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# taz.de -- Wirecard-Skandal vor einem Jahr: Früh durchgeblickt
> Schon 2008, zwölf Jahre vor dem Skandal, erahnte ein Blogger die Tricks
> von Wirecard. Warum kaum jemand seinen Verdacht ernst genommen hat.
Bild: Sitz der Wirecard AG in Aschheim bei München
Der 19. Juni 2020 ist gemeinhin bekannt als der Tag, an dem [1][Wirecard]
zusammenbrach. Der Skandal um die buchhalterischen Tricks des
börsennotierten Finanzdienstleisters ist einer der größten im Deutschland
der letzten Jahre. Für eine Person jedoch war der 19. Juni des vergangenen
Jahres kein Tag der Verunsicherung, sondern der Genugtuung.
Es geht um einen Blogger mit dem Internet-Alias „memyselfandi007“ („Ich,
ich und ich“; der Name beruht auf einer Textzeile der US-Band DeLaSoul).
Der hatte im Jahr 2008 als Erster den begründeten Verdacht geäußert, dass
der Erfolg von Wirecard auf einem System von Luftbuchungen beruhen könnte;
dass Verantwortliche sich durch fragwürdige Manipulationen bereicherten,
was sich schließlich als korrekt herausstellte. Aber weder Ermittler noch
Journalisten nahmen seine Kritik ernst. Mehr als zwölf Jahre ließ die
Bestätigung auf sich warten, dass er die ganze Zeit richtig gelegen hatte.
Das Unternehmen Wirecard entsteht um die Jahrtausendwende als
Zahlungsabwickler für Pornofilme und Glücksspiele im Internet. Jahrelang
meldet die Firma aus dem Münchner Vorort Aschheim Rekorde bei Gewinn und
Wachstum und avanciert so zum Börsenstar, rangiert zeitweise so hoch im Dax
wie vorher die Commerzbank. Zwischenzeitlich will man sogar die Deutsche
Bank übernehmen. Der Verdacht, die Bilanzen seien geschönt oder enthielten
Luftbuchungen, kommt lange vor 2020 auf. Auch unverständliche Zukäufe
werden bemängelt – doch Wirecard verweist stets auf unseriöse
Börsenspekulanten: Diese wollten mit falschen Beschuldigungen und sinkenden
Kursen Millionen verdienen.
Bis zum Juni 2020. Da verweigern Wirtschaftsprüfer dem Unternehmen ihr
Testat – was so viel ist wie die Bescheinigung, dass in den Büchern alles
mit rechten Dingen zugeht. Die Prüfer haben festgestellt, dass fast zwei
Milliarden Euro fehlten. Damit gilt Wirecard von heute auf morgen als
insolvent. Das wiederum vernichtet 20 Milliarden Euro an Börsenwert – mehr
als 10.000 Anleger werden geschädigt.
## „Warten wir ab, wie lange das funktioniert“
Der ehemalige Chef von Wirecard, Markus Braun, sitzt seitdem in
Untersuchungshaft, sein Finanzvorstand Jan Marsalek ist auf der Flucht. Ein
[2][Untersuchungsausschuss im Bundestag] bemüht sich seit Monaten
aufzuklären, warum der Betrug über viele Jahre unentdeckt blieb. Und: Wer
politische Verantwortung trägt für den Milliarden-Schaden und für die
mangelnde Aufsicht der Wirecard-Bank, die seit Januar 2006 Teil der
Wirecard-Unternehmensgruppe war. Analysten und Journalisten müssen sich
fragen lassen, wie sie alle Anzeichen für den Betrug übersehen konnten –
und so unfreiwillig zu Helfern wurden.
Für memyselfandi007 hingegen bedeutete das verweigerte Testat der
Wirtschaftsprüfer die Bestätigung: Den Skandal, den er seit Jahren
vermutete, gab es wirklich. Der Blogger bleibt bis heute im Hintergrund,
tritt nicht mit Klarnamen auf, er möchte, wie er sagt, den öffentlichen
Rummel um seine Person kleinhalten. Auf Anfrage der taz beantwortet er
Fragen nur schriftlich, bleibt dabei anonym. Soweit wir wissen, ist er ein
Mann, der irgendwo in Deutschland lebt und laut eigenen Angaben schon lange
im Bereich Finanzdienstleistungen arbeitet. Er betreibt das
englischsprachige Blog [3][valueandopportunity.com] („Wert und Chance“).
