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# taz.de -- Corona in Indien: Der Tod des Pradeep Bhattacharya
> „Warum soll es keinen Aufstand geben?“, fragte der Onkel im
> Facebook-Post. Die vielen Covidtoten stürzen die indische Gesellschaft in
> Verzweiflung.
Bild: Das letzte Foto: Pradeep Bhattacharya, einer von vielen Covidtoten in Ind…
Ein Zahlensturm fegte über uns hinweg. Wie seit vielen Tagen verfolgten wir
die [1][ständig wachsende Zahl von Covidkranken und Todesfällen] und
versuchten dabei nicht die Wahlergebnisse in Westbengalen aus den Augen zu
verlieren, die an diesem Tag veröffentlicht wurden. Nun kamen
Telefonnummern von Sauerstofflieferanten und Krankenhäusern dazu, die alle
paar Minuten bei uns eintrafen und die wir vergeblich anzurufen versuchten.
„Die Nummer, die Sie gewählt haben, ist besetzt …“
Später, in der Nacht, beschäftigten uns nur noch die Zahlen, die uns den
Grad der Sauerstoffsättigung im Blut meines Onkels übermittelten, der im
LNJP-Krankenhaus von Delhi gegen eine von Covid verursachte
Lungenentzündung kämpfte: 85, 60, 50, 45, 70. Dieser letzte Ausreißer nach
oben machte uns Hoffnung. Aber ich vermute, dass mein Onkel, der immer
Rationalist gewesen war, selbst jetzt gewusst hätte, dass ein Sprung von 45
auf 70 keine Verbesserung war. Der nächste Bericht vermeldete 40.
Es folgte die Nachrichtenstille der Nacht. Wir mussten bis zum nächsten Tag
warten. Seine Tochter erreichte das Hospital am Morgen und wurde darüber
informiert, dass der vereinbarte Videoanruf mit ihrem Vater demnächst
stattfinden könne. Mittags erfuhr ich, dass mein Onkel nachts gestorben
war. Sein Leichnam war bereits auf dem Weg ins Krematorium. Niemand konnte
der Bestattung beiwohnen.
## Tod ohne Abschluß
Einen solchen Tod zu betrauern ist unmöglich, weil sich diese plötzliche
Auslöschung für die Hinterbliebenen anders als der Tod anfühlt, und während
die Trauer eines Tages enden wird, wird der Kummer, der einer solchen
sinnlosen Verkürzung des Lebens folgt, endlos sein. Er kann keinen
Abschluss finden, weil des Toten nicht würdig gedacht werden konnte.
Die in den vergangenen Wochen an Covid Verstorbenen haben unsere
Gesellschaft und besonders meine Stadt Delhi in so tiefe Verzweiflung
gestürzt, dass wir diese Krise nie vollständig überwinden werden können.
Selbst wenn die Politiker, die sie zu verantworten haben, und dazu zählt
auch Premierminister Narendra Modi, zur Rechenschaft gezogen werden.
Selbst wenn dem Betrug und der Misswirtschaft, die unser Gesundheitswesen
und unsere Bürokratie wie eine schwere Krankheit befallen haben, Einhalt
geboten wird. Selbst wenn niemand mehr nach Luft ringend auf einer Station
stirbt. Nichts kann den bereits erlittenen Schaden aufwiegen.
## Knapper Sauerstoffvorrat
Ich weiß nicht, ob mein Onkel hätte gerettet werden können. Aber ich weiß,
dass nicht genug getan wurde, um ihn zu retten. Als seine
Sauerstoffsättigung absank, wurde ihm Sauerstoff aus einer Flasche
zugeführt, während man ihn zum Guru Teg Bahadur Hospital im Osten von Delhi
fuhr, dessen Tore verbarrikadiert waren. Er wartete im Krankenwagen, dessen
Taxameteruhr weiterlief, knapp fünf Stunden lang auf der Straße, während
sein Sauerstoffvorrat schrumpfte. Schließlich wurde er ins LNJP gebracht.
