# taz.de -- Von der Touristin zur Aktivistin: In der ersten Reihe | |
> Rebecca Sprößer reist zum Salsatanzen nach Kolumbien. Wenige Wochen | |
> später steht sie an vorderster Front der Protestbewegung. Wie kam es | |
> dazu? | |
Bild: Mai 2021: Demonstrierende bei Protesten in Cali, Kolumbien | |
Die Stimme des Priesters hallt durch die Kirche, die bis zum letzten Platz | |
gefüllt ist. „Wir denken an unsere Familien, die – gerade in Pandemiezeiten | |
– so weit weg sind“, predigt er auf Spanisch. Die Sonntagsmesse der | |
spanischsprachigen katholischen Gemeinde in Frankfurt ist vor allem von | |
Exil-Lateinamerikaner*innen besucht. In der ersten Reihe sitzt eine Frau | |
mit hellen blonden Locken und hellblauen Augen. Der Priester verliest die | |
Namen von Angehörigen, die in letzter Zeit gestorben sind. Beim Namen Jhoan | |
Sebastián Bonilla Bermúdez kommen der Frau die Tränen. | |
Knapp zwei Monate vorher geht eine Nachricht durch die kolumbianischen | |
Medien: „Kolumbien weist Deutsche aus, die die ‚Primera Linea‘ in Cali | |
unterstützte“, schreibt die Zeitung El Colombiano. Die Deutsche sei als | |
Touristin nach Kolumbien gekommen, habe sich dann aber einer militanten | |
Gruppe von Protestierenden, der „Primera Linea“ – der „Ersten Reihe“ … | |
angeschlossen. Es wurde auf sie und ihren Freund geschossen. Er starb; sie | |
wurde abgeschoben. Ihr Name: Rebecca Sprößer. | |
In ihren Posts auf Facebook und Instagram wirkt Sprößer nicht wie eine | |
überzeugte Radikale, eher ein bisschen naiv. „Ich bin ein friedlicher | |
Mensch, Hass ist etwas für schwache Menschen und schadet am Ende nur dir | |
selbst – ich hab es immer bevorzugt, zu lieben und Freude zu versprühen“, | |
schreibt sie auf Spanisch. Auf den Fotos in ihrer Timeline malt sie | |
Herzchen in die Selfies mit Vermummten. In ihren Videos hastet sie durch | |
Menschenmassen auf Demos und kommentiert mit hoher Stimme das Geschehen. | |
Wer ist die Frau, die sich in Kolumbien radikalen Gruppen anschloss und | |
innerhalb von wenigen Wochen zur Aktivistin wurde? Wie kam es dazu? | |
Der Versuch einer Rekonstruktion führt nach Frankfurt in die Kirche der | |
spanischsprachigen Gemeinde. Nach der Messe ist das Make-up auf Sprößers | |
Gesicht von den Tränen verwischt. „Ich muss jetzt erst mal durchatmen“, | |
sagt sie. Sie trägt ein Lederjäckchen über einem T-Shirt, auf dem „Gott und | |
Primera Linea“ steht. Sprößer ist 34, in echt wirkt sie älter als auf ihren | |
Videos. Sie sieht etwas müde aus, trotz ihrer sorgsam geschminkten Augen. | |
Auf dem Weg zu ihrem geparkten Auto spricht sie fast ununterbrochen, die | |
Geschichten aus Kolumbien sprudeln aus ihr heraus. Obwohl es um Gewalt, | |
Liebe und den Tod des Freundes geht, wirkt sie manchmal fast kühl, | |
kontrolliert. „Meine Psychologin sagt, dass ich noch gar nicht in der Phase | |
bin, wo man verarbeitet. Ich bin noch in der Schockphase“, sagt sie. | |
Bis zum April 2021 ist Rebecca Sprößers Leben ziemlich normal. Sie wächst | |
in einer eher konservativen Familie in Hanau auf. Ihre Eltern betreiben | |
einen Fleischerladen in Frankfurt. Schon mit 16 Jahren zieht sie von zu | |
Hause aus, das Verhältnis zu ihrer Familie ist kühl. Nach dem Abitur macht | |
