| # taz.de -- Legalisierung von Glücksspiel: Machen Sie Ihr Spiel! | |
| > Im Juli tritt der neue Glücksspielstaatsvertrag in Kraft. Doch statt | |
| > Hilfe für Spielsüchtige ist er ein fauler Kompromiss, sagen | |
| > Expert:innen. | |
| Bild: Als Glücksspiel noch als vornehm galt: Cary Grant im Film „To Catch a … | |
| Wenn Baran Moradi über seine Suchterkrankung spricht, dann zittern immer | |
| noch ab und zu seine Lippen. 2007 habe es angefangen, erzählt er. Ein | |
| entfernter Verwandter habe ihn mitgenommen. Beim ersten Mal habe er nur | |
| zugeschaut, auch beim zweiten Mal noch. Doch dann wurde die Neugier zu | |
| groß. Moradi hat sich selbst an den Tisch gesetzt und begann, Roulette zu | |
| spielen. | |
| Am Dienstagvormittag sitzt Moradi in einem Besprechungsraum des Vereins | |
| [1][Reset – Glücksspielsuchthilfe]. Moradi, kurze, schwarze Haare und | |
| akkurat getrimmter Bart, heißt eigentlich anders. Seinen richtigen Namen | |
| will er wegen seiner Suchterkrankung nicht in der Zeitung lesen. | |
| Moradi verliert schnell viel Geld an den Roulettetischen | |
| Schleswig-Holsteins, wo er zu jener Zeit lebt. Er ist erst 22, verdient | |
| gut. Sein tägliches Kreditkartenlimit liegt bei 500 Euro. Und Moradi nutzt | |
| es aus – auch als die Verluste sein Einkommen längst übersteigen. „Dieses | |
| Auf und Ab, Verlieren oder Gewinnen, das ist wie ein Rausch“, beschreibt | |
| Moradi das Gefühl, wenn er spielt. | |
| Er verliert mehr als Geld damals. Er verliert seinen Job, er verliert seine | |
| Wohnung. Und auch einen Teil von sich selbst. „Man lebt nur noch dafür“, | |
| sagt er. „Sobald man aufsteht, sind die Gedanken bei der Sucht.“ Er hört | |
| erst auf, als er ganz unten angekommen ist. Als er nicht mehr an Geld | |
| kommt, hoch verschuldet ist. Nach einer Therapie in einer Spezialklinik | |
| beginnt er, als Taxifahrer zu jobben. Er findet eine neue Wohnung und neuen | |
| Mut. Dann kehrt die Sucht zurück. Moradi fängt wieder an zu spielen, | |
| diesmal an Automaten. | |
| ## Sperren und Limits | |
| Am kommenden Donnerstag tritt in Deutschland ein neuer | |
| Glücksspielstaatsvertrag in Kraft, ein Abkommen zwischen allen | |
| Bundesländern, das die gesetzlichen Regelungen zum Glücksspiel | |
| vereinheitlichen soll. Der Glücksspielstaatsvertrag soll Fälle wie den von | |
| Moradi möglichst unterbinden. Ziel sei es, „das Entstehen von | |
| Glücksspielsucht und Wettsucht zu verhindern und die Voraussetzungen für | |
| eine wirksame Suchtbekämpfung zu schaffen“. So steht es im ersten Satz des | |
| Vertrags. | |
| Dafür haben sich die Länder auf unterschiedliche Instrumente geeinigt. So | |
| sollen sich etwa süchtige Spieler von nun an selbst sperren lassen können. | |
| Wenn sie dann in ein Kasino gehen oder sich online neu anmelden, wird ihr | |
| Name in einer Datenbank gefunden und ihnen das Spielen verweigert. Bei | |
| Fremdsperren sind es die Anbieter, die die süchtigen Spieler eintragen, | |
| auch gegen deren Willen. Bei einer Selbstsperre ist der Spieler mindestens | |
| drei Monate vom Glücksspiel ausgeschlossen, bei einer Fremdsperre | |
| mindestens zwölf Monate. | |
| Für Online-Glücksspiele soll es zudem ein monatliches Limit von 1.000 Euro | |
| geben. Aktive Sportler:innen und Sportfunktionär:innen sollen nicht | |
| mehr für Sportwetten werben dürfen. In Halle, Sachsen-Anhalt, wird außerdem | |
