# taz.de -- Lebensmittelrettung bei der Produktion: Spaghetti in U-Form | |
> Das Start-up „Rettergut“ rettet genießbare Lebensmittel schon bei der | |
> Produktion. So entsteht „Mixschokolade“ und Limo aus krummen Gurken. | |
Bild: Lebensmittel retten, indem man sie sich aufs Brot schmiert | |
Da sind krumme Gurken, schorfige Birnen, verwachsene Tomaten. [1][Die kennt | |
man inzwischen] und man hat auch davon gehört, dass nicht nach der Norm | |
gewachsenes, als unschön erachtetes Gemüse und Obst nicht in den Handel | |
kommt. | |
Doch das die nur Spitze eines riesigen Berges aus verschwendeten | |
Lebensmitteln. Achtzehn Millionen Tonnen genießbares Essen werden jedes | |
Jahr in Deutschland vernichtet. Zehn [2][Millionen Tonnen davon] wären laut | |
WWF vermeidbar. Eine Riesenmenge. Rettergut, ein Berliner Food-Start-up, | |
will etwas dagegen tun. Sie wollen das Essen retten, es zurück in den | |
Lebensmittelkreislauf bringen, bevor es im Müll landet. | |
Verschwendung finden sie überall, nicht nur auf den Äckern. So war das | |
erste Produkt, das die Lebensmittelretter herausbrachten, dann auch nichts | |
mit Gemüse, sondern Schokolade. Eine, die geschmacklich ein Mix aus zwei | |
Sorten ist. Schokoladenproduzenten haben nämlich nicht für jede Sorte | |
separate Abfüllanlagen. Steht ein Wechsel etwa von Vollmilch- zu | |
Bitterschokolade an, wird die Maschine nicht aufwändig | |
auseinandergeschraubt und gereinigt. Die neue Sorte verdrängt einfach die | |
vorherige, mischt sich anfänglich aber mit ihr. Diese Mischung landete | |
bisher bestenfalls in den Futtertrögen von Schweinen, schlechtestenfalls in | |
der Müllverbrennung. | |
Nun aber wird sie von Rettergut aufgefangen und zu einem Schokoladenhybrid | |
verarbeitet, zu einer schmelzig-bitter-süßen Mischung. „Mixschokolade“ | |
heißt das dann. Wie sonst könnte es heißen? | |
## In jedem Segment im Supermarkt | |
Philip Koloczek ist bei Rettergut für die Pressearbeit zuständig. | |
Schokolade ist nur ein Beispiel, an dem er zeigt, wie bei dem Start-up | |
gedacht wird. Die Ziele des Unternehmens sind in mehr als einer Hinsicht | |
ehrgeizig. „Wir wollen in jedem Segment im Supermarkt mit unseren Produkten | |
vertreten sein“, sagt Koloczek. In jedem Segment heißt: bei Getränken, | |
Teigwaren, Obst- und Gemüsezubereitungen, Süßwaren, Snacks. | |
Seit einem Jahr ist das Start-up auf dem Markt. Gerade hätten sie einen | |
guten Lauf, jeden Monat sei der Abschluss besser als im Monat davor. | |
Nächstes Jahr wollen sie in die Gewinnzone kommen. Immerhin 150 Tonnen | |
Nahrungsmittel, die sonst weggeworfen werden, würden sie derzeit jährlich | |
schon verwerten. Das ist eine Kolonne mit ungefähr 20 voll beladenen LKWs, | |
rechnet Koloczek vor. Auch in einigen Rewe- und Rossmann-Filialen sind ihre | |
Produkte zu haben. | |
„Rettergut“ hat eine Vorgeschichte, die „Dörrwerk“ heißt. Zwei Studen… | |
Jonas Bieber und Zubin Farahani, sahen die Mengen an verschwendetem Obst | |
und dachten sich, damit müssten sie was machen: In ihrer WG-Küche noch | |
entwickeln sie um das Jahr 2014 etwas, das sie „Fruchtpapier“ nennen. | |
Hauchdünne Scheiben getrockneten Obstmuses. Das Fruchtpapier kommt gut an. | |
Dörrwerk wurde immer größer, das Studium blieb liegen. Es machte die beiden | |
Gründer, den Medizin- und den BWL-Studenten, zu Unternehmern, die sie auf | |
Dauer nicht sein wollten. Heute ist der eine Arzt; was der andere jetzt | |
macht, weiß Koloczek nicht genau. | |
Die Zwillinge Philipp und Stefan Prechtner, die bereits zu Dörrwerk | |
gestoßen waren, übernahmen. Und dachten größer. Weil eben überall | |
Nahrungsmittel weggeworfen werden. Es sei wie ein Suchspiel. Je mehr | |
gefunden werde, desto mehr finde sich noch. Diese Geschichte mit den | |
Spaghetti ist ein weiteres Beispiel: Spaghetti werden zum Trocknen über | |