Sprößer eine Ausbildung und fängt ihren heutigen Job an. Was sie arbeitet, | |
möchte sie nicht öffentlich machen. Außerdem reist sie viel und zunehmend | |
zieht es sie weg aus Deutschland, nach Lateinamerika. | |
Ein Jahr lebt sie in Mexiko und arbeitet von dort aus. Parallel macht sie | |
ein Praktikum in einer Videoproduktionsfirma, die für den deutschen | |
Medienmarkt produziert. „Immer wenn ich nach Frankfurt zurück musste, habe | |
ich Lateinamerika so vermisst“, erzählt Sprößer im Auto, während draußen | |
die Skyline vorbeizieht. | |
Sie sucht Anschluss an die lateinamerikanische Community und findet ihn | |
beim Salsatanzen. Hier erzählen ihr Tanzpartner von einer renommierten | |
Salsaschule in Kolumbien. Also schmiedet sie einen Plan: Ihren normalen Job | |
kann sie wegen Corona eh nicht machen, sie bezieht Kurzarbeitergeld. Für | |
zwei Wochen will sie an die Tanzschule in Kolumbien und dann weiter nach | |
Mexiko. | |
Im März 2021 fliegt Sprößer nach Cali, eine Millionenstadt, in der es immer | |
heiß und laut ist. Ständig dröhnt Musik aus den Lautsprechern der Nachbarn, | |
Straßenverkäufer preisen Früchte an, der Verkehr ist chaotisch. Für die | |
Tanzschule macht Sprößer Öffentlichkeitsarbeit und erhält im Tausch | |
Gratistanzstunden. Es gefällt ihr so gut, dass sie noch länger bleiben | |
will. | |
Doch dann ändert sich die Pandemielage, und Cali geht in den Lockdown. Die | |
Tanzschule muss schließen. Die Besitzerin hat Schulden und fliegt aus der | |
Wohnung, erzählt Sprößer. „Die war mittlerweile eine gute Freundin von mir, | |
ich habe da so mitgelitten.“ Noch heute klingt Sprößer empört, wenn sie | |
davon erzählt. „Ich dachte, das geht gar nicht. Natürlich verstehe ich | |
Corona. Aber die Regierung muss helfen. Sie kann nicht einfach alles | |
zumachen und sagen, ihr müsst gucken, wie ihr klar kommt.“ Die | |
Coronamaßnahmen bringen viele Menschen in Cali in Existenznot. Kaum jemand | |
kann seiner Arbeit nachgehen, fast niemand hat Rücklagen. Unterstützung vom | |
Staat gibt es so gut wie keine. Eltern, die ihre Kinder nicht mehr | |
versorgen können, laufen durch die Straßen und bitten an den Türen um etwas | |
Reis oder ein paar Bohnen. | |
Mitte April 2021 finden in Cali die ersten Demonstrationen gegen die | |
Regierung statt. Freunde aus der Tanzschule fragen Sprößer, ob sie | |
mitkommt. Es ist die erste Demo in ihrem Leben. Vorher habe sie sich eher | |
nicht für Politik interessiert, sagt sie. Doch als ihre Bekannten aus der | |
Tanzschule in Not gerieten, habe sie sie unterstützen wollen. | |
Als Präsident Iván Duque mitten in der Coronakrise mit einer Steuerreform | |
vor allem die untere Mittelschicht stärker belasten will, um die leere | |
Staatskasse zu füllen, mobilisieren Gewerkschaften und soziale Bewegungen | |
zu einem Generalstreik. Am 28. April beginnen die größten Proteste in | |
Kolumbien seit mehr als 50 Jahren. Rebecca Sprößer ist mittendrin. | |
Auch dann, als die Polizei die Demos mit Tränengas und Gummigeschossen | |
angreift. Für Sprößer ist das so neu wie schockierend. Die Polizeigewalt | |
spielt eine wichtige Rolle bei der Politisierung der Frankfurterin. „Ich | |
hatte vorher noch nie Polizeigewalt in meinem Leben gesehen. Ich dachte | |
