# taz.de -- Israels Regierung im Nahost-Konflikt: Ringen um Macht | |
> Die Waffenruhe hat vorerst Bestand. Doch Netanjahus-Gegner werfen ihm | |
> vor, bewusst auf Eskalation gesetzt zu haben – um sich selbst zu retten. | |
Bild: Ist vielleicht korrupt, darf aber vielleicht auch bald die Regierung bild… | |
Jerusalem taz | „Der Hüter der Mauern“, so nannte das israelische Militär | |
[1][die letzte Runde militärischer Auseinandersetzungen zwischen Israel und | |
Gaza]. Doch israelische Linke und Kritiker*innen des | |
Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, unter ihnen auch die israelische | |
Tageszeitung Haaretz, haben ihr einen anderen Namen gegeben: „Der Hüter des | |
Mandats“. | |
Es ist Kritik mit Tobak, die sich hinter diesem Wortspiel verbirgt. Sie | |
suggeriert nichts weniger, als dass [2][Regierungschef Netanjahu] die | |
Ausschreitungen in Jerusalem, die in einem elftägigen Krieg zwischen Israel | |
und der Hamas und in Ausnahmezuständen in den Städten mit arabisch-jüdisch | |
gemischter Bevölkerung endeten, mit Absicht habe eskalieren lassen. | |
Mit Mandat ist das Regierungsmandat gemeint. Vor gut zwei Wochen war | |
Benjamin Netanjahu an der Regierungsbildung gescheitert und hat das Mandat | |
zur Regierungsbildung an Staatspräsident Reuven Rivlin zurückgeben müssen. | |
Der beauftragte daraufhin Oppositionsführer Yair Lapid von der | |
Zukunftspartei, der das Unmögliche möglich zu machen schien. Jüdische | |
Parteien von weit rechts über Mitte-Links hin zur islamisch-konservativen | |
Partei Ra'am hätten sich, so hieß es kurz vor den Eskalationen in den | |
Medien, im Groben geeinigt. Noch am nächsten Tag solle eine | |
Regierungsvereinbarung unterschrieben werden. | |
Zum ersten Mal in der israelischen Geschichte wäre eine arabische Partei | |
direkt an der Regierung beteiligt gewesen, und Netanjahu – oder König Bibi, | |
wie ihn seine Anhänger*innen nennen – wäre seit zwölf Jahren | |
ununterbrochener Führung abgelöst worden. | |
## Die Siedlerpartei bricht weg | |
Doch dann stürmte die israelische Polizei den Tempelberg, auf dem die | |
Stimmung bereits seit Tagen und Wochen aufgeheizt war. Die Hamas stellte | |
ein Ultimatum und ließ kurz danach mit den ersten Raketen auf israelisches | |
Gebiet Taten folgen. Auf den Straßen der Städte mit jüdisch-arabischer | |
Bevölkerung gingen Gangs gegeneinander vor, bei denen Araber*innen | |
genauso wie Jüdinnen getötet wurden. | |
Drei Tage später warf Naftali Bennett von der Siedlerpartei Yamina das | |
Handtuch und erteilte der breiten Einheitsregierung unter seiner | |
Beteiligung eine Absage. „Eine Regierung des Wechsels kann in der geplanten | |
Art und Weise nicht den Problemen in den gemischten Städten begegnen“, | |
begründete er seinen Schritt: „Solche Dinge können nicht getan werden, wenn | |
man sich dabei auf Mansour Abbas stützen muss.“ Dabei bemühte sich Abbas, | |
der Chef der islamisch-konservativen Partei Ra'am, die Wogen zu glätten. In | |
der gemischten Stadt Lod besuchte er die Familie Hassouna, deren Sohn von | |
jüdischen Anwohner*innen erschossen wurde, aber auch eine Synagoge, die | |
von arabischen Israelis abgebrannt wurde, und rief beide Seiten zu Ruhe | |
auf. | |
Bennetts Absage an eine Einheitsregierung war für Netanjahu ein Glücksfall. | |