| eine gemeinsame Glücksspielbehörde der Länder eingerichtet werden, die | |
| Konzessionen entziehen kann und die Sperr- und Limitdatei führen soll. Sie | |
| soll ab 2023 voll arbeitsfähig sein. | |
| Das ist die eine Seite des Vertrags. Die andere umfasst eine weitreichende | |
| Legalisierung des Glücksspielmarkts. Denn bisher waren Online-Glücksspiele, | |
| mit Ausnahme von Schleswig-Holstein, in Deutschland illegal. Dass sie | |
| trotzdem überall angeboten wurden, lag daran, dass sich viele Anbieter auf | |
| das EU-Recht beriefen, nach dem sie erlaubt sind. Vor allem aber lag es am | |
| Unwillen der hiesigen Behörden, gegen die Anbieter vorzugehen. | |
| Selbst die omnipräsenten Online-Sportwetten waren bis Herbst 2020, als | |
| für die Übergangsphase bis zur Ratifizierung des neuen Staatsvertrags | |
| entsprechende Konzessionen vergeben wurden, illegal. Den Vertrag | |
| ausgehandelt haben die Staatskanzleien aus Berlin und Nordrhein-Westfalen. | |
| [2][Recherchen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung] belegten in den | |
| vergangenen Jahren, wie eng Online-Glücksspielanbieter, Banken, | |
| Finanzdienstleister wie die insolvente Wirecard und Politiker miteinander | |
| verbandelt waren und für eine Liberalisierung geworben hatten. Letztendlich | |
| mit Erfolg. | |
| „Die Hardliner haben sich durchgesetzt“, kritisiert etwa Ilona | |
| Füchtenschnieder den neuen Staatsvertrag. Sie leitet den [3][Fachverband | |
| Glücksspielsucht], ein Zusammenschluss von Beratungsstellen, | |
| Wissenschaftler:innen, Ärzt:innen, Psychotherapeut:innen und | |
| Jurist:innen. | |
| Füchtenschnieder engagiert sich seit über 30 Jahren in der Bekämpfung von | |
| Glücksspielsucht. Bei der Erarbeitung des Glücksspielstaatsvertrags, der ja | |
| die wirksame Suchtbekämpfung als oberstes Ziel nennt, wurden sie und ihr | |
| Verband erst im Anhörungsverfahren der Landesparlamente einbezogen. Ihre | |
| Kritik verhallte größtenteils. | |
| Dass Konzernen, die eigentlich für ihr jahrelanges illegales Verhalten | |
| sanktioniert werden müssten, nun der rote Teppich der Legalität ausgerollt | |
| wird, ist für Füchtenschnieder unbegreiflich. Selbst jemand, der noch am | |
| 30. Juni illegalerweise Online-Glücksspiele anbiete, könne sich ab dem 1. | |
| Juli um eine Konzession bemühen, sagt sie. Ihre Forderung, gerade jene | |
| Anbieter für einen gewissen Zeitraum von der Konzessionsvergabe | |
| auszuschließen, schaffte es nicht in den Vertrag. | |
| Füchtenschnieder wirbt nicht für ein Komplettverbot. Aber sie wirft den | |
| Vertretern der Bundesländer vor, das Wesen von Suchterkrankungen nicht | |
| erkannt zu haben. Eine Sperre von zwölf Monaten sei ein Witz. „Wer | |
| chronisch spielsüchtig ist, braucht etwa fünf Jahren, um wieder Tritt zu | |
| fassen im Leben“, sagt sie. „Die Schwere der Erkrankung ist der Politik | |
| offenbar nicht bewusst.“ | |
| Auch Anbieter tun sich offenbar schwer, die Erkrankung ernst zu nehmen. In | |
| Hessen, wo es ein entsprechendes System aus Selbst- und Fremdspielersperren | |
| bereits gibt, wurden nur 1 Prozent der Sperren nicht vom Spieler selbst | |
| ausgelöst. Verwunderlich ist das nicht, denn ein effektiver Spielerschutz | |
| läuft den Geschäftsinteressen der Anbieter zuwider. Durchgeführt wurde die | |
| Erhebung von Tobias Hayer, der seit über 20 Jahren zu Glücksspielsucht | |