immer, wir sind friedlich, uns wird ja nichts passieren.“ Der | |
Tränengasangriff im überfüllten Zentrum sorgt für Panik unter den | |
Demonstrierenden. „Da habe ich das erste Mal gemerkt: Oh Mann, das ist echt | |
ernst hier.“ | |
Sie geht trotzdem – oder gerade deswegen – weiter zu den Demos. Jemand von | |
einer Hilfsorganisation habe sie gefragt, ob sie nicht helfen wolle, | |
medizinische Versorgungspakete an den Streikpunkten zu verteilen, erzählt | |
sie. So lernt sie mehr Menschen auf den Demos kennen, aber noch sind es | |
flüchtige Kontakte. Sprößer beginnt auch zu filmen. Früher hat sie auf | |
ihrem Instagram-Account von ihren Reisen berichtet, nun sind die Proteste | |
ihr Erlebnis. Doch außerhalb ihres Freundeskreises schaut kaum jemand ihre | |
Videos. | |
Cali ist das Zentrum des sozialen Aufstands. Streikende errichten | |
Barrikaden, die sie gegen die Polizei verteidigen. Dabei nehmen die Leute | |
der Primera Linea, der „ersten Reihe“, eine wichtige Rolle ein. Sie | |
versuchen, die Demonstrationen gegen die Polizei zu schützen. Mit | |
selbstgebauten Blechschildern gegen Gummigeschosse, Gasmasken oder | |
Schwimmbrillen gegen Tränengas. Für die Regierung sind die Vermummten | |
Kriminelle. Im Laufe der Proteste werden alle Gruppen, die sich als Teil | |
der Primera Linea ausgeben, als terroristische Vereinigungen eingestuft. | |
Die Protestierenden besetzen Straßenzüge und errichten dort Camps. Eines | |
davon ist „Puerto Resistencia“ – „Hafen des Widerstands“, wie ihn die | |
Rebellierenden nennen. Rolando Quintero, den sie in Puerto Resistencia | |
liebevoll „El Profe“ („Prof“) nennen, war von Anfang an dabei. Über | |
Whatsapp beschreibt er der taz die Gruppe: „Wir aus der Primera Linea sind | |
eigentlich die Letzten. Wir stehen ganz hinten in der Schlange für ein | |
würdevolles und glückliches Leben.“ Er selbst habe studiert, aber das gelte | |
sonst für kaum jemanden in Puerto Resistencia; die Mehrheit der Jungs komme | |
gerade so zurecht, für sie mache die Gesellschaft kaum Angebote. Dafür gebe | |
es in ihrem Umfeld viel Gewalt: Gangs, rivalisierende Ultragruppen zweier | |
Fußballvereine aus Cali und der Drogenhandel. „Viele verlieren ihr Leben | |
auf der Straße“, sagt Quintero. | |
Auch in Puerto Resistencia soll Rebecca Sprößer medizinische | |
Versorgungsmittel vorbeibringen. Das improvisierte bunte Camp hinter den | |
Barrikaden habe sie überrascht, erzählt Sprößer. Eine Band macht Musik, es | |
wird getanzt. Kleine Kinder spielen auf der Straße, während Mütter in | |
großen Töpfen für die Gemeinschaft kochen. Es wird dunkel, aber Sprößer | |
will nicht gehen, so wohl fühlt sie sich. Als die Leute zu ihr sagen, dass | |
es nachts gefährlich werde, gibt es schon kein Taxi mehr, mit dem sie nach | |
Hause fahren könnte. Also bleibt sie. Einer Freundin schreibt sie: „Mach | |
dir keine Sorgen, die Jungs von der Primera Linea sind so süß und passen | |
auf mich auf.“ | |
Während sie erzählt, sucht Rebecca Sprößer einen Parkplatz im Frankfurter | |
Vorort. „Mein Nachbar ist immer sauer auf mich, weil ich ihm den Parkplatz | |
wegnehme. Typisch deutsch“, sagt sie genervt. Dann kommt sie wieder auf die | |
