# taz.de -- Hamburger Ausstellung in Coronazeiten: Stille Tage im Museum | |
> Aus der ganzen Welt beschaffte Hamburgs Kunsthalle Exponate für ihre | |
> Ausstellung Giorgio de Chiricos – die beinahe ganz unter die | |
> Pandemieräder kam. | |
Bild: Ersatzhandlung: Kuratorin Annabelle Görgen-Lammers im Interview in der A… | |
Warum de Chirico? Warum ihn ausstellen – und warum gerade jetzt? Es gibt | |
auf solche Fragen Antworten, die sind zu gut, als dass eine:n kein | |
Misstrauen beschleichen würde. Bei Giorgio de Chirico war, zu Jahresanfang, | |
so eine verdächtig passgenaue Antwort eine neue Frage: Wer, bitte, könnte | |
denn besser passen in unsere Zeiten, unser so heruntergefahrenes | |
öffentliches Leben – als dieser Maler der leeren Plätze? | |
Denn das ist ja, wofür der 1888 geborene de Chirico bekannt ist: Auf seine | |
„ikonischen Bilder von sonnendurchfluteten, leeren Plätzen, in denen die | |
Zeit still zu stehen und das scheinbar Alltägliche mit einer neuen | |
Bedeutung aufgeladen scheint“, wies zum Jahresbeginn auch die Hamburger | |
Kunsthalle hin, und dass diese Bilder heute „besonders eindringlich und | |
aktuell“ wirkten. Den Anlass stiftete, dass eine Ausstellung zu eröffnen | |
war, „De Chirico: Magische Wirklichkeit“; erstmals in Hamburg zeigte man | |
diesen wichtigsten Vertreter der Pittura Metafisica, der „metaphysischen | |
Malerei“. | |
Das vermeintlich so zwingende Zusammenpassen von drinnen gezeigtem Sujet | |
und der Seuchenbekämpfung draußen vorm Haus: Es war in diesem Fall | |
natürlich kein Ausweis besonderer kuratorischer Weitsicht. So eine | |
Ausstellung hat einen derart langen Vorlauf, dass, als die Vorbereitungen | |
begonnen haben müssen, von irgendeiner neuartigen Lungenkrankheit noch | |
nichts bekannt gewesen sein kann. Das stimmt umso mehr, als die Hamburger | |
Verantwortlichen spektakuläre Zahlen anführen konnten: Mehr als 80 Exponate | |
wollten sie präsentieren, darunter 35 aus de Chiricos metaphysischer Phase. | |
## Trügerischer Realismus | |
Das ist die frühe, manche sagen: seine einzig gute Schaffensperiode. In | |
nur rund zehn Jahren – zwischen 1909 und 1919 – hinterließ er da, was die | |
späteren Surrealisten beeinflusste und selbst Picasso Staunen gemacht haben | |
soll: Sie sind ja nur vordergründig realistisch, seine scheinbar so typisch | |
italienischen Plätze, von Arkaden gesäumt, Türme oder Schornsteine im | |
Hintergrund – und immer wieder diese hereinfallenden Schatten ihrerseits | |
aber abwesend bleibender Objekte. | |
Dazu kommen einige durch ihn Beeinflusste, ja: beinahe epigonale Stücke von | |
anderen der malerischen Metaphysik zugeordneten Landsleute. Aber diese | |
Ausstellung wollte auch zeigen, wer und was de Chirico seinerseits | |
beeinflusst. Da kommen der Kunsthalle ihre höchst eigenen Bestände zupass: | |
So kann sie zeigen, „inwieweit die Anfänge der metaphysischen Malerei um | |
1908/09 [1][auf der deutschen Spätromantik gründen]“, so Cécile Debray und | |
Annabelle Görgen-Lammers im Katalog. Das sind die Kuratorinnen, Letztere in | |
Hamburg, Erstere an den Pariser Musées d’Orsay et de l’Orangerie, wo eine | |
kleinere Variante der Ausstellung zu sehen war – ohne Rückgriff auf den | |
„herausragenden Sammlungsbestand an deutscher Kunst des 19. Jahrhunderts“, | |
von dem nun der Hamburger Katalog schwärmt. | |
Besucher*innen hätten das aus über 50 Sammlungen in aller Welt | |
zusammengeliehene Konvolut also in sinnstiftendem Zusammenhang sehen | |
können, unter anderem mit Arnold Böcklin und Max Klinger, aber auch unter | |
Hinweis etwa auf Friedrich Nietzsche, dessen Lektüre den jungen Maler | |
mindestens so sehr beeinflusst habe. Hätten – denn von den anfangs drei | |
Monaten, später auf vier Monate bis Pfingstmontag verlängerten Laufzeit ist | |
die Ausstellung nur zum kleinsten Teil auch geöffnet gewesen: im März für | |
eine kurze Zeit und nun noch mal seit vergangenem Dienstag. So hieß, ein | |
wenig kokett Bezug nehmen auf die menschenleeren Plätze durchaus nicht | |
zuletzt: die Not zur Tugend machen. Im Umgang mit dem Ausnahmezustand war | |
das Hamburger Haus dann aber kreativer als andere. | |
Schon die Eröffnung fiel im Januar in eine Phase des pandemiebedingten | |
Toresschlusses, und doch wollte man nach den langen Mühen und all den | |
Verhandlungen mit Leihgeber*innen ein wenig Glamour, wenigstens: | |
Moderiert von Daniel Kaiser, Kulturchef der NDR-Lokalwelle 90,3, montierte | |
man also eine Art Eröffnungsgala rein fürs Netz, mitsamt Einspielern des | |
italienischen Botschafters und eines herrlich hüftsteifen Ersten | |
Bürgermeisters – [2][zu sehen] immer noch auf dem Youtube-Kanal der | |
Kunsthalle. | |
Überhaupt ließen sich die Verantwortlichen allerlei einfallen, um die lange | |
unklare Zeit des Wartens zu überbrücken: De Chiricos Bruder Alberto Savinio | |
war unter anderem Komponist, und seine „Chants de la mi-mort“ von 1914 | |
hätten eigentlich in der Ausstellung gespielt werden sollen – stattdessen | |
wurde dort ohne Publikum ein Konzert aufgezeichnet, sogar in etwas größerer | |
Besetzung; auch diese gute Stunde Begleitprogramm ist noch [3][online zu | |
finden]. | |
## Beistand aus dem Theater | |
Mehrere andere Hamburger Kulturinstitutionen produzierten ihrerseits kleine | |
Filme.Überschrieben mit „Im Gehirn des Kindes“ setzten sich Deutsches | |
Schauspielhaus und Thalia-Theater sowie das Ensemble Resonanz mit der | |
„Magischen Wirklichkeit“ auseinander. Dass ganz normale Leute aufgerufen | |
worden waren, ihre eigenen Bilder, also Fotos von leeren Plätzen | |
einzusenden, die ebenfalls teils bis heute im Online-Angebot der Kunsthalle | |
anzutreffen sind: Partizipation wäre vielleicht ein etwas zu großes Wort, | |
aber Publikumsbindung war das allemal. Und Snapchat-User*innen konnten | |
sogar eigens entwickelte Augmented-Reality-Elemente nutzen – etwa de | |
Chiricos modernde Artischocken. | |
Passen all diese Ersatzhandlungen, dieses anstelle des eigentlichen | |
Museumsbesuchs zu Tuende nicht wieder sehr gut zum Maler, ja: der | |
Menschenleere – aber eben auch all den abwesenden Schattenspendern? | |
Vielleicht die angemessenste Umgehensweise mit de Chirico, aber auch den | |
ganz besonderen Bedingungen steuerte László Földényi bei: [4][Er sprach] – | |
nun halt im sonnendurchfluteten heimischen Atelier – über Schatten, | |
Schatten von Schatten und überhaupt: „Die Vielschichtigkeit der Melancholie | |
in de Chiricos metaphysischen Bildern“. | |
22 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://youtu.be/eowHfjyJ4tQ | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=hQVWAL1DMss | |
[3] https://youtu.be/jOZdb59YHGw | |
[4] https://youtu.be/_9g5S7X8AJs | |
## AUTOREN | |
Alexander Diehl | |
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