| # taz.de -- Nach dem Gazakrieg: Eine tödliche, tragische Farce | |
| > Der Gazakrieg wirkte wie eine sinnlose Wiederholung des gleichen Musters. | |
| > Doch die Machtverhältnisse in Nahost verschieben sich. | |
| Bild: Schutt wegräumen in Gaza. Und dann? | |
| Sieg!, ruft die Hamas. Zum ersten Mal scheint sie Führerin aller | |
| Palästinenser*innen zu sein und nicht nur der Bewohner*innen von | |
| Gaza. Sieg!, ruft auch Israel. Führende Köpfe der Islamisten wurden | |
| getötet, Tunnel sowie ein Teil der militärischen Infrastruktur der Hamas | |
| zerstört. | |
| Und auch Benjamin Netanjahu ruft Sieg! Er hat sein Image als starker Mann | |
| wieder hergestellt, der fest in der Rechten verankert ist. Das könnte es | |
| Netanjahu vielleicht ermöglichen, eine Regierung zu bilden und im Falle | |
| einer Verurteilung in seinem Korruptionsprozess einer Freiheitsstrafe zu | |
| entgehen.“ | |
| [1][Das alles ist eine tragische und tödliche Farce,] ein Nullsummenspiel, | |
| dessen Preis jene zahlten, die umsonst gestorben sind. Und die | |
| unglückseligen zwei Millionen Palästinenser*innen, die in Gaza eingesperrt | |
| sind, ohne die geringste Hoffnung auf Veränderungen. Und dennoch: Auch wenn | |
| dieser Krieg eine Wiederholung der vorherigen ist – vier Kriege in zwölf | |
| Jahren –, sind doch langsame Verschiebungen in den Tiefen dieser endlosen | |
| Geschichte zu spüren. | |
| Erstens: Netanjahu hatte sein Volk, einen Teil der arabischen Staaten und | |
| die USA überzeugt, dass die Palästinenserfrage eines schönen Todes | |
| gestorben sei – aus Altersgründen. Die Verlegung der US-Botschaft nach | |
| Jerusalem erregte nicht wirklich Aufsehen. | |
| Die Aufnahme offizieller Beziehungen zwischen vier arabischen Staaten und | |
| dem ehemaligen „zionistischen Feind“ sollte eine neue Ära einleiten, in der | |
| Israel und einige sunnitische Staaten unter Ausblendung der | |
| Palästinenser*innen sowie gleicher Widrigkeiten bezüglich des Iran | |
| nebst seiner schiitischen Verbündeten in der Region vereint sein würden. | |
| Der Gazakrieg hat, wie eine Rückkehr des Unterdrückten, diese schöne | |
| Illusion zumindest für eine gewisse Zeit zerplatzen lassen. | |
| Zweitens: Die Palästinenserfrage hat sich der Welt in Erinnerung gebracht. | |
| Sie ist aus dem Grab gestiegen, in dem man glaubte sie beerdigt zu haben. | |
| Seit mehr als 50 Jahren hat Israel alles versucht, um dieses Volk | |
| (Palästinenser*innen aus Israel, Jerusalem, dem Westjordanland, Gaza sowie | |
| dem Exil) zu brechen. Die Hoffnung dabei war, dass die unterschiedlichen | |
| Lebensbedingungen sie langsam, aber sicher einander entfremden würden. | |
| ## Die unerwünschten Palästinenser | |
| Innerhalb weniger Tage wurde diese Annahme jedoch zunichte gemacht. Die | |
| [2][Ausweisung aus dem Viertel Sheikh Jarrah in Ostjerusalem zugunsten von | |
| Siedlern,] der Versuch, Gläubige von der Esplanade der Moscheen zu | |
| verbannen, die Antwort mittels einer wahren Feuersbrunst auf die | |
| militärischen Provokationen der Hamas, die Unterdrückung von | |
| Protestkundgebungen im Westjordanland sowie die demonstrative Solidarität | |
| derer, die man als israelische Palästinenser*innen bezeichnet und | |
| bürgerkriegsähnliche Zustände, die dem folgten – diese fünf Ereignisse | |
| haben alle Teile des palästinensischen Volkes erfasst. Sie haben sie daran | |
| erinnert, wer sie sind – nämlich Unerwünschte, in unterschiedlichen Graden. | |
| Das hat sie als Volk geeint. Zumindest für eine gewisse Zeit. | |
| Drittens: Indem die Hamas ihre Raketen aus Gaza abfeuerte, hat sie die | |
| palästinensische Abbas-Regierung diskreditiert, [3][die gerade die | |
| sehnsüchtig erwartete palästinensische Wahl abgesagt hatte.] Die Hamas hat | |
| keinen einzigen geschützten Ort geschaffen, wo die Bevölkerung ihrer | |
| Enklave Zuflucht suchen könnte. Doch das zählt jetzt nicht. | |
| Dass die selbst gebauten Raketen auf Tel Aviv und Jerusalem niedergingen, | |
| ein Dutzend Menschen töteten, die Bevölkerung in Schutzbunker trieb und zur | |
| zeitweiligen Schließung des Flughafens Ben Gurion führten, fegt die | |
| ohnmächtige Wut und die Erniedrigung hinweg, die die | |
| Palästinenser*innen seit so langer Zeit erleiden. Obwohl sie Gaza im | |
| Würgegriff hält, zieht die Hamas symbolisch Profit aus ihren Waffen. | |
| ## Hamas und Netanjahu, die feindlichen Komplizen | |
| Damit stärkt sie Netanjahu, ihren feindlichen Komplizen. Eine | |
| Friedensperspektive eröffnete das Feuerwerk der Hamas genauso wenig wie der | |
| gemäßigte Kurs der palästinensischen Autonomiebehörde. | |
| Viertens: Allmählich ist das Bild des kleinen, sympathischen, | |
| demokratischen Staates Israel, der von unerbittlichen Feinden umgeben ist, | |
| die ihn zerstören wollen, verblasst. In den Augen vieler Westler, vor allem | |
| Amerikaner*innen, aber auch junger Menschen, zeigt sich nach und nach ein | |
| anderes Bild eines militarisierten Staates, dominiert von Siedler*innen, | |
| Ultraorthodoxen und ultranationalistischen Juden. | |
| Sie sind eher bereit, mit der Apartheid zu flirten, als in Erwägung zu | |
| ziehen, jenen Bürgerrechte zu gewähren, deren Land sie annektieren wollen. | |
| Zum ersten Mal erheben sich, wenn auch noch verhalten, Stimmen in der | |
| Demokratischen Partei und im Kongress der USA, die ein Ende der blinden | |
| Unterstützung Israels fordern. Der Slogan „Palestinian Lives Matter“ bringt | |
| diesen Zeitgeist zum Ausdruck. | |
| Die UN und das Internationale Tribunal in den Haag sprechen immer | |
| deutlicher von Kriegsverbrechen. Kurzfristig hat das für Israel nichts | |
| Bedrohliches. Biden hat versprochen, das Waffenarsenal, das im Krieg gegen | |
| die Hamas eingesetzt wurde, zu erneuern. | |
| ## Palestinian Lives Matter | |
| Die arabischen Staaten, kurzzeitig irritiert, wollen den Weg der | |
| Normalisierung weitergehen, der in ihren Augen unausweichlich ist. Sie | |
| reagieren damit auf eine grundlegende Tendenz: Der US-Rückzug in Nahost | |
| zwingt sie dazu, an einer neuen Machtverteilung in der Region zu arbeiten. | |
| Und doch erweist es sich dabei als unmöglich, die Palästinenser*innen | |
| außen vor zu lassen. Alle katastrophalen Konsequenzen für Israel, vor allem | |
| demografisch, die Jitzchak Rabin mit seiner „Zweistaatenpolitik“ hatte | |
| verhindern wollen, stellen sich ein. | |
| Das ist nicht überraschend. [4][Jene, die Rabins Mörder ideologisch | |
| bewaffneten,] sind heute an der Macht. Gesenkten Hauptes fahren sie fort, | |
| die einen zu kolonisieren und den anderen eine rücksichtslose Blockade | |
| aufzuerlegen – ohne die geringste Idee, was zu tun wäre, um das Problem zu | |
| lösen. Welches Problem?, fragen sie. | |
| Aus dem Französischen von [5][Barbara Oertel] | |
| 26 May 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Nach-dem-Gazakrieg/!5769691 | |
| [2] https://www.dw.com/de/proteste-nach-drohenden-zwangsr%C3%A4umungen-in-jerus… | |
| [3] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/palaestina-parlamentswahlen-verscho… | |
| [4] https://www.dw.com/de/25-jahre-rabin-mord-ein-attentat-und-seine-folgen/a-5… | |
| [5] /Barbara-Oertel/!a1/ | |
| ## AUTOREN | |
| Selim Nassib | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Gaza | |
| Palästina | |
| GNS | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Perspektiven für den Nahost-Konflikt: Die Hoffnung der Narren | |
| Im Nahen Osten ist trotz des Waffenstillstands kein echter Frieden in | |
| Sicht. Initiativen, die für das Zusammenleben einstehen, fegen nun die | |
| Scherben zusammen. | |
| Israels Regierung im Nahost-Konflikt: Ringen um Macht | |
| Die Waffenruhe hat vorerst Bestand. Doch Netanjahus-Gegner werfen ihm vor, | |
| bewusst auf Eskalation gesetzt zu haben – um sich selbst zu retten. | |
| Aktivistin über Nahostkonflikt: „Viel Wut hat sich angestaut“ | |
| In Israel kommt es zu Unruhen zwischen jüdischen und muslimischen Israelis. | |
| Rula Daood berichtet aus der Stadt Lod, die nachts abgeriegelt ist. |