erste Nacht in Puerto Resistencia zu sprechen. „Die Jungs haben mein Leben | |
mehr beschützt als ihres, das war so unglaublich.“ | |
Gefiel Sprößer ihre Rolle bei den Jugendlichen im Widerstand? Gefiel es | |
ihr, im Mittelpunkt zu stehen? Die einzige Deutsche zu sein, die sich | |
hierher traut? | |
Einige in Puerto Resistencia sehen Sprößer anfangs misstrauisch. Auch | |
Rolando Quintero: „Ich dachte: Was macht diese Deutsche hier? Und was ist | |
ihre Motivation?“ In der Primera Linea sind sie ständig auf der Hut vor | |
Menschen, die die Polizei versucht in die Gruppen einzuschleusen, um | |
Informationen zu erhalten. | |
Sprößer findet den Ort aufregend und die Jugendlichen sympathisch. Deren | |
Euphorie und Tatendrang hätten sie angesteckt, erzählt sie. Sie kommt in | |
den nächsten Tagen wieder und gewinnt zunehmend das Vertrauen der Gruppe. | |
„Sie war respektvoll und sensibel. Und irgendwann hat sie hier praktisch | |
gelebt“, berichtet Quintero. Jhoan Sebastián Bonilla Bermúdez, der | |
26-jährige Anführer der Gruppe in Puerto Resistencia, fällt Sprößer | |
besonders auf. Er hat das Wappen des lokalen Fußballvereins auf die Brust | |
tätowiert. „Ich habe noch nie einen Menschen mit so einer Aura | |
kennengelernt“, sagt sie. „Er war so fokussiert und professionell. Alle | |
hatten viel Respekt vor ihm.“ | |
Je näher Sprößer den Menschen im Camp kommt, umso mehr sieht sie auch die | |
Gewalt, der sie ausgesetzt sind. Mehr als 40 Menschen werden in den ersten | |
drei Wochen des Streiks getötet. Sprößers Videos fangen die Brutalität ein. | |
„Als es immer krasser wurde, habe ich gedacht: Ich muss das an die Presse | |
schicken.“ Aus ihrer Zeit bei der Videoproduktion in Mexiko hat sie | |
Kontakte in deutsche Redaktionen, die sie anschreibt. Doch das Interesse | |
ist begrenzt. Bis ihr ein Journalist einen Tipp gegeben habe: Sie solle | |
selbst ins Bild. „Ich wollte niemals vor die Kamera, das ist echt nicht | |
meins. Aber dann hab ich mich dazu gezwungen, und das haben die dann alle | |
gern genommen. Boah, eine Deutsche, eine Weiße ist da, wo geschossen wird. | |
Das ließ sich dann verkaufen“, erzählt Sprößer. | |
Auf den Videos wirkt es, als gefalle ihr die neue Rolle. Sie stellt sich | |
auf den Demos als „deutsche Journalistin“ vor. Später sagt sie in einem | |
Interview mit dem kolumbianischen Radiosender W-Radio, dass Journalismus | |
ihr Traumberuf gewesen sei. Mit einem weißen Pressehelm, auf den sie eine | |
Deutschlandfahne klebt, dreht sie Live-Videos und stellt sie auf Facebook | |
und Instagram. In Deutschland greifen die Frankfurter Rundschau und der WDR | |
ihre Berichte auf. | |
Die Deutsche wirkt so naiv wie entschlossen: In einem Video geht sie auf | |
eine Gruppe von Polizisten zu und fragt sie vor laufender Handykamera, | |
warum die Polizei auf Demonstrierende schießt. Die Polizisten sagen, sie | |
würden sich nur gegen gewalttätige Randalierer verteidigen. Neun Minuten | |
diskutieren sie. Sprößer geht wieder zu den Demonstrierenden, kurz darauf | |
wird es unübersichtlich. Tränengasgranaten fliegen durch eine Wohnsiedlung. | |
Sprößer ist immer noch live, sie ist selbst vermummt und trägt eine | |
Schwimmbrille. Sie rennt, die verwackelten Bilder werden begleitet von | |
