand
sie eine Rolle, die sie erfüllte. Jetzt, in Frankfurt, ist sie wieder auf
der Suche nach ihrem Platz.
Einige Tage später meldet sich Rebecca Sprößer noch einmal telefonisch. Sie
klingt niedergeschlagen. In Puerto Resistencia gebe es Streit. „Wir alle
haben gerade eine schwere Zeit“, sagt sie, als sei sie noch immer dort.
17 Oct 2021
## AUTOREN
Fabian Grieger
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