Es war reiner Zufall, dass er ein Bett mit Sauerstoffversorgung bekam. Doch
wie er seiner Tochter am Telefon berichtete, fehlte es auf der Station an
Personal. Auch die Vorräte an medizinischem Sauerstoff schienen gefährlich
zu schwanken. Eines Morgens fanden wir heraus, dass er drei bis vier
Stunden lang keinen Sauerstoff erhalten hatte. Das war der Moment, an dem
sich sein Zustand verschlechterte.
Ich bin mir sicher, dass nichts an diesem Fall ungewöhnlich ist. Ich habe
die vergangenen Wochen damit verbracht, Berichte über ähnliche Fälle von
Vernachlässigung zu lesen. Ich weiß auch, wie überlastet, hilflos und
verletzlich sich das Krankenhauspersonal fühlt, meine Mutter arbeitet als
Krankenschwester in einer Covid-Klinik. Es geht mir nicht darum, einen
Schuldigen zu finden. Gegenwärtig kann ich nur das tun, was mir zu tun
bleibt: Ich lerne, auf altmodische Art zu trauern, indem ich mich erinnere.
Pradeep Bhattacharya, mein Onkel, den ich Fufa nannte, steht im Mittelpunkt
meiner frühesten Erinnerungen. Sie beruhen auf den Fotos, die Fufa von mir
als Kleinkind machte und selbst in der Dunkelkammer entwickelte.
## Chronist der Kindheit
Wenn ich ihn traf, zog er mich mit Anekdoten auf. „Kyun, bahut phudak rahe
ho miyan? Du hast dich so aufgespielt! Ich kenne dich, seit du so klein
warst“, sagte er und machte mich nach, wie ich als Achtjähriger schrie und
meinen kindlichen Anspruch geltend machte, nach Hause getragen zu werden.
Fufa war der Chronist meiner Kindheit, die einzige Verbindung zu dieser
Phase meines Lebens, die mir nun für immer verschlossen bleiben wird.
Wenn wir miteinander sprachen – meist sprach er, und ich versuchte zu Wort
zu kommen –, sagte ich mir: Das musst du aufschreiben. Und schrieb es auf.
Fufa lehrte Marxismus. Aber nie blickte er auf die Theorie mit akademischer
Distanz. Vielmehr bestand eines seiner vielen Projekte darin, diese Ideen
in seinem eigenen Leben zur Geltung zu bringen.
Für ihn war das Private politisch, und ein Ausdruck dieser
Selbstverwirklichung im Sinne Marxens war sein kompromissloser
Individualismus. „Ein Wesen gilt sich erst als selbständiges, sobald es auf
eignen Füßen steht, und es steht erst auf eignen Füßen, sobald es sein
Dasein sich selbst verdankt“, hat Marx geschrieben.
## Ethos des Verzichts
Fufa verdankte sein Dasein nicht der Gnade eines anderen. Er blieb stets
einem Ethos des Verzichts treu, lehnte die meisten Annehmlichkeiten des
Lebens ab und verweigerte sich jeder Form des Vorwärtskommens. Das ist
vielleicht auch der Grund, warum er sich nie die Mühe machte, ein „Œuvre“
zu schaffen.
Der Großteil seiner Fotografien wurde nie gezeigt. Er kümmerte sich nie
darum, Abschriften seiner Vorträge oder von ihm verfasste Artikel mit
anderen zu teilen. Die Tatsache, dass er einst eine Wissenschaftsseite
produzierte, die er an viele Zeitungen verkaufte, was vermutlich das erste
und einzige Unternehmen dieser Art in Indien war, ist heute vergessen. Sein
Hörspiel zu einer Geschichte von Premchand wurde längst gesendet.