Schreien. Sprößers hohe Stimme sticht heraus: „Kinder, hier sind Kinder und | |
kleine Babys!“, schreit sie. „Sie greifen die Leute aus dem Viertel an.“ | |
Und: „Wir haben hier nichts, nichts, keine Waffen, nichts.“ Einige Babys | |
hätten nach den Tränengasattacken wiederbelebt werden müssen, erzählt | |
Sprößer. | |
Das Video geht im Anschluss viral. Sie erhält auf Facebook nun 100 | |
Freundschaftsanfragen pro Minute, wie sie erzählt. Auf einmal ist sie | |
Influencerin in Kolumbien. Die einen feiern sie in den Kommentaren, weil | |
sie auch dann mit der Handykamera draufhält, wenn keine Presse vor Ort ist. | |
Die Regierungsunterstützer verachten sie: „Geh doch in deinem Land Chaos | |
stiften, hau ab und vergiss Kolumbien“, kommentiert ein Nutzer ein Foto auf | |
Instagram. Auch von Drohanrufen auf ihr Handy berichtet Sprößer. | |
Während andere aus der Primera Linea versuchen, ihre Anonymität zu waren, | |
gibt Sprößer Interviews. Bald kennt man „die Deutsche aus der Primera | |
Linea“ im ganzen Land. Ihre Reichweite wird so groß, dass sich ihr sowohl | |
linke als auch rechte Kräfte annähern. Die einen, wie der | |
Präsidentschaftskandidat Gustavo Petro, unterstützen sie auch noch, nachdem | |
sie bereits wieder in Deutschland ist. Die anderen versuchen, den Hass | |
gegen sie zu befeuern. Wie der rechte regierungsnahe Radiomoderator Luis | |
Carlos Vélez, der sie als Unterstützerin der gewalttätigen Proteste sieht. | |
In einem Interview fragt er sie: „Was passiert in Deutschland, wenn man | |
einen Polizisten schlägt?“ Sprößer gerät ins Schwimmen. Vélez sagt: „E… | |
sehr schlimm, dass Leute wie du in mein Land kommen und hier machen, was | |
sie in ihrem Land nicht machen können.“ | |
Sprößer wird vereinnahmt und angefeindet. Gleichzeitig lernt sie, die | |
Aufmerksamkeit für die Primera Linea zu nutzen. Dachte sie anfangs noch, | |
dass sie Journalistin sein könnte, macht sie jetzt die Pressearbeit in | |
Puerto Resistencia. Medienanfragen laufen über sie; das bestätigen | |
Mitglieder der Gruppe der taz. Auch Quintero, der sie anfangs noch kritisch | |
gesehen hat, sagt heute über Sprößer: „Sie ist voll und ganz Primera | |
Linea.“ Einige aber vertrauen Sprößer bis zum Ende nicht und möchten, dass | |
sie bei wichtigen Treffen nicht dabei ist. | |
Die Gefahr für die Aktivist*innen geht von staatlichen und | |
paramilitärischen Kräften aus, die teils auch in zivil auftreten. An einer | |
Blockade sei ein Mann mit einer Pistole zu ihr gekommen, erzählt Sprößer. | |
Er habe gesagt, dass er sie umbringen werde, wenn sie nicht verschwinde. | |
Auch andere Mitglieder der Primera Linea berichten von Morddrohungen. | |
Ihre Eltern und Geschwister aus Deutschland versuchen Sprößer zu | |
überzeugen, dass sie zurückkommt. Doch Sprößer will nicht. „Ich dachte | |
damals noch, dass mir als Weiße nichts passieren wird“, sagt sie. Auch die | |
Aktivist*innen der Primera Linea scheinen sich mit ihr sicherer zu | |
fühlen. Auf Sprößers Videos rufen sie immer wieder der angreifenden Polizei | |
entgegen: „Hier ist deutsche Presse!“ Sprößer fühlt sich wohl in ihrer | |
Rolle: „Wenn ich es nicht mache, dann macht es keiner“, erzählt sie | |
rückblickend. | |