eine Stange gehängt. Sind sie trocken, werden sie abgeschnitten. Zurück | |
bleibt das u-förmige Ende. Was passiert damit? Es könnte zu Suppennudeln | |
verarbeitet werden. Das passiert aber nicht, da die Reste, die über der | |
Stange hängen, nicht sortenrein sind. Rettergutnudeln sind in eine neue | |
Form gepresster, geretteter Nudelabfall. | |
## Ein Bier aus altem Brot und Aprikosen | |
Abfall? Schon das Wort zeigt für Koloczek eine falsche Richtung an. „Wer | |
Lebensmittelrettung hört, denkt meist zuallererst ans Containern“, sagt | |
Philip Koloczek. Sachen landen in den Müllcontainern, weil etwa ihr | |
Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist, und werden von Aktivist:innen | |
verbotenerweise wieder rausgefischt. Mittlerweile geben Händler | |
aussortierte Waren auch an Initiativen, die sie dann verteilen oder | |
anderweitig vermarkten. [3][Start-ups und Initiativen] wie Too Good To Go, | |
Sattmacher und Sirplus vernetzen Handel und Abnehmer:innen. | |
Dies sei Lebensmittelrettung, die am Ende der Nahrungsmittelverarbeitung | |
ansetzt, sagt Koloczek. Rettergut ist am Anfang dieses Prozesses tätig, | |
nämlich bei den Produzenten und den Grundstoffen. | |
Sie müssen dabei, wenn sie etwas erreichen wollen, den Status quo in der | |
Lebensmittelherstellung infrage stellen. „Wenn ich bei einem Betrieb anrufe | |
und frage, ob Lebensmittelverschwendung stattfindet, werden die nicht | |
sagen: Au ja, wir werfen tonnenweise Zeug weg“, sagt Koloczek. „Wir müssen | |
ihnen klarmachen, dass wir sie nicht verunglimpfen, sondern ihnen eine | |
Lösung anbieten wollen.“ | |
Noch wird bei Rettergut auch viel experimentiert. Ein Bier wurde entwickelt | |
– aus altem Brot und geretteten Aprikosen. Es schmeckte wie Radler und ist | |
ausverkauft. Jetzt wird an neuen Sorten getüftelt. Pestos, Aufstriche, | |
Soßen und Suppen gibt es auch schon. Und Limos, die nicht Limonaden heißen | |
dürfen, weil nicht die für Limonaden vorgeschriebene Menge Zucker drin ist. | |
Zwei Sorten sind derzeit zu haben, eine aus krummen Gurken, eine aus | |
Beeren. | |
## Sie beschränken sich aufs Vegetarische | |
Rettergut ist der Vernetzer, der Entwickler, der Logistiker in all diesen | |
Prozessen. Niemand rührt mehr im Kessel Fruchtmus an, obwohl die | |
Trockenanlagen noch in ihren Geschäftsräumen im ehemaligen Gaswerk in | |
Berlin-Mariendorf stehen. Stattdessen arbeitet das Unternehmen mit | |
Herstellern zusammen, die in ihrem Auftrag die Produkte fertigen. | |
Eigentlich achte Rettergut dabei auch darauf, dass Kriterien wie bio und | |
fair bedient werden. Das ist jedoch nicht immer zu garantieren, da in den | |
Unternehmen mitunter auch konventionell Angebautes verwendet wird. Eine | |
harte Grenze ziehen sie jedoch: Sie beschränken sich aufs Vegetarische. | |
Ob auch andere Produzenten schon auf die Idee gekommen seien, nicht nur | |
normgerechte Produkte für ihre Suppen und Soßen zu verwenden? Denn | |
Weggeworfen signalisiert ja: umsonst. Und wenn die Rohstoffe umsonst sind, | |
ist die Gewinnspanne größer. „Kann gut sein“, antwortet Philip Koloczek, | |
aber Rettergut zahlt den Produzenten für das aussortierte Gemüse und Obst | |
faire Preise. „Es geht um soziale Nachhaltigkeit.“ | |
Denn das ambitionierteste von allen Rettergut-Zielen ist nicht weniger als | |
ein Paradigmenwechsel. Nahrungsmittel einfach entsorgen, wenn sie | |
Normgrößen und Normformen nicht entsprechen – das soll ein Relikt der | |
Wegwerfgesellschaft werden. | |
23 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Lebensmittelrettung-auf-dem-Feld/!5676837 | |
[2] https://www.wwf.de/themen-projekte/landwirtschaft/ernaehrung-konsum/lebensm… | |
[3] /Verteilung-von-Lebensmitteln/!5496289 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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