Der wegen [3][Korruption] in drei Fallen Angeklagte klammert sich mit aller | |
Macht an seinen Posten und versucht nach wie vor, mit einem | |
Immunitätsgesetz einer möglichen Verurteilung zu entkommen. | |
Besonders scharfe Kritiker*innen werfen Netanjahu vor, er habe Itamar | |
Ben Gvir, den neu ins israelische Parlament gewählten rechtsextremen | |
Verbündeten von Netanjahu, instrumentalisiert, um die Flammen weiter | |
anzuheizen und so Lapids Regierung zu verhindern. | |
## Polizei und ein Parlamentsbüro | |
Sie verweisen darauf, dass dieser einige Tage vor Ausbruch des Krieges ein | |
„Parlamentsbüro“ in dem umkämpften Viertel Sheikh Jarrah in Ostjerusalem | |
aufgebaut hat, um mehr Polizeischutz für die Siedler zu fordern, die dort | |
Tür an Tür mit Ostjerusalemer Familien wohnen. Familien, von denen viele | |
von Zwangsräumung bedroht sind, weil Siedler auf die Häuser Anspruch | |
erheben. Kritiker*innen werfen Netanjahu vor, er habe Ben Gvir bewusst, | |
aber inoffiziell damit beauftragt, dieses „Parlamentsbüro“ zu eröffnen. | |
Auch die guten Verbindungen, die Netanjahu zur Polizei hat, führen seine | |
Gegner*innen als Kritikpunkt an. Dass diese ausgerechnet im Monat | |
Ramadan mit Blendgranaten auf die muslimischen Gläubigen und | |
palästinensischen Protestierenden auf dem Tempelberg geschossen und so die | |
Situation eskaliert hätten, sei kein Zufall. | |
Beweise für beide Behauptungen gibt es keine. | |
Auffällig sei außerdem, dass Netanjahu, der eigentlich nicht als | |
Kriegstreiber gilt, kurze Zeit nach Beginn des Krieges davor gewarnt habe, | |
dass diese Operation länger andauern könnte. | |
## Deadline für Lapid | |
Auch Oppositionsführer Lapid, der um seine Einheitsregierung gebracht | |
worden ist, suggerierte, dass politische Kalküle die Situation beeinflusst | |
hätten: „Wenn wir eine Regierung hätten, hätte sich niemand gefragt, warum | |
das Feuer immer dann ausbricht, wenn es für den Premierminister am | |
bequemsten ist“, postete er am letzten Wochenende auf Facebook. | |
Lapid kündigte zwar nach Bennetts Ausscheiden an, weiterhin mit aller Kraft | |
an einer Einheitsregierung zu bauen, doch seine Möglichkeiten dazu sind | |
denkbar gering. Am 2. Juni läuft sein Mandat zur Regierungsbildung aus. | |
Dann liegt es an Staatspräsident Rivlin: Er kann den Auftrag an die Knesset | |
geben. Jede*r Abgeordnete könnte dann versuchen, die erforderlichen 61 | |
Sitze hinter sich zu versammeln. Auch Netanjahu hätte damit eine erneute | |
Chance. | |
Gerüchteweise hat Gideon Sa'ar, der angetreten war, um Netanjahu abzulösen, | |
angekündigt, doch zu einer gemeinsamen Regierung bereit zu sein, sofern er | |
im Rotationsverfahren als erster Ministerpräsident würde. Sa'ar hat diese | |
Berichte dementiert. Bennett wäre wohl mit im Boot, er hatte bereits zuvor | |
seine Bereitschaft dazu erklärt, eine Regierung mit Netanjahu zu bilden. | |
Rivlin kann sich allerdings auch entscheiden, Neuwahlen anzuordnen. Es | |
wären die fünften innerhalb von zweieinhalb Jahren. Umfragen, die vor dem | |
Krieg durchgeführt wurden, sagten für den Fall von Neuwahlen eine erneute | |
Pattsituation voraus. | |
22 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Judith Poppe | |
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