Dann seufzt sie, als hätte sie sich das alles nicht ausgesucht. Vor ihr | |
steht das Aufnahmegerät. Sprößer ist mittlerweile in ihrer kleinen Wohnung | |
in Frankfurt, in ihrem Wohnzimmer mit weißer Sofagarnitur und Souvenirs aus | |
Mexiko und Kolumbien. Sie fühle sich hier nicht zu Hause, sagt sie. | |
In Puerto Resistencia identifiziert sie sich immer mehr mit den | |
Jugendlichen, die gegen die Regierung kämpfen – bis ins Unheimliche. „Das | |
klingt vielleicht ein bisschen verrückt, aber ich habe nach der Bedrohung | |
mit dem Revolver zu meinen Compañeros gesagt: Wenn die so dumm sind und | |
eine Deutsche erschießen, dann habe ich für das ganze Land gewonnen. Dann | |
kommt die Veränderung, dann haben wir gewonnen.“ | |
Es ist ein Satz, der viel über Sprößer sagt. Es wirkt, als habe sie | |
tatsächlich geglaubt, in dem Konflikt eine historische Rolle einzunehmen. | |
Die große Aufmerksamkeit in den sozialen Medien verstärkt diese | |
Wahrnehmung. Sprößers Geschichte hätte sich ohne Social Media so wohl nicht | |
ereignet – aber auch nicht ohne den Kontext vom Kolonialismus geprägter | |
Machtverhältnisse: Als Deutsche erhält sie in Kolumbien deutlich mehr | |
Reichweite als die Jugendlichen aus der Primera Linea. | |
Erlebte Sprößer in ihrer Helferinnenrolle eine so starke Selbsterfüllung, | |
dass sie dafür ihr Leben aufs Spiel setzte? Oder geht es ihr in erster | |
Linie um die Jugendlichen aus Cali? | |
Die meisten Tourist*innen verlassen in einer so angespannten politischen | |
Lage das Land. Journalist*innen und humanitäre Helfer*innen halten | |
aus Professionalität eine gewisse Distanz zu den Menschen. Und Rebecca | |
Sprößer? Lässt diese Barriere fallen. So sehr, dass sie sich als Teil einer | |
Gruppe fühlt, in der alle ihr Leben aufs Spiel setzen. | |
Es gibt noch einen Grund, warum Sprößer sich so verbunden fühlt: Jhoan | |
Bonilla, der Anführer der Gruppe. Sprößer erzählt diese Liebesgeschichte | |
heute mit viel Pathos. Wie genau ihre Beziehung zu Bonilla aussah, lässt | |
sich nicht nachprüfen. Bonillas Mutter bestätigt in einem Radiointerview | |
aber, dass es eine Anziehungskraft zwischen ihrem Sohn und Rebecca Sprößer | |
gegeben habe. | |
Sicher ist: Am 22. Juli 2021 treffen sich Bonilla und Sprößer. Sie erzählt | |
diesen Abend so: Es beginnt zu regnen, und Bonilla leiht ihr seine Jacke. | |
Als es nur noch tröpfelt, laufen sie in Richtung eines kleinen Parks. Unter | |
einem großen Baum steht eine Bank, sie setzen sich. Bonilla sitzt rechts | |
von Sprößer. Sie sagt, plötzlich habe sie von schräg rechts vor sich den | |
Lauf einer Waffe gesehen. Ohne etwas zu sagen, schießt der Attentäter so, | |
dass die Kugeln in einer Linie zuerst Bonilla und dann Sprößer treffen. 13 | |
Kugeln stoßen durch seinen Oberkörper und eine Tasche durch zu Sprößer, wo | |
sie nicht mehr genug Kraft haben, um sie ernsthaft zu verletzen. Abgesehen | |
von zwei Streifschüssen am Arm bleibt sie unverletzt. Jhoan Bonilla aber | |
ist in Lebensgefahr. | |
Das ist Rebecca Sprößers Version der Tat. Die kolumbianische Polizei | |
erklärt später in den Medien, es habe sich um einen Raubüberfall gehandelt. | |
Sprößer gibt an, dass der Täter nach den Schüssen geflohen sei und nichts | |