Seine Geschichte beginnt mit einem Kommentar, den er im Mai 2008 im
Börsenforum wallstreet-online.de verfasst – in einer Diskussion über
„Wirecard – Top oder Flop“. Er schreibt: „Auf den ersten Blick eine der
Wachstumsstorys … Gewinn 2007 fast verdoppelt … im ersten Quartal um 65 %
gesteigert … 0 Steueraufwand … einfach paradiesisch!!!“ Fährt dann aber
fort: „Die wichtigste Einheit des Unternehmens scheint zwar die Bank zu
sein, reported wird aber wie für ein normales Unternehmen. Seitenweise
werden irgendwelche Umbuchungen in der Vergangenheit erklärt, die aber auch
nach mehrmaligem Lesen nicht verständlich sind. In der Konsolidierung
verschwindet plötzlich fast 20 % des Umsatzes.“
Der Trick, den der Blogger bei Wirecard vermutet: Der Gewinn beruhe
größtenteils auf Erhöhung selbst gestellter Vermögenswerte. Heißt:
Zugekaufte Firmen, die weitgehend wertlos seien und die man bewusst
überteuert erworben habe. Seine Vermutungen wiederholt er in seinem Blog.
Das Fazit von memyselfandi007 im Jahr 2008: „Genaues weiß man nicht, aber
es stinkt zum Himmel. Warten wir mal ab, wie lange das Spielchen noch
funktioniert, langsam dürfte die Luft allerdings dünn werden.“
## Zwei bis drei Stunden Aufwand
Wie lange hat er damals Geschäftsberichte lesen müssen, um seinen
Blogeintrag zu schreiben? „Ich bin Finanzprofi“, sagt der Blogger heute. Er
arbeite seit Langem im Finanzdienstleistungsbereich, allerdings nicht
direkt in der Aktienanlage. „Das war daher nicht zu aufwändig. In der Regel
verwende ich auf diesem Level einer Anfangsanalyse zwei bis drei Stunden.
Ich hatte mir Wirecard ursprünglich als eventuell interessantes
Aktieninvestment angeschaut, bin aber dann schnell auf die Ungereimtheiten
gestoßen.“
Andere Nutzer im Netz aber unterstellen memyselfandi007 damals, er äußere
sich nur deswegen kritisch, weil er auf einen sinkenden Wirecard-Kurs
spekuliert habe. Das ist ein Manipulationsvorwurf, und zwar im Kern
derselbe, den sich Wirecard später häufig gegen Kritiker zunutze machen
wird. Memyselfandi007 entgegnet damals: „Irgendwelche inhaltlichen
Argumente? Wer recht hat, wird sich später zeigen.“
Der Finanzexperte und ehemalige Journalist, Jörn Leogrande, arbeitet zu
diesem Zeitpunkt seit drei Jahren bei Wirecard. Als Texter ist er damals
zuständig für das Verfassen des Geschäftsberichts. Leogrande spricht heute
von Anweisungen, dass der Text „so sperrig, kompliziert und langatmig“ zu
sein hatte wie möglich, damit ihn niemand lesen wolle. Davon schreibt er in
seinem Buch „Bad Company“, das im Februar erschienen ist. Als er damals den
Blogeintrag von memyselfandi007 las, sei er überrascht gewesen, sagt
Leogrande der taz: Dieser unbekannte Blogger habe als „vielleicht einziger
Mensch der Welt tatsächlich unseren Geschäftsbericht gelesen“. Er bekommt
selbst Zweifel an der Erfolgsgeschichte des Unternehmens. Dennoch bleibt er
bei Wirecard – bis zum Ende.
