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# taz.de -- Spielhallen und Sucht: Wenig Glück am Arbeitsplatz
> Spielhallenaufsichten sollen auf die Kund*innen achten und Spielsucht
> früh erkennen. Doch was, wenn das Servicepersonal selbst süchtig ist?
Bild: Der Jackpot ist im Automatencasino die Ausnahme
„Eigentlich finde ich es erschreckend“, sagt Nicole Dreifeld, „dass
Spielhallenaufsichten selbst spielsüchtig werden, obwohl sie jeden Tag
sehen, wie Menschen Haus und Hof verzocken.“ Doch auch bei ihr hat es nicht
geholfen: Sie wurde als Servicekraft in einer Spielhalle süchtig nach
Glücksspielen. Mittlerweile leitet sie eine Selbsthilfegruppe in Bremen,
kennt viele Geschichten und weiß, dass sie mit ihrer eigenen nicht allein
dasteht.
Vor etwa sechs Jahren arbeitete Dreifeld noch an zwei Sonntagen im Monat in
einer Bremer Spielhalle. Der Job soll zu der Zeit die Haushaltskasse der
Mutter aufbessern. Sie schließt die Halle auf, bringt den Spieler*innen
Kaffee und bekommt manchmal Trinkgeld, wenn diese gewinnen. Irgendwann
schmeißt sie beim Putzen zwei Euro in den einen Automaten und wischt die
anderen weiter. Als sie wieder auf die Anzeige schaut, sind aus den zwei
plötzlich 50 Euro geworden – „das setzte natürlich Endorphine frei.“
Dabei hätte sie in der eigenen Spielhalle gar nicht spielen dürfen. Das
verbot damals das „Bremische Spielhallengesetz“ – und [1][mittlerweile au…
der Glücksspielstaatsvertrag]. Doch nicht nur sie hielt sich nicht daran:
Ihre Kollegin spielte nach der Arbeit ebenso wie der Automatentechniker.
Die Kontrollen sind offenbar nicht ausgeprägt genug, das Glücksspiel zu
verlockend. Dabei stehen Servicekräfte eigentlich in der Verantwortung: Sie
sollten [2][problematisches Spiel bei den Kund*innen] erkennen, diese
ansprechen oder sogar sperren. Auch das steht im Glücksspielstaatsvertrag.
Doch in der Praxis fällt auch das Servicepersonal dem mangelnden
Spieler*innenschutz in Deutschland zum Opfer.
Nur eine Studie zum Thema
Wie viele Servicekräfte in Spielhallen betroffen sind, ist unklar. In ganz
Europa gibt es nur eine Studie dazu: Christian Kornek hat seine
Doktorarbeit am Institut für Psychologie der Universität Bremen darüber
verfasst. Obwohl sie nicht repräsentativ ist, zeigt sie Tendenzen auf. Von
300 befragten Servicekräften spielten 30 Prozent, 9 Prozent zeigten ein
problematisches Spielverhalten. Der Anteil in der deutschen
Gesamtbevölkerung ist geringer: 0,3 Prozent, also etwa 240.000 Menschen. So
lauten die aktuellen Zahlen der Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung. Insgesamt nehmen etwa 30 Millionen im Jahr am Glücksspiel teil.
Korneks Studie legt nahe, dass Trinkgelder eine Rolle spielen. Es gibt
Anzeichen dafür, dass Servicekräfte mit Spieler*innen mitfiebern, was
sie selbst dazu animieren könnte, ihr Glück zu versuchen. Als ein Spieler
einmal 1.100 Euro gewann, gab er Nicole Dreifeld 50 Euro. Das höchste
Trinkgeld, an das sie sich erinnern kann.