geklaut habe. Bis heute wurde kein Tatverdächtiger ermittelt. | |
Nach den Schüssen auf Jhoan Bonilla habe sich sein Zustand im Krankenhaus | |
zunächst stabilisiert. Doch drei Tage nach dem Attentat geht es ihm | |
schlechter. Aus Sicherheitsgründen habe ihr die Klinik verboten, weiter bei | |
ihm zu sein, erzählt Sprößer. Kurz darauf wird Sprößer festgenommen, da | |
sie sich an Aktivitäten beteiligt habe, die über den Zweck ihres | |
Tourismusvisums hinausgingen. Am 28. Juli 2021 steigt sie in Begleitung von | |
zwei Polizisten in einen Flieger nach Frankfurt. Im Flugzeug erhält sie die | |
Nachricht, dass Jhoan Bonilla im Krankenhaus gestorben ist. | |
Zwei Monate später trägt Sprößer in Frankfurt noch immer die Jacke bei | |
sich, die Bonilla ihr in der Nacht des Attentats geliehen hat. Sie sagt, | |
irgendwo in ihr sei da noch Hoffnung, dass Jhoan Bonilla wieder auftaucht. | |
Sie lebt nach wie vor im kolumbianischen Rhythmus, steht erst zur | |
Mittagszeit auf und ist nachts wach, wenn die Nachrichten aus Cali auf | |
ihrem Handy eintrudeln. | |
Sie will nicht, dass der Mord an Jhoan Bonilla einer von vielen | |
unaufgeklärten bleibt, und sie will seiner Familie helfen, indem sie eine | |
Spendenkampagne im Internet organisiert. Außerdem helfe sie ehemaligen | |
Mitstreiter*innen von der Primera Linea bei der Beantragung von Asyl, | |
erzählt sie. Sprößer erhält auch in Deutschland noch Drohungen auf ihr | |
Handy, sagt sie. Details möchte sie aber nicht nennen, so habe sie es mit | |
ihren Anwälten vereinbart. | |
Zu ihrer Familie hat Sprößer kaum Kontakt. Ihre Mutter habe kein | |
Verständnis dafür, dass sie sich so in Gefahr begeben hat. | |
Sprößer sagt, sie sehne sich zunehmend nach Ruhe. Ruhe von den Drohungen | |
und der Konfrontation. Deswegen kritisiere sie die kolumbianische Regierung | |
nicht mehr. Auch ihre Social-Media-Profile haben sich verändert. Sie hat | |
ihre Videos mit Polizeigewalt gelöscht. Die führten nur zu mehr Hass, sagt | |
sie. Auch auf Instagram ist sie inzwischen nicht mehr aktiv. Auf Facebook | |
schreibt sie immer wieder lange Posts über ihre Liebe zu Jhoan Bonilla. | |
Sprößers Erinnerungen kreisen zunehmend um ihren verlorenen Freund. Politik | |
will sie gerade nicht machen. Eine Einladung des linken | |
Präsidentschaftskandidaten Gustavo Petro, sich an seiner Kampagne zu | |
beteiligen, lehnte sie ab. „Ich bin ja gar nicht so links“, sagt sie. | |
War Sprößer einfach zur falschen Zeit am falschen Ort? Sie würde sagen, sie | |
war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. „Die Zeit in Cali war die | |
glücklichste meines Lebens.“ Euphorie und Schmerz trafen sich täglich. Sie | |
fühlte sich lebendig. Ausgerechnet im kolumbianischen Ausnahmezustand fand | |
sie eine Rolle, die sie erfüllte. Jetzt, in Frankfurt, ist sie wieder auf | |
der Suche nach ihrem Platz. | |
Einige Tage später meldet sich Rebecca Sprößer noch einmal telefonisch. Sie | |
klingt niedergeschlagen. In Puerto Resistencia gebe es Streit. „Wir alle | |
haben gerade eine schwere Zeit“, sagt sie, als sei sie noch immer dort. | |
17 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Fabian Grieger | |
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