| # taz.de -- John Green und das Anthropozän: Die Welt wird wohl überleben | |
| > Autor John Green fördert in seinem ersten Sachbuch Überraschendes über | |
| > unser Erdzeitalter zutage – mit einer nahezu unerträglichen Leichtigkeit. | |
| Bild: John Green schreibt mit Leichtigkeit über die Komplexität des Lebens | |
| Wer hätte gedacht, dass eine Trockennasenaffenart erfolgreich den Planeten | |
| erobern würde! Wir leben im Anthropozän, kaum ein Faktor bestimmt das | |
| Schicksal unserer Welt so sehr wie wir – ihr Nabel. Wie hat Ihnen das | |
| Anthropozän bis jetzt gefallen? Bestseller-Autor John Green findet | |
| erstaunlich unterhaltsame Antworten. | |
| [1][Das Anthropozän] schuf das Internetzeitalter; die Spezies Mensch kommt | |
| inzwischen kaum noch ohne die ubiquitären Online-Bewertungen von | |
| Restaurants, Sehenswürdigkeiten und Luffaschwämmen aus. | |
| Green nimmt es zum Anlass, seine Erlebnisse des Menschseins in jener | |
| bekannten 5‑Punkte-Skala zu bewerten. Einer Skala, die eigentlich für | |
| Computer designt ist – die können nämlich aus zusammenhängenden | |
| Beurteilungstexten nur schwer ein Urteil errechnen. Im Grunde also spielt | |
| dieser Text implizit mit der Möglichkeit, dass unsere Zufriedenheit mit | |
| unserem Weltzeitalter für ein universales Drittes, einen unabhängigen | |
| Computerbeobachter, dokumentiert wird. | |
| Green unterzieht so unterschiedliche Phänomene wie die iPhone-Notizapp oder | |
| die Velociraptoren im Blockbuster „Jurassic Park“ seinem 5-Sterne-Check. | |
| Der Halley’sche Komet erhält dabei 4,5 Sterne, der News-Sender „CNN“ und | |
| seine Verwechslung von Nachricht mit Neuigkeit muss sich dagegen mit | |
| mageren 2 Punkten zufriedengeben. | |
| ## Fundamentale Frage des Menschseins | |
| Jeder Essay für sich genommen schlägt mit einer beinahe unerträglichen | |
| Leichtigkeit einen Bogen von einem winzigen, eigentlich belanglosen | |
| Phänomen zu einer fundamentalen Frage des Menschseins. | |
| Ein schönes Beispiel ist die Fotografie „Drei Bauern auf dem Weg zum Tanz“ | |
| von August Sander. Green berührt die Art, wie die drei jungen Männer, vom | |
| Fotografen scheinbar in ihrer Bewegung gestoppt, vor dem weiten Horizont in | |
| die Zukunft blicken. Ihre Gedanken gelten dem anstehenden Tanz, aber Green, | |
| der Betrachter, weiß, dass sie schon bald in den Ersten Weltkrieg ziehen | |
| werden. | |
| Das Bild hält einen Moment in der Geschichte fest, über den die Menschen im | |
| Bild nicht hinaussehen können. Green betrachtet ein weiteres Bild, das ihn | |
| im Kreis von Freunden und ihren Kindern zeigt. Ohne Maske, ohne Sorgen. | |
| Einige Wochen später wird die Coronapandemie das Foto wie aus einer fremden | |
| Welt erscheinen lassen. | |
| Greens Buch ist durchdrungen von einer spielerischen Leichtigkeit, die | |
| unversehens einem beinahe hypochondrischen Gedanken Platz macht: „Was | |
| bedeutet es, in einer Welt zu leben, in der wir die Macht haben, [2][Arten | |
| zu tausenden auszurotten], in der aber auch ein einzelner RNA-Strang uns in | |
| die Knie zwingen oder sogar vernichten kann?“ | |
| ## Sie werden schon überleben | |
| Seine „Notizen zum Leben auf der Erde“ sind sehr persönlich, unter anderem | |
| erzählt er von seiner Sucht nach Diet Dr. Pepper Soda, die eine ernst zu | |
| nehmende Zigarettensucht ablöste. Er erzählt auch von seinen | |
| Angstzuständen und seinem Bruder Hank, dem die Aufgabe zufällt, den | |
| ängstlichen John zu beruhigen. Aber zu Beginn der Coronapandemie kann der | |
| Bruder keinen besseren Trost bieten, als dass die Spezies als Ganzes schon | |
| überleben werde. | |
| John und Hank Green haben als „vlogbrothers“ Millionen von Followern auf | |
| Youtube. John Green kennt man darüber hinaus als Jugendbuchautor. | |
| Vielleicht ist es das Genre, das Greens Fähigkeit schärft, [3][komplexe | |
| Themen] in einer vermeintlichen formalen wie inhaltlichen Einfachheit | |
| abzuhandeln. | |
| Noch etwas sticht ins Auge: Der durchweg ironische Unterton des Buches, der | |
| so typisch ist für das Onlinezeitalter und seine Eingeborenen. | |
| Im Kapitel zur Notiz-App staunt Green über seine persönlichen, | |
| unverständlichen, weil nicht mehr aktuellen Gedanken in alten Notizen. In | |
| seinem Buch, sozusagen der analogen Form der Notiz-App, fügen sie sich zu | |
| einer befreienden Erkenntnis: Das Menschsein, es ist gar nicht so übel. Ich | |
| vergebe 4 von 5 Punkten. | |
| 20 Jun 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marlen Hobrack | |
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