# taz.de -- Ausstellung „Family Affairs“: Zwischen leeren Stühlen | |
> Die Ausstellung „Family Affairs“ in den Hamburger Deichtorhallen zeigt | |
> ein diverses Familienverständnis in der zeitgenössischen Fotokunst. | |
Bild: Ausschnitt aus: Nancy Borowick, His and Hers, 2013 | |
Das Bild aus dem Jahr 1975 zeigt Omar Darío Amestoy und Mario Alfredo | |
Amestoy, zwei junge Männer, die ausgelassen einen Hang herabrennen. Der | |
argentinische Fotograf Gustavo Germano hat den Schnappschuss 31 Jahre | |
später nachgestellt, aber 2006 ist nur noch Mario Alfredo übrig, ein | |
älterer Mann, der sich mehr oder weniger elegant den wie gehabt | |
unspektakulären Grashügel hinunterbewegt. | |
Die beiden nebeneinander präsentierten Bilder formulieren so eine bittere | |
Leerstelle: Der fehlende Omar Darío ist ein Desaparecido, ein | |
Oppositioneller, der während der argentinischen Militärdiktatur zwischen | |
1976 und 1983 in den Kerkern der Junta verschwand. Germano zeigt in seiner | |
Serie „Ausencias“ (ab 2006) auseinandergerissene Familien, Familien, die | |
sich durch den fehlenden Teil definieren. | |
Mit Leerstellen arbeiten mehrere Künstler:innen, die in den Hamburger | |
Deichtorhallen unter dem Titel „Familiy Affairs – Familie in der aktuellen | |
Fotografie“ ausgestellt sind. Dario Mitidieri etwa, der in „Lost Family | |
Portraits“ auf der Flucht auseinandergerissene syrische Familien zeigt, | |
wobei er fehlende Angehörige durch einen leeren Stuhl symbolisiert. Oder | |
Lee-Ann Olwage, die ebenfalls leere Stühle ins Bild setzt und damit | |
Familien porträtiert, die in südafrikanischen Bandenkriegen dezimiert | |
wurden. | |
[1][Eine Ausstellung zu Familienbildern] scheint zunächst wenig originell, | |
ja geradezu sehr voraussehbar. In der Amateurfotografie ist die Familie | |
bestimmt das häufigste Motiv und ungewiss ist, ob die professionelle oder | |
künstlerische Fotografie dem etwas entgegenzu setzen hat: Ständig werden | |
Familien geknipst, am Esstisch, im Urlaub und mit dem Weihnachtsbaum. | |
Gleichzeitig ist die Familie als „Keimzelle der Gesellschaft“ auch | |
ideologisch überformt, wertfrei kann man sich dem Komplex kaum nähern – und | |
die von Ingo Taubhorn kuratierte Schau versucht das auch gar nicht. | |
## Die Gefahr der Beliebigkeit | |
Stattdessen bemüht sie sich nicht ohne Charme, ein explizit diverses | |
Familienverständnis in diversen künstlerischen Sprachen abzubilden. Auf die | |
in den Deichtorhallen oft bemühten und erfolgversprechenden Starpositionen | |
verzichtet Taubhorn weitgehend, dafür wird der Begriff der Familie | |
möglichst global untersucht, mit Bildern der Britin Siân Davey, des | |
Afghanen Hassan Fazili oder des Australiers Trent Parke. | |
Wo Familie als weltumspannende Gemeinschaft zwischen Ost und West gezeigt | |
wird, droht freilich die Gefahr der Beliebigkeit. Die umgeht die | |
Ausstellung, indem sie Querverweise herstellt: Auf den ersten Blick wirkt | |
die Schau gerade für Deichtorhallen-Verhältnisse überaus konventionell | |
gehängt, dann aber stellt man eine unausgesprochene Circle-of-Life-Spur | |
fest. | |
Sie reicht von der Geburt (Vincent Ferranés „Milky Way“, 2016–17) übers | |
Altern (Elinor Caruccis „Midlife“, 2012–19) bis zum Tod (Nancy Borowicks | |
„The Family Imprint“, 2013). Eine andere Spur ist eine queere in Eric | |
Gyamfis „Just Like Us“ (2016–19) und in Daniel Schumanns „International | |