Anfangs spielte Dreifeld noch selten. Was sie in die Automaten warf und
verlor, blieb überschaubar. Sie selbst sagt, mehrere Jahre habe sie ohne
Spielproblem in der Spielhalle gearbeitet. Irgendwann habe sich das
geändert, an einem Datum könne sie das aber nicht festmachen. „Als Spieler
denkst du immer, du hast so viel Geld da reingesteckt, der Automat muss
doch jetzt mal Gewinn schmeißen. Oder zumindest Freispiele geben.“ Aber die
Verluste häuften sich und Dreifeld kam mit weniger Geld von der Arbeit nach
Hause statt mit mehr.
Von den spielenden Servicekräften bei Kornek spielten rund 15 Prozent am
eigenen Arbeitsplatz, und etwa 8 Prozent nutzten dabei sogar das Geld aus
der Kasse. Auch das kennt Dreifeld: An manchen Tagen, wenn noch niemand da
gewesen sei, habe sie das Kleingeld in der Kasse verlockend gefunden. Dann
habe sie sich mal zehn Euro genommen, um ihr Glück zu versuchen – aber nie
welches gehabt. „Was du in den Automaten reinschmeißt, ist weg und du
bekommst es auch nicht wieder“, weiß sie heute. Damals musste sie vor dem
Feierabend noch kurz zur Sparkasse laufen, um den Betrag wieder zurück in
die Kasse zu legen.
Irgendwann tut es weh
Menschen mit einem Spielproblem verspielen Geld, das sie eigentlich nicht
haben, erklärt Jost Schäfer. Er ist bei der Beratungsstelle für Suchtfragen
in Berlin tätig. Man erreicht ihn, wenn man beim Verein
„Reset-Glücksspielsuchthilfe“ anruft. „Süchtige tragen ihr ganzes Leben…
die Spielhalle, und irgendwann tut das sehr weh“, sagt Schäfer. Solange man
ein gutes Einkommen habe, würden Banken noch Kredite gewähren, die dann
ebenfalls im Automaten landen. Für die Angehörigen bleibe es oft lange
unbemerkt.
Es ist die Sucht, die sich mit am besten verstecken lässt, erklärt Tobias
Hayer, Mitarbeiter der Arbeitseinheit Glücksspielforschung am Fachbereich
Human- und Gesundheitswissenschaften der Universität Bremen. In seiner
Forschung beschäftigt er sich vor allem mit glücksspielbezogenen Problemen.
Verglichen mit vielen anderen Suchterkrankungen mache sich Glücksspiel
äußerlich kaum bemerkbar: keine Alkoholfahne oder erweiterten Pupillen.
„Betroffene sind oft jahrelang süchtig, ohne dass es auffällt“, berichtet
Hayer.
Obwohl Spielsucht nicht direkt den Körper angreift, könne es für Betroffene
gefährlich werden. Nicole Dreifeld sagt deutlich: „Dass wir keinen
richtigen Spielerschutz in Deutschland haben, bedeutet Tote.“ Unter
Glücksspielsüchtigen zeige sich eine „vergleichsweise hohe Rate an
suizidalen Personen“, bestätigt Hayer. Trotz einer inkonsistenten
Befundlage könne man das sagen. Einschränkungen der Werbung wie bei Tabak
gibt es aber keine.
Wird das Problem Spielsucht früh angegangen, ist es leichter, daran zu
arbeiten. Viele Spieler*innen wollen davon jedoch nichts hören. „Kein
Spieler der Welt wird sagen: ‚Ich gehe mal eine Stunde in die Spielo.‘“
Stattdessen parken sie das Auto zwei Straßen weiter oder nehmen das Fahrrad
mit rein, damit keine Verbindung hergestellt wird.