Den Menschen seiner Generation war es in Indien möglich, ein Leben gemäß
der eigenen Vorstellungen zu führen. Sich dafür zu entscheiden, ein
respektables Leben in Entsagung und Armut einem vulgären Konsumismus, die
Exzentrizität der Norm, den individuellen Ausdruck dem Sentiment der Masse
vorzuziehen.
## Politische Relevanz verloren
Fufa verkörperte diesen alternativen Lebensstil. Doch er und seinesgleichen
wurden im „Neuen Indien“ zunehmend an den Rand gedrängt, bis sie eines
Morgens aufwachten und erkannten, dass sie jegliche soziale und politische
Relevanz verloren hatten. Sie verstanden, dass sie den Kräften des Markts
hilflos ausgeliefert waren.
In den vergangenen Jahren sahen wir uns selten. Wir hatten uns
auseinandergelebt, zum Teil, weil ich ebenjenen Kräften nachgegeben, mich
selbst dem Mittelklasse-Komfort und einer Karriere ergeben hatte und damit
meinen eigenen Drang unterdrückte, mich treiben zu lassen und zu träumen.
Ich frage mich manchmal, ob es so kam, weil ich gerade nicht wie er werden
und enden wollte. Oder weil ich wusste, dass ich nicht seinen Mut besaß.
Ein andere Kraftquelle, die ihn anzutreiben schien, war das Sprechen, das
ihm über alles ging. Er redete und stritt gern – immer laut, lebhaft und
aus Überzeugung. Wenn ich an ihn denke, höre ich zuerst seine Stimme und
ihre voluminöse Klarheit. Er sprach fast immer laut. Sein Aussehen –
besonders dieser Bart, mehr Tolstoi als Tagore – gab seiner Stimme noch
mehr Gewicht.
## Das Bewußtsein der Menschen ist geschrumpft
Zuletzt hörte ich vor einigen Monaten von ihm. Er sprach über die Pandemie
und erklärte mir, sie dürfe nicht unser intellektuelles Leben beherrschen:
„Wir müssen auch über anderes nachdenken. Das Bewusstsein vieler Menschen
ist geschrumpft. Sie haben sich in sich selbst zurückgezogen. Gerade in
diesen Zeiten müssen die Leute sich anderen zuwenden und mit ihnen
sprechen.“
Ein Kanal, den Fufa nutzte, um sich an seine Mitmenschen zu wenden und
seinen Zorn herauszulassen, war Facebook. Sein letzter Post vom 22. April
lautet: „Wenn eine erbarmungslose und bösartige Regierung, die zu nichts
taugt, die Grenzen der Schamlosigkeit überschritten hat, warum soll es dann
keinen Aufstand geben?“
Ihm würde das Wahlergebnis in Westbengalen gefallen, dachte ich an seinem
Todestag. Er würde das für die das Land regierende Indische Volkspartei,
BJP, erniedrigende Wahlergebnis in dem Bundesstaat, aus dem er stammte,
ausgekostet haben. Aber da hatte er sich schon eingereiht in die Gruppe der
Opfer dieser Regierung, die hilflos und sprachlos erstickten.
## Das letzte Foto
Auf dem letzten Foto, das sein Sohn von ihm machte, sieht man ihn auf dem
Bordstein sitzen und durch eine Maske atmen. Zu seiner Linken eine
Sauerstoffflasche, zur Rechten eine alte Plastiktüte der Einzelhandelskette
„Reliance Trends“.
Den Symbolismus dieser Tüte einer Marke mit dem Wort „Vertrauen“ im Namen
finde ich besonders verstörend; sie widerspricht allem, für das er stand.
Fufa wirkt desorientiert und resigniert. Sein Gesichtsausdruck ist der
eines Menschen, der die Welt nicht mehr versteht, dem nichts zu sagen übrig
ist.
Übersetzung aus dem Englischen: Ulrich Gutmair
15 May 2021
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## AUTOREN
Vineet Gill
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