Orange“ (2011–13). | |
Schumann arbeitet im hochformalisierten Genre des Familiengruppenporträts, | |
zeigt aber ausschließlich Regenbogenfamilien. Interessant an der ansonsten | |
braven, explizit als Liebeserklärung an die tolerante Grundstimmung in San | |
Francisco angelegten Arbeit ist, dass sich der ästhetische Aufbau von | |
Schumanns Aufnahmen nicht ändert, egal, ob man hetero- oder homosexuelle | |
Eltern sieht. Familiengruppenporträts scheinen ihren eigenen künstlerischen | |
Gesetzen zu folgen, im Grunde sehen sie immer gleich aus. | |
## Alles ist Konstruktion | |
Und mit diesen Gesetzen lässt sich arbeiten: Nora Bibel und Neil DaCosta | |
etwa übertragen die westliche Ästhetik in fremde Kulturkreise, Bibel auf | |
indische Großfamilien, DaCosta gruppierte im äthiopischen Omo-Nationalpark | |
Familienverbände der Hamar als typische Familiengruppe. Beide schaffen so | |
eine Differenz zwischen dem künstlerischen Aufbau und der sozialen | |
Struktur, die das Bild vermeintlich wiedergibt. | |
Jamie Diamond schließlich zeigt mit „Constructed Family Portraits“ | |
(2006–08) die Familie als reine Konstruktion: Die US-Fotografin bittet | |
einander vollkommen Fremde, für Gruppenporträts zu posieren, und schafft | |
einzig durch ihr Spiel mit ästhetischer Konvention eine familiäre Illusion. | |
Die Offenlegung des konstruierten Charakters der Gruppenporträts stellt die | |
Ausstellung dann vor ein Problem: Wenn alles nur Konstruktion ist, was | |
bleibt dann von der Familie? Am Ende landet man bei dem nicht | |
unproblematischen Begriff der Reproduktion. Die entdeckt man in Vincent | |
Ferranés Serie „Milky Way“, hochästhetischen Aufnahmen von Ferranés Frau | |
beim Stillen, die in ihrer sanften Intimität freilich weit in Richtung | |
avancierter Fashionfotografie lappen, inklusive des aus Werbeperspektive | |
geschickt in den Vordergrund geschobenen Logos eines Slips. | |
Oder in Katharina Bosses ironischem „A Portrait of the Artist as a Young | |
Mother“ (2004–09), das neben dem nackten stillenden Künstlerinnenkörper | |
dekorativ eine Buddel Schaumwein platziert. Dass dabei auch kitschnahe | |
Serien in die Ausstellung geraten, wie Grégoire Korganows stark auf | |
genetische Verwandtschaft zielende Arbeit „père et fils“ (2010–16) – s… | |
drum. | |
Denn dann gibt es eben auch: die Verweigerung von Reproduktion. Elinor | |
Caruccis „Midlife“ (2012–19) erkundet den weiblichen Körper in der | |
Menopause, und trotz warmherziger, intimer Bilder wie „Three Generations“ | |
stellt diese Serie durchaus die Frage, was Familie eigentlich ausmacht, | |
wenn die Fähigkeit zum Lebenspenden an ihr Ende gekommen ist. | |
Auch bei Carucci ist weniger das Gezeigte interessant als die Leerstelle, | |
die sich plötzlich auftut im Frauenkörper, der plötzlich nicht mehr | |
vorhanden ist. Eine Leerstelle, die schließlich in einem drastischen, | |
berührenden Bild kulminiert: „My Uterus“ zeigt eine entfernte Gebärmutter, | |
ein blutiges Stück Fleisch auf einer schreiend blauen Matte. Und die Wucht, | |
die einen mit diesem Bild berührt, gibt eine Ahnung davon, dass man mit | |
diesem ideologisch belasteten, mehrfach codierten Komplex Familie noch | |
lange nicht fertig ist. | |
8 Jun 2021 | |
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[1] /Familienbilder-im-Wandel-der-Zeit/!5120255 | |
## AUTOREN | |
Falk Schreiber | |
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