Schulungen vorgeschrieben
In der Spielhalle ist das Personal eigentlich angehalten, die
problematischen Spieler*innen im Auge zu behalten und ihnen Hilfe
anzubieten. Schulungen sind dafür gesetzlich vorgeschrieben, aber Dreifeld
erzählt, ihr Chef habe nach der Schulung zu ihr gesagt: „Das sind zahlende
Kunden, lass sie doch spielen.“ Ihre Aufgabe war es vielmehr, sich die
Namen der Kund*innen und ihre Lieblingsgetränke zu merken. „Dann fühlen
sie sich gesehen und kommen wieder. Und das Trinkgeld war auch höher.“
Ein Sprecher der Merkur-Kette, der mit dem Sonnen-Logo, sagt, bei ihnen sei
das anders: Bei ihnen würde das Servicepersonal in den vorgeschrieben
Schulungen „zum Thema problematisches Spiel sensibilisiert und umfassend
informiert“. Er stellt auch infrage, ob die nicht repräsentative Studie von
Kornek überhaupt relevant sei. Das Unternehmen bezeichnet sich selbst als
Marktführer mit mehr als 3.000 Mitarbeiter*innen in dem Bereich, und
bei denen sei Spielsucht nur in Einzelfällen vorgekommen; nur wenige hätten
sie entlassen müssen. Nicole Dreifeld hat nicht bei der Kette gearbeitet.
Bei der Einstellung von neuem Personal würde Merkur prüfen, ob
Bewerber*innen in einem Sperrsystem registriert sind. Wer in einer
solchen Sperrdatei steht, ist für gewöhnlich zwölf Monate vom Glücksspiel
ausgeschlossen. Arne Rüger von der Landesfachstelle für Glücksspielsucht
NRW glaubt aber, dass die Sperre zu kurz ist. Innerhalb eines Jahres wären
Spielsüchtige nicht so weit stabilisiert, dass sie wieder entsperrt werden
könnten.
Auch für Nicole Dreifeld war es sehr schwer. Sie kündigte zunächst, doch
das half nicht. Kurze Zeit später ging sie wieder in die Spielhalle, „um
mit den früheren Kollegen einen Kaffee zu trinken. Aber der kostete dann
auch mal 200 Euro“, sagt sie zerknirscht. „Mein Kind war in der Zeit oft
allein zu Hause, weil ich vor dem Automaten saß. Ich ging dann auch nicht
ans Handy, und wenn ich gefragt wurde: ‚Wo warst du, ich konnte dich gar
nicht erreichen?‘ – gibt es eine Milliarde Ausreden, aber keine davon ist
wahr.“
Ein Spiel zuviel
Ihr letztes Spiel machte sie am Vatertag, dem 10. Mai 2018. Eigentlich
hätte sie die Zeit mit ihrer Familie verbringen können, aber sie verschlug
es wieder an den Automaten. Ihre Mutter machte sich auf die Suche nach ihr,
entdeckte erst das Auto, dann sie. „Sie musste nichts sagen, der Blick und
die Enttäuschung haben genügt.“ Danach suchte sich Dreifeld Hilfe.
Der erste Anruf bei der Selbsthilfegruppe war schwer. Der erste Besuch noch
schwerer: „Es war wie der Gang zu meiner Hinrichtung, anders kann ich es
nicht beschreiben.“ Nach dem ersten Treffen habe sie drei Dinge begriffen:
Sie ist nicht allein mit ihrem Problem. Sie schadete nicht nur sich,
sondern auch ihrer Familie. Und jeden Donnerstagabend kann sie sich mit
Menschen austauschen, denen es genauso geht.
Das Problem sei aber in der Gesellschaft immer noch nicht bekannt genug.
Während Glücksspiel selbst normalisiert wird, zum Beispiel durch
Sportwettenanbieter als Werbepartner der Sportschau, bleibe die
Glückspielsucht ein Tabu. Nicole Dreifeld sieht aktuell keine Besserung,
eher im Gegenteil. Während die Spielhallen in den Hochphasen der Pandemie
geschlossen hatten, boomte das Onlinegeschäft. Und dort sind die Kontrollen
noch viel geringer als in der Spielhalle.
Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie
können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/111 0 111
oder 08 00/111 0 222) oder www.telefonseelsorge.de besuchen.
28 Oct 2021
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## AUTOREN
David Muschenich
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