# taz.de -- Gewerkschaften im Wandel: Schöner neuer Arbeitskampf? | |
> Auf Facebook, Twitter und Instagram teilen viele Nutzer:innen | |
> Erfahrungen aus ihrem Arbeitsalltag. Sie erreichen damit Tausende von | |
> Menschen. | |
Bild: Sind Gewerkschaften auf Beiträge ihrer Mitglieder in Sozialen Medien ang… | |
Zur Arbeitskämpferin wird Farina Kerekes am 15. März 2020. An diesem Tag in | |
der Frühphase der Pandemie twittert sich Kerekes ihren Frust von der Seele. | |
„Ich arbeite im Einzelhandel und was da gerade wegen Corona abgeht ist eine | |
Schande für unsere Gesellschaft.“ So beginnt sie eine Reihe von | |
[1][Tweets], in denen es um Hamsterkäufe, missachtete Hygienevorschriften | |
und niedrige Löhne der Angestellten geht. | |
Der Tweet geht viral, über 10.000 Nutzer:innen klicken in kurzer Zeit | |
auf das Herzchen-Symbol als Zeichen der Zustimmung. „Dass das so abging, | |
hat mich sehr überrascht“, sagt Kerekes über ein Jahr später am Telefon. | |
Überregionale Medien werden auf sie aufmerksam. [2][NDR], Deutsche Welle | |
und Süddeutsche Zeitung berichten über Kerekes und ihrer Forderungen nach | |
mehr Abstand zwischen Kund:innen und mehr Anstand der Arbeitgeber:innen. | |
Der erfolgreiche Tweet ist für die 30-Jährige eine Art politische | |
Erweckung. Hat sie Soziale Medien vorher nur sehr sporadisch genutzt, | |
folgen nun Tweets in regelmäßigen Abständen. Kerekes kritisiert die | |
Corona-Politik der Bundesregierung, greift die SPD-Vorsitzende Saskia Esken | |
für einen überheblich Tweet an und sie startet eine Online-Petition, in der | |
sie ein Ende der Tarifflucht fordert. Über 20.000 Menschen unterschreiben. | |
Kerekes ist Mitglied bei verdi und der Linkspartei. Doch ihr neues | |
Engagement speist sich nicht aus einer dieser Mitgliedschaften, sondern aus | |
ihren persönlichen Erfahrungen im Arbeitsleben. Es spricht hier nicht eine | |
namenlose Verkäuferin, es spricht aber auch nicht der Privatmensch. Es | |
spricht die Verkäuferin Farina Kerekes. | |
## Mal ironisch witzig, mal pädagogisch | |
Sie ist damit Teil eines Phänomens, das immer stärker hervortritt. | |
Pflegekräfte, Lehrer:innen, Verkäufer:innen und andere Berufsgruppen | |
nutzen Soziale Medien gezielt, um Erfahrungen aus ihrem Arbeitsleben zu | |
teilen. Mal ironisch witzig, mal pädagogisch, mal wütend. Und sie stellen | |
Forderungen. Für mehr Geld, mehr Personal, bessere Arbeitszeiten. Eine | |
Kollektivvertretung brauchen sie dafür erstmal nicht, ihr Hebel ist nicht | |
die Gewerkschaft, sondern Twitter, Instagram und Facebook. | |
Dass der Mensch dabei nicht komplett hinter seinem Beruf verschwindet, aber | |
auch nicht aus ihm heraustritt, ist die eigentliche Stärke dieser | |
Kommunikation. Der Mensch verbürgt Authentizität und Individualität. Die | |
Berufszugehörigkeit bezeugt Expertise und Relevanz. Kerekes formuliert | |
ihren Anspruch so: „Twitter bringt etwas, wenn man ein Thema in die | |
Öffentlichkeit bringen und damit eine breite Masse erreichen möchte. Es | |
hilft, um Druck aufzubauen.“ | |
Die Frage ist, ob sich diese Aufmerksamkeit in höhere Löhne umwandeln | |
lässt. Oder ob Likes auf Twitter am Ende doch nur virtuelles | |
Balkonklatschen ist. | |
Stellt man diese Frage dem Menschen, der bei der zweitgrößten Gewerkschaft | |
Deutschlands für die Kommunikation zuständig ist, hört man vor allem | |
Skepsis. „Ja“, sagt verdi-Pressesprecher Jan Jurczyk, „für eine breite | |
Mobilisierung und beim Problematisieren übergeordneter Themen funktionieren | |
Soziale Medien sehr gut.“ Dann kommt ein großes Aber, das sich erstmal | |
klein anhört. „In der konkreten Tarifarbeit muss man genau abwägen, was man | |
macht“, sagt Jurczyk. | |
Zwei Dinge sind dem verdi-Mann wichtig, wenn es um den Einsatz Sozialer | |
Medien geht. Erstens: Nicht alles, was sich machen lässt, darf auch gemacht | |
werden. „Tarifverhandlungen und -konflikte unterliegen juristischen Regeln, | |
die beachtet werden müssen. Damit haben wir als Gewerkschaft Jahrzehnte | |
lang Erfahrung.“ | |
Das erinnert erstmal sehr an ein Bonmot von Lenin, der bekanntlich gesagt | |
haben soll: „Wenn diese Deutschen einen Bahnsteig stürmen wollen, kaufen | |
die sich erst eine Bahnsteigkarte.“ Aber Jurczyk hat natürlich recht: | |
Undifferenzierte öffentliche Kritik muss sich ein:e Arbeitgeber:in | |
nicht gefallen lassen, auch nicht auf Twitter, und kann sie sanktionieren. | |
Farina Kerekes berichtet etwa, dass ihr Arbeitgeber sie kurz nach ihren | |
Medienauftritten zu einem Gespräch gebeten hatte. Ein nettes Gespräch, wie | |
Kerekes betont, aber durchaus mit der klaren Botschaft, das Unternehmen | |
nicht zu diskreditieren. Bei der Formulierung ihrer Petition hat sie sich | |