Leogrande sagt, er habe 2008 die Presseabteilung von Wirecard auf den
Blogger aufmerksam gemacht. Die Kollegin habe abgewinkt: Das sei nur ein
Blogger, den niemand ernst nehmen werde. Schon bei der Hauptversammlung von
Wirecard im Juni 2008 jedoch gerät Wirecard erstmals in die Kritik. Ein
Vorstand der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK), eines
Interessenverbandes für kleinere Aktionäre, kritisiert, die Bilanzierung
des Unternehmens sei irreführend. Das erzeugt einen Eklat, Handelsblatt und
Manager Magazin berichten. „Innerhalb von Wirecard herrschte
Endzeitstimmung“, erinnert sich Jörn Leogrande. „Alle dachten, das war’s
jetzt, weil die Vorwürfe so massiv waren und immer klarer wurden.“ Der Kurs
brach ein.
## Jede Kritik wird weggewischt
Doch statt Wirecard bekommt zunächst der SdK die Probleme. Wie sich
herausstellt, hat SdK-Vorstand Markus Straub schon seit einigen Wochen auf
einen Kursverfall bei Wirecard gewettet. Später wird Straub zusammen mit
einem weiteren ehemaligen SdK-Funktionär wegen Marktmanipulation und
Insiderhandel in mehreren Fällen zu Gefängnisstrafen verurteilt. Offenbar
haben auch sie die Analysen des Bloggers memyselfandi007 gelesen – und auf
fallende Kurse spekuliert, während sie Wirecard öffentlich
Bilanzmanipulation vorgeworfen haben. Wirecard stellt Strafanzeige und
steht als Opfer da. Niemand untersucht daraufhin mehr die Vorwürfe gegen
Wirecard selbst, Journalisten interessierten sich nur für die Geschichte
korrupter Shortseller.
Anders die Kriminalpolizei. Sie beginnt, sich für den Blogger
memyselfandi007 zu interessieren. Die Polizei ermittelt seine Identität,
sucht ihn am Arbeitsplatz auf und vernimmt ihn in der Dienststelle. Das sei
„eigentlich recht angenehm“ verlaufen, sagt memyselfandi007 heute. „Ich w…
ja als Zeuge geladen und da ich mit Bosler, Straub und Co niemals Kontakt
hatte, gab es auch keine weiteren Nachforschungen.“ Er habe die Vorwürfe
gegen Wirecard erwähnt, aber die Kriminalpolizei habe das lediglich zur
Kenntnis genommen. Wirecard habe wiederum die Polizei gedrängt, seine
Identität herauszugeben, was diese nicht getan habe.
Dann dauert es zwölf Jahre bis zu dem Skandal, den man 2008 hätte entdecken
können. Während sich damals schon Spekulanten, die Polizei und sogar
Wirecard selbst für den Blogger memyselfandi007 interessieren, wird seine
Analyse medial weder auf- noch ernst genommen. Wirecard kann lange jede
Kritik wegwischen – mit dem Argument, es handle sich dabei um einen Versuch
der Manipulation.
Memyselfandi007 wäre bereit gewesen, Journalisten mit Hinweisen zu helfen,
betont er. Er selbst habe übrigens weder Geld gewonnen noch verloren mit
Wirecard. Er könnte heute leicht Lorbeeren dafür einsammeln, dass er
Wirecard 2008 zu Recht in Frage stellte. „Ich habe keinerlei Ambitionen,
mir öffentliche Anerkennung abzuholen. Ich möchte weiterhin die Freiheit
haben, in meinem Blog kritisch zu bleiben.“ Dennoch: Den Zusammenbruch von
Wirecard habe er verfolgt mit der „Genugtuung, dass dieser Betrugsladen
endlich aufgeflogen ist“. Es sei mittlerweile nicht unüblich, insbesondere
bei „zwielichtigen“ Firmen, dass man Kritiker hart angreift. Der Fall
Wirecard sei ein warnendes Beispiel.
21 Jun 2021
## LINKS
[1] /Wirecard/!t5696393
[2] /Wirecard-Untersuchungsausschuss/!5773162
[3] http://www.valueandopportunity.com
## AUTOREN
Thomas Schuler
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