| forscht, aktuell an der Universität Bremen. „Die Anbieter haben | |
| Interessenkonflikte“, sagt Hayer. „Der beste Kunde ist die Person, die | |
| viel, die exzessiv, die süchtig spielt.“ | |
| Im Jahr 2019 lag der Umsatz von legalem Glücksspiel in Deutschland laut dem | |
| [4][„Jahrbuch Sucht“] bei 44,2 Milliarden Euro. Der Umsatz im nicht | |
| regulierten Markt wird auf 2,2 Milliarden geschätzt. Anbieterverbände wie | |
| der Deutsche Online Casinoverband oder der Deutsche Sportwettenverband | |
| loben den neuen Glücksspielstaatsvertrag, Letzterer spricht von „einer | |
| historischen Zäsur“. Die Länder rückten endlich „von ihrer überholten | |
| Verbotspolitik ab und regulieren die bestehenden Online-Glücksspielmärkte | |
| für Sportwetten, virtuelle Automatenspiele und Poker unter strengen | |
| Qualitätskriterien“. | |
| ## „Glücksspiele haben nichts mit kindlichem Spieltrieb zu tun“ | |
| Suchtforscher Hayer hält den Vertrag dagegen für einen „faulen Kompromiss | |
| unter dem Deckmantel der Legalität“. Er bedeute letztendlich eine | |
| erhebliche Angebotserweiterung, eine Zunahme an Spielanreizen und damit | |
| eine Zunahme der Suchtgefahren. | |
| Besonders angetan hat es ihm ein Satz, der gleich an zweiter Stelle im | |
| Vertrag steht. Durch „ein begrenztes, eine geeignete Alternative zum nicht | |
| erlaubten Glücksspiel darstellendes Glücksspielangebot“ wolle man den | |
| „natürlichen Spieltrieb der Bevölkerung in geordnete und überwachte Bahnen… | |
| lenken. | |
| Hayer hält das für ein Scheinargument. „Glücksspiele haben nichts mit dem | |
| kindlichen Spieltrieb zu tun. Das ist ein juristischer Trick, das hat keine | |
| wissenschaftliche Evidenz.“ [5][Eine Umfrage der Bundeszentrale für | |
| gesundheitliche Aufklärung] (BZgA) von 2019 ergab, dass rund 37 Prozent der | |
| Bevölkerung in den vergangenen zwölf Monaten mindestens einmal an einem | |
| Glücksspiel teilgenommen hat. Wo denn der natürliche Glücksspieltrieb der | |
| übrigen 63 Prozent sei, fragt Hayer. | |
| ## Hunderttausende Süchtige | |
| Erhoben wurde in der Studie der BZgA auch die Anzahl der Süchtigen und | |
| Suchtgefährdeten. Die Bundesbehörde geht davon aus, dass es etwa 229.000 | |
| problematische und rund 200.000 wahrscheinlich pathologische | |
| Glücksspielende in Deutschland gibt. | |
| Baran Moradi ist nicht mehr darunter. Nach einem Umzug nach Berlin und | |
| mehreren Entzugsversuchen hat er bei der Beratungsstelle Reset die Hilfe | |
| gefunden, die er braucht. Seit 2018 habe er nicht mehr gespielt. „Ich bin | |
| da wirklich sehr stolz drauf“, sagt er. Kürzlich hat er seinen | |
| Lkw-Führerschein gemacht. Sein Ziel: ein neuer Job, ein neues Leben. | |
| In der Beratungsstelle, die ihm geholfen hat, engagiert er sich inzwischen | |
| selbst. Er moderiert, wenn nicht gerade Pandemie ist, wöchentlich die | |
| Gruppensitzung mit bis zu 15 Betroffenen. Moradi befürchtet, dass es bald | |
| mehr werden könnten. | |
| 27 Jun 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.gluecksspiel-sucht-hilfe.de/ | |
| [2] https://www.ndr.de/nachrichten/investigation/Nord-Politiker-lobbyierten-fue… | |
| [3] https://www.gluecksspielsucht.de/ | |
| [4] https://www.dhs.de/unsere-arbeit/dhs-jahrbuch-sucht | |
| [5] https://www.bzga.de/fileadmin/user_upload/PDF/studien/BZgA-Forschungsberich… | |
| ## AUTOREN | |
| Daniel Böldt | |
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