vorher mit einem Anwalt beraten. | |
Noch wichtiger als der rechtliche Rahmen ist Jurczyk aber noch etwas | |
anderes. „Soziale Medien zielen auf Individualisierung“, sagt er. | |
Gewerkschaftsarbeit sei dagegen eine kollektive Angelegenheit. „Leute | |
schließen sich Leute zusammen, weil sie feststellen, dass sie alleine | |
nichts bewegen können. Das ist der Urgedanke.“ | |
Auch das klingt erstmal so, als ob hier jemand die reine Lehre verteidigen | |
will, und tatsächlich geht es Jurczyk um den Kern des Arbeitskampfes. „Man | |
kann versuchen Arbeitsbedingungen in der Breite zu kritisieren und zu | |
skandalisieren, auch in den Sozialen Medien“, sagt Jurczyk. „Das | |
Entscheidende ist aber, dass genug Menschen im Betrieb gewerkschaftlich | |
organisiert und bereit sind, im Zweifel ihre Arbeit niederzulegen. So lange | |
das Unternehmen nicht an seinem ökonomisch empfindlichsten Punkt getroffen | |
wird, nützt eine Reichweite in irgendwelchen anderen Sphären wenig.“ | |
## Ist das cool oder nicht? | |
All das würde auch Ferekes unterschreiben. Nur ist sie überzeugt, dass | |
Reichweite und Organisationsgrad zusammenhängen. Seit Jahren verliert verdi | |
Mitglieder. „Ich hatte anfangs versucht mich mit Leuten von verdi | |
abzusprechen, ob das cool ist oder nicht was ich da mache“, sagt sie. „Das | |
wurde überhaupt nicht angenommen.“ Ein Gewerkschaftssekretär mit dem sie | |
über ihre Petition gesprochen habe, habe zu ihr gesagt, sie solle niemand | |
bei verdi sagen, dass er davon gewusst habe, er bekomme sonst Ärger. | |
Dabei möchte Kerekes gar nicht als twitternde Einzelkämpferin gesehen | |
werden. „Ich will, dass die Gewerkschaft stärker wird und würde dabei gern | |
helfen“, sagt sie. Glaubt man Derya Gür-Şeker, die an der Universität | |
Duisburg-Essen unter anderem über Kommunikation von Gewerkschaften in | |
Sozialen Medien forscht, sind die Gewerkschaften sogar auf Mitglieder wie | |
Farina Kerekes angewiesen. „Es fehlt den Gewerkschaften der Blick auf diese | |
neuen Kanäle“, sagt sie. „Sie brauchen diese Gesichter im Netz.“ Wenn die | |
Gewerkschaften ihre Rolle in der Gesellschaft sichern wollen, dürften | |
Soziale Medien nicht nur mitbedient, sondern müssten viel strategischer | |
eingesetzt werden, glaubt Gür-Şeker. | |
Vergangene Woche hatte Farina Kerekes immerhin ein Gespräch mit der | |
verdi-Führung. „Das war ganz ok“, sagt sie. Man wolle in den gerade | |
begonnenen Tarifverhandlungen für den Einzelhandel schauen, wie man stärker | |
zusammenarbeiten kann. | |
Wie fruchtbar auf Social Media aktive Gewerkschaftsmitglieder sein, zeigt | |
[3][das Beispiel des Lokführers Tim Janotta]. Der 31-jährige berichtet seit | |
vielen Jahren als „Lokführer Tim“ auf Instagram und Twitter aus seinem | |
Berufsalltag. Knapp 9.000 Leute folgen ihm auf Twitter, dreimal so viele | |
wie der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), in der er Mitglied ist. | |
Janotta folgt eher einem pädagogischen Ansatz. „Der Beruf des Lokführers | |
ist sehr klischeebehaftet“, erzählt er nach einer Schicht während eines | |
Zoom-Gesprächs. Er will dabei helfen, den Beruf zu entmystifizieren, seine | |
technische Seite stärker betonen. | |
## Verständnis für Streiks | |
Twitter sei aber auch ideal, um sich untereinander leichter zu vernetzen, | |
sagt Janotta. Dadurch habe er zum Beispiel erfahren, welche Arbeitsmodelle | |
andere Dienststellen nutzen, was daran gut und schlecht ist, und habe das | |
dann im Betriebsrat eingebracht. Auch der EVG gibt er ab und zu Hinweise, | |
wenn ihm ein verunglückter Post auffällt und Sachen, über die sie berichten | |
sollten. | |
Einer seiner schönsten Twitter-Erfahrung habe er während des letzten | |
EVG-Streiks 2018 gemacht. „Da haben mir viele Menschen geschrieben, dass | |
sie die Streiks früher aufgeregt hätten“, sagt er. „Durch mich hätten sie | |
aber verstanden, wie anspruchsvoll der Beruf ist und könnten daher auch | |
unsere Forderungen besser nachvollziehen.“ | |
Und Janotta merkt ähnliches gerade bei sich selbst gerade. Ohne Social | |
Media hätte er nie so einen guten Einblick in die prekären | |
Arbeitsbedingungen in der Pflege bekommen, sagt er. Die Rufe nicht nur nach | |
mehr Anerkennung, sondern nach mehr Geld und mehr Personal könne er nun | |
viel besser verstehen. | |
1 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/brohaska?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp%5Eserp%7Ctwgr%… | |
[2] https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/45_min/Aufstand-der-Corona-Heldinnen… | |
[3] https://www.instagram.com/lokfuehrer_tim/ | |
## AUTOREN | |
Daniel